Sicherheit im Teller
Vom schnellen Altern der »nouvelle cuisine«
Die letzten Modetipps aus Paris sind kategorisch: Erdbeeressig ist passé; auch Kürbisessig, Himbeeressig wird nicht mehr aufgetragen. Gault und Millau wurden gesehen, wie sie in einer brasserie, wo es rundum deftig roch, bœuf bourguignon bestellten und am Ende noch die dicke dunkelbraune Sauce mit Weißbrot auftunkten. Die Bandnudeln hatten sie schon vorher gegessen.
Liegt es an der Krise, dass die Leute die farbenfrohen Überraschungsteller der nouvelle cuisine nicht mehr wollen und statt dessen alterprobtes Nahrhaftes verlangen? Was gäbe mehr Sicherheit als eine warme, gut gefüllte Terrine? Die Küchenrevolution dauerte genau zehn Jahre. Paul Bocuse, die Brüder Troisgros, Alain Chapel und Michel Guérard hatten die Lehre vom Frischen, Kurzgekochten, Originellen, hübsch Anzuschauenden 1970 kreiert. Die Abenddämmerung setzte 1980 ein, als einer der Gründerväter privaten Gästen, die auf Verschwiegenheit vergattert wurden, ein konventionelles Menü vorsetzte. Michel Guérard spricht es offen aus, dass man in der Neuen Küche überall »die gleichen Menüs, die gleichen Gerichte, die gleichen Namen findet«, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, in Amerika und – grässlicher Gedanke – sogar in England. Alles schmeckt gleich, alles ist getrickst, alles ist auf Schau gemacht. Pierre Troisgros sieht die nouvelle cuisine »in der Sackgasse«. Die Gegenrevolution ist vom hors d’œuvre bis zum dessert auf dem Vormarsch.
Von den sechs Pariser Restaurants, die als erstrangig gelten, hatte die Neue Küche ohnehin nur eins besessen. Noch ist es voll. »Es war recht angenehm, ich habe dreihundert Euro bezahlt, und ich bin hungrig aufgestanden«, urteilte jüngst ein kundiger Esser, aus dem kein Stammgast wird. Nichts ist so abgestanden wie das Allerneueste von vorgestern.
Die jüngste Sternstunde für Frankreichs Gastronomie schlägt nicht in Küche, Keller oder gar auf dem Teller, sondern beim Finanzamt. Endlich soll für richtige Restaurants die Mehrwertsteuer von 19,6 auf den Vorzugssatz von fünfeinhalb Prozent gesenkt werden, den bisher nur vaterlandslose Hamburger-Bratereien, noch dazu mit angelsächsischen Firmennamen, genießen. Warum Fast Food gegenüber den nationalen Institutionen bistrot und haute cuisine steuerlich bevorzugt wurde, weiß niemand genau. So hatte man sich jene kulturelle Ausnahme nicht vorgestellt, die französische Regierungen zäh verteidigen, wenn es um Film, Fernsehen oder Konsum-Musik geht! Dass kulinarische Raffinesse zu den schönen Künsten gehört, galt zwischen Ärmelkanal und Pyrenäen immer als ausgemacht.
Jetzt werden die Restaurants billiger, frohlocken viele. Keine Rede. Sofort stellen Sprecher des notleidenden Gastgewerbes klar, dass die Wirte seit Jahrzehnten an der Existenzgrenze kochen. Und da sie Rückenwind spüren, wollen die Restaurateure gleich noch eine andere gesetzliche Last abschütteln: das Gratis-Brot. Den Nationalhelden Charles de Gaulle hatte es wie viele geärgert, wenn auf der Rechnung am Ende mit Brot, Service und Steuer fast das Doppelte von dem stand, was die Speisen kosteten. Auf der Höhe seiner Macht verfügte er deshalb Inklusivpreise für sämtliche Menus, eine Reform, die dauerhafter scheint als die politischen Institutionen der Fünften Republik. Vielen Religionen ist das Brot heilig, sein Preis war oft ein Politikum. Mit ihrem Bonmot, das Volk solle doch Kuchen essen, wenn kein Brot da sei, witzelte sich die leichtsinnige Königin Marie-Antoinette um Thron und Kragen. Über die wahren Wertvorstellungen einer Nation verrät der Umgang mit Speisen mehr als Wahlen oder Umfragen: Wenn die Franzosen das Erbe des Generals an dieser Stelle verschleuderten, dann läge Abendrot über dem Gaullismus.
Übrigens gibt es in ganz Paris kein einziges deutsches Restaurant mehr. Dabei existierte vor nicht allzu langer Zeit eine ganze Reihe von ihnen, zum Teil an prominenter Stelle. Alle haben in den letzten Jahren zugesperrt. Da war »Lindts Münchner Keller«, in der Rue Danielle Casanova, nicht weit von der Oper, wo zwar nicht stilgerecht im Souterrain, aber an der Bar im Erdgeschoss und im ersten Stock Bier nebst deftiger Kost nach bayerischer Art serviert wurde. Jetzt ist daraus ein koreanisches Lokal geworden. Ganz in der Nähe, jenseits der Avenue de l´Opéra, schenkte der »Thannhäuser« aus. Er ist spurlos verschwunden.
»Le Bayern« am Châtelet ist längst renaturalisiert und damit wieder gut französisch geworden. Das gleiche Schicksal erlitt das »Pschorr« an der Bastille. An der eleganten Avenue George V gelegen und von einer zahlungskräftigen Kundschaft gut besucht, hatte »Le Vieux Berlin« als Erstes schon in den achtziger Jahren aufgegeben. Dass dort ein Rotwein mit dem auf Französisch anrüchigen Namen »Merdinger« gezapft wurde, kann nicht der einzige Grund gewesen sein. Als Letztes schloss im Herbst 2007 das »Löwenbräu Champs Elysées«, in einer Passage nur einen Steinwurf vom Arc de Triomphe. Es war weiträumig, meistens voll und hatte regelmäßig Trachtenkapellen. Angeblich war die Miete zu hoch geworden.
Das Sterben deutscher bistrots, brasserien und Wirtschaften ist umso weniger erklärlich, als in der Pariser Gastronomie kaum weniger Nationen vertreten sind als in der UNO. Niemand hat die Chinesen, Japaner, Pizza-Italiener oder nordafrikanischen Couscous-Spezialisten gezählt. Libanesen, Afghanen, Tibeter, Südamerikaner, Inder, Portugiesen, Russen und viele andere haben ebenfalls ihre sichere clientèle. Und gleich neben dem Löwenbräu selig floriert weiterhin das »Copenhagen«. Eingegangen ist dagegen – zusammen mit den Deutschen – der einzige Ungar.
Hand in Hand mit dem Rückzug der Deutschen aus der Pariser Küche machten sich die Biere aus Bayern und dem Rest des Bundes rar. Vor einem halben Jahrhundert, als noch der Schlagschatten des Krieges über dem Deutschlandbild der Franzosen lag, hatte praktisch jedes Pariser bistrot neben heimischem Gebräu einen Hahn für »Poolanär« (Paulaner), »Es-patän« (Spaten) oder das unaussprechliche »Pschorr«. Man konnte überall »un demi Munich« bestellen, wobei die Halbe in Frankreich einen Viertelliter bedeutet. Für Zaghafte gab es den »Bock«, keine Sorte, sondern einen Zehntelliter Bier im Rotwein-Ballon.
Vorbei. Brauereien aus Belgien, Irland, England, Holland, Dänemark, Mexiko sind an den Theken im Vormarsch. Die Halbe aus München ist daneben längst nicht mehr selbstverständlich. Eine Zeit lang hatte noch Bitburger Pils einen gewissen Heiterkeitserfolg: Sein Werbespruch »Bitte ein Bit« enthält phonetisch gleich zweimal das gebräuchliche französische Wort für das männliche Organ. Aber auch dieser unfreiwillige Spaß brachte keine haltbare Konsumgewohnheit hervor.