Wenn Toulouse-Lautrec das noch erlebt hätte!

In die Jahre gekommene Verruchtheit

Wenn Toulouse-Lautrec das noch erlebt hätte! Das Touristen-Menü zu hundertfünfzig bis hundertachtzig Euro, eine halbe Flasche Champagner, Steuern und Bedienung eingeschlossen; die Porno-Meile um die Place Pigalle; den Gala-Cancan im zweiten Jahrhundert seines Moulin Rouge, bei dem die Mädchen das Bein zugunsten einer so ehrbaren Sache wie – laut stolzer Ankündigung – die Menschenrechte heben, und nicht mehr bloß, weil sie wie einst »die Ausschweifung zur Profession gemacht« haben. Die kraftstrotzend-ordinäre »la Goulue«, mit bürgerlichem Namen Louise Weber, der biegsame Valentin le Désossé, die zarte Jane Avril, der ganze kurzweilig-kurzlebige, amoralische und anarchische Montmartre der Belle Époque – sie hätten den malenden Zwerg aus Königsgeschlecht noch stärker fasziniert.

Für Verruchtheit, die in die Jahre kommt und zur Institution wird, ist es nicht einfach, mit der eigenen Legende Schritt zu halten. Kein Tummelplatz zwischen Tanger und Tahiti, der nicht sein schummriges Moulin Rouge hätte: demi-monde für die ganze Welt. Als das Original am 6. Oktober 1889 eröffnete, versammelte sich der Adel des Blutes, des Geldes und des Unterrocks. Toulouse-Lautrec trank dreimal, viermal in der Woche Absinth und malte wie besessen. Die junge Colette sorgte für einen Skandal, weil sie mit ihrer Geliebten Missy eine anstößige Nummer aufführte. Ein schüchterner Anfänger namens Jean Gabin deklamierte neben der Mistinguett kleine Sketches. Und noch immer zeigt das Moulin Rouge mit Strass und Straußenfedern, Fantasie und Technik, dass es auf Erden Besseres gibt als Peepshows und Topless Bars. Was können die Tanzmädchen und Artisten dafür, dass der berühmte Wanderer durch Paris, Léon-Paul Fargue, schon 1938 über den heruntergekommenen Montmartre schreiben musste: »Bald werden wir Hundertjahrfeiern veranstalten müssen, um die Pariser an diese verschwindenden Quartiere zu erinnern. Der Boden der Cabaret-Sänger und Karikaturisten verkümmert; er bringt nur noch Zuhälter und Spießer hervor.«

Eigentlich ist das Moulin Rouge viel jünger. Denn 1915 brannte es aus und blieb zehn Jahre geschlossen. Von 1930 bis 1951 wurde es sogar zum Kino degradiert. Toulouse-Lautrec war schon beinahe tot, als man 1900 – noch dazu nach dem Vorbild des Berliner Wintergartens – das Diner zum Spektakel einführte, und die zur Alkoholikerin gewordene Goulue war entlassen, denn sie hatte dem Prince of Wales mit ihrem Stöckelschuh den Zylinder vom Kopf gestoßen. Zur Jahrhundertfeier hatte man, wie es die Public-Relations-Leute nennen, »internationalen Jetset« geladen: Esther Williams und Charles Trenet waren noch dabei, Ella Fitzgerald und Ray Charles, Dorothy Lamour, Jane Russell und Lauren Bacall. Große Namen aus dem Jetset, von denen manche auch schon mit dem Propeller geflogen sind.