Kein Wellenschlag am Pflasterstrand
Schwimmern bleibt nur das Bad in Nostalgie
Wer in den heißesten Hundstagen, wenn das Elysée verwaist ist, kein Ministerrat tagt und sogar die besseren Restaurants zusperren, Lust auf ein kühles Bad hat, für den hat Frankreichs Hauptstadt gute Adressen parat. Es liegt nahe, an Le Touquet-Paris-Plage zu denken, das schon durch seinen amtlichen Namen zu erkennen gibt, dass es der Strand der Pariser ist so wie der Lido von Ostia der Strand der Römer. Bloß: Nach Ostia kann man beinahe zu Fuß gehen, aber nach Touquet sind es zweihunderteinundzwanzig Kilometer. Auf der Diretissima; das heißt auf der Landstraße, auf der Autobahn via Arras wären es gut sechzig Kilometer mehr. Der Zug braucht zwei Stunden. Aber der Strand ist schön.
Natürlich kann man sich auch in Deauville erfrischen, wie es die elegante Welt von der Belle Époque bis in die goldenen fünfziger Jahre tat. Dorthin führt die Autobahn fast bis an die Umkleidekabinen. Die Brandung ist fabelhaft, die Brise weht steif vom perlmuttgrauen Ärmelkanal, der Sandstrand ist so breit, dass selbst bei Flut die Segelwagen rennen können. Pferderennen und ein Spielkasino gibt es außerdem. Und auf der Karte schaut alles ganz nah aus (»gleich hinter Rouen«, weisen Pariser Freunde den Anfänger ein). Aber zweihundertsieben Kilometer sind es doch.
Wie gut, dass es für eilige Wasserratten oder bescheidene Sonnenanbeter l’Isle Adam gibt, die Adamsinsel. Der Name des Ortes ist irreführend. Nudistinnen und Nudisten, Voyeusen und Voyeure kommen dort nicht auf ihre Rechnung: Ruhig fließt die Oise, vorbei an Liegewiesen, Schwimmbecken und Sprungtürmen, ein richtiges Familienbad und ganze sechsunddreißig Kilometer vom Eiffelturm. Wer nicht gerade zur Stoßzeit fährt, ist in einer Stunde schon draußen. Die Heimfahrt, am Wochenende, kann erheblich länger dauern.
Und in Paris selber kann man überhaupt nicht schwimmen? »Sie hätten vor zehn Jahren kommen sollen, oder vor hundert«, sagt der Ortskundige. »Da gab es die Piscine Deligny.« Die Badeanstalt Deligny lag recht günstig, mitten in der Stadt. Von ihrem Oberdeck aus sah man den Louvre, die Nationalversammlung, die Place de la Concorde und manchmal den deutschen Botschafter beim Spaziergang im Garten seiner Residenz, des Palais Beauharnais – zu dessen historischen Schätzen übrigens eine der ältesten Badewannen Frankreichs gehört. Auf den Lattenrosten im Inneren der Piscine lagerten Pariser Naturschönheiten, dicht gedrängt im Wettstreit um den kleinsten Monokini. Am Abend wurde gefestet und geflirtet.
Schon die Bourbonenkönige Karl X. und Louis Philippe hatten hier gebadet. Marcel Proust und Jacques Prevert wurden von Delignys Schwimmanstalt zu Prosa und Lyrik inspiriert. Seit 1785 ankerten ihre Pontons in der Seine, Wasser in Wasser, zuletzt freilich Leitungswasser in Schmutzwasser, scheinbar immerwährend wie das Schiff im Wappen von Paris, dem das Motto verheißt »Möge es schwimmen, nie untergehen«. Genau dieses passierte indessen der Piscine Deligny. Eines Nachts, im Juli 1993, knackte es in den Spanten. Nur vierzig Minuten später ging alles auf Grund. Das Pariser Badeleben war zu Ende.
Dass die Franzosen ungern ins Wasser gehen, lässt sich nicht behaupten. Statistiker haben aufgrund der Zahlen aus den Brennpunkten des Fremdenverkehrs errechnet, dass sich im August – wie schon in der zweiten Julihälfte – fünfundzwanzig Millionen Menschen auf nur vier Prozent des Staatsgebietes aufhalten. Der größte Teil dieser vier Prozent besteht aus den Sandbänken von Le Touquet-Paris-Plage, Deauville sowie den 1.473 anderen offiziell kontrollierten Badestränden zwischen dem flandrischen Dünkirchen und dem baskischen Hendaye, beziehungsweise zwischen Cerbère am östlichen Ende der Pyrenäen und Menton an der italienischen Grenze.
Kaum einer lässt sich davon abhalten, dass das Wasser an mehr als einem Zehntel dieser Strände entsprechend einer uralten und nicht besonders anspruchsvollen Euro-Norm »zeitweise verschmutzt« ist und an zwei weiteren sogar »schlechte Qualität« aufweist. Wenn an einem Sommerwochenende dreißig Millionen Franzosen gleichzeitig ans Meer wollen – oder zu Beginn der Weihnachtsferien sieben Millionen in die engen Hochtäler von Savoyen –, entsteht jedes Mal ein Gedränge, das einen britischen Journalisten zu einem berühmt gewordenen Missverständnis verführte: Während der Staatskrise um Charles de Gaulles Rückkehr an die Macht im Jahr 1958 erlebte der neu ernannte Korrespondent zum ersten Mal, wie die Pariser bei ihrem saisonalen Auszug mit angespannten Mienen in vollgepackten Autos sitzen und unter gewagten Überholmanövern aus der Stadt preschen. Da der Kollege noch nicht gut Französisch verstand, berichtete er in seiner Zeitung, die Pariser Bevölkerung mache sich aus Angst vor einem Bürgerkrieg auf die Flucht.
Um so rätselhafter, dass die Kombination von offenem Himmel und Wasser gerade in der Hauptstadt mit der umliegenden Region Île-de-France, wo zehn bis zwölf Millionen Menschen leben, so rar ist. Der Bois de Boulogne, der Bois de Vincennes, die beiden großen Parks am westlichen und östlichen Rand von Paris, haben Teiche und Seen. Man kann auf ihnen rudern, die Enten füttern, halb legal angeln, sich von einem Fergen zu einer Insel mit Restaurant übersetzen lassen. Aber schwimmen können dort nur Hunde. Im Jardin d’Acclimatation, einem Vergnügungs- und Lernpark innerhalb des Bois de Boulogne, existiert ein Planschbecken speziell für Kinder. Es ist überfüllt und gut vierzig Zentimeter tief. Die Seine-Quais, so weit sie nicht Autoschnellwege sind, werden schon beim ersten Sonnenstrahl im Lenz zum Pflasterstrand – aber allein zwecks Bräunung. Der Fluss selber lädt auch Abgebrühte nicht mehr zum Bade.
Nostalgiker der Piscine Deligny lehnen noch immer am Ufergeländer vor dem Musée d’Orsay und blicken auf die eisernen Reste. Gibt es denn wirklich keinen Ersatz? »Soll ich vielleicht in ein Hallenbad gehen, Monsieur?«, fragt der flotte Mann in den besten Jahren, die Mundwinkel entsagungsvoll herabgezogen. Hallenbäder gibt es zu Dutzenden. Das schönste war, darüber sind sich alle einig, die Piscine Molitor in Auteuil, ein Monument des Art-déco-Stils, das sogar unter Denkmalschutz stand. Hier wurden 1934 die ersten Modefotos im Badeanzug gemacht, hier hat man 1946 den Bikini kreiert. André Cayatte und andere bauten die Piscine Molitor in Filme ein. Im Winter konnte man Schlittschuh laufen. »Konnte«, »stand unter Denkmalschutz«, »war«: Die Piscine Molitor ist seit Jahren wegen Hinfälligkeit vermauert und steht in Gefahr, den Baulöwen vorgeworfen zu werden.
»Schauen Sie sich doch so ein Hallenbad an, Monsieur! Gehen Sie zur Tour Montparnasse!« Tatsächlich, unter dem mehr als zweihundert Meter hohen Wolkenkratzer, der seit den siebziger Jahren die Pariser Stadtsilhouette versaut, wird Wassersport getrieben. Man kann es sogar von außen verfolgen, durch große beschlagene Scheiben, und der Chlorgeruch dringt durch die Entlüftungsschlitze. Genau wie unter den Hallen, dem einstigen Bauch von Paris, der mangels besserer Ideen durch Einkaufs- und Amüsier-Prothesen einer Art ersetzt wurde, wie andere Metropolen sie schamhaft weit draußen an der Peripherie errichten. Auch das Hallenbad in den Hallen, mit seinem künstlichen, gebrochenen Licht einem Aquarium nicht unähnlich, hat dem Naturfreund wenig zu bieten. Rhythmisch tauchen Bademützen aus dem Wasser. Ein bleicher Schwimmer schwingt sich aus dem Bassin, starrt mit rot geränderten Augen durchs Fenster nach draußen und springt wieder in die Fluten.
Eine andere Art des öffentlichen Bades wird durch die allgemeine Duschkultur und gestiegene Hygienestandards bedroht. Seit jeder in die eigene Wanne steigt oder zu Hause braust, werden bains-douches, wie es sie früher in allen Pariser Vierteln gab, immer weniger gebraucht. Im Marais ist ein architektonisch interessantes Schwitzbad zur Boutique einer Konfektionskette geworden. Nur die Mosaikschrift »Hammam« an der Fassade kündet noch von der nassen Vergangenheit. In anderen Bädern wird weiter geschwitzt. Sie sind jetzt Diskotheken.
Dafür sind am Stadtrand einige moderne »Erlebnisbäder« entstanden, mit Rutschbahnen, Wellenschlag, Wasserwirbeln und Tahiti-Kulisse. Volkstümliche Preise gehören nicht zu ihren Vorzügen. Die besseren unter den neuen Hallenbädern können bei schönem Wetter ihr Dach einfahren, oder wenigstens einen Teil davon. Aber für unseren Mann in den besten Jahren ist so etwas nur »technischer Firlefanz«. Erinnerungsfroh gehen seine Mundwinkel nach oben. Er hatte bei Deligny nach eigener Aussage einige der schönsten Stunden seines Lebens – »wenn auch nicht unbedingt im Wasser, Monsieur!«
Den aufs Trockene Gesetzten bietet Paris im Sommer andere Kompensationen. Die Stadt ist leer, es gibt wenig Termine, gut frequentiert sind allein die Café-Terrassen. Sogar das Autofahren wird vorübergehend zum Vergnügen. An den meisten Wohnstraßen ist das Parken während des ganzen Monats August gratis. Anders als auf den Autobahnen kommt man mitten in der Stadt meilenweit, ohne in einen einzigen Stau zu geraten. So weit muss man freilich oft, um eine baguette zu finden. Denn auch die Bäcker sind in Le Touquet oder im Gebirge. Flanierer genießen jetzt die Île Saint-Louis, den Pont Neuf, das Quartier Latin oder ihre sonstige Lieblingsstrecke relativ verkehrsberuhigt. Aber das Gewohnheits-Bistrot, die Qualitäts-Brasserie oder die Vertrauens-Weinstube, wo sie gern einkehren würden, haben zu. Sie sind nicht für ein Publikum gemacht, das zu dieser Jahreszeit exklusiv aus Touristen besteht.