Sieben

Tamani biss die Zähne zusammen, als er das neue – und viel zu große – T-Shirt vorsichtig über die Verbände zog, die ihm Laurel in den letzten zehn Minuten angelegt hatte. David war da und saß mit Laurel auf dem Sofa, wo sie ihm alles noch mal von vorne erzählte. Tamani blendete ihre Stimme aus; er spielte die Ereignisse selbst noch einmal durch und überlegte, wie er sich besser hätte vorbereiten können.

Vor allem gegen Klea.

Seit Jahren hatte er außer gegen Shar keinen Nahkampf mehr verloren und es traf ihn fast mehr als die Verletzungen, die sie ihm zugefügt hatte, dass er gegen eine von Menschen ausgebildete Elfe verloren hatte – dabei taten seine Wunden schon weh genug.

Laurels Eltern hatten angeboten, nicht zur Arbeit zu gehen, doch Tamani hatte darauf bestanden, dass es besser wäre, wenn sie ihre Geschäfte öffneten und so taten, als wäre es ein ganz normaler Tag. Bevor Laurel es vorschlagen konnte, stellte Tamani jeweils sechs Wachposten zur Bewachung ihrer Eltern ab, und ihr dankbarer Blick war Belohnung genug.

»Und jetzt?«

Tamani schaute zum Sofa, als er merkte, dass David mit ihm redete.

»Wir warten darauf, dass Shar sich meldet«, antwortete Tamani mürrisch. »Silve ist mit einer Kompanie zu meiner Wohnung, um ihm gegen die Orks zu helfen. Sie sollten jeden Moment Entwarnung geben.«

»Und …« David zögerte. »Und wenn nicht?«

Darüber brütete Tamani bereits die ganze letzte Stunde. »Keine Ahnung.« Am liebsten hätte er gesagt, dass er dann Laurel an einen Ort bringen würde, wo niemand sie finden konnte – nicht einmal David – und bei ihr bliebe, bis sie in Sicherheit war. Das war der letzte Ausweg eines jeden Fear-gleidhidh. Doch Laurel hatte bereits beschlossen, nicht wegzulaufen, und Tamani sollte sie wahrscheinlich nicht vorwarnen, dass sie es möglicherweise doch tun würden, ob sie es wollte oder nicht.

»Das hört sich nicht gut an«, sagte David.

»Ich weiß«, erwiderte Tamani frustriert. »Auch hier sind wir nicht sicher, es ist nur im Moment besser als alles andere.« Aber wie lange noch? Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah auf David hinunter, der nach wie vor auf dem Sofa saß. »Möchtest du vielleicht gehen?«

David antwortete mit einem bösen Blick.

Tamanis Handy vibrierte in seiner Hand. Auf dem Display blinkte ein blauer Briefkasten und zeigte eine neue SMS an.

Von … Shar?

klea ist mit yuki abgehauen. ich verfolge.

Dann summte das Telefon noch mal: Diesmal zeigte es ein Foto. Tamani hatte erwartet, dass Shar sich melden würde – vielmehr hatte er es gehofft. Doch auch wenn er das Handy nicht mehr losgelassen hatte, seit sie bei Laurel waren, hatte er eigentlich gedacht, dass sich Aaron melden würde. Vielleicht noch Silve. Shar hatte es noch nie geschafft, das Handy richtig zu benutzen. Normalerweise versuchte er es nicht einmal. Tamani fuhr mit dem Finger einmal, zweimal, dreimal über das Display, bis es seine Berührung erkannte und entriegelte. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er das winzige Foto und vergrößerte es dann.

Das nützte auch nichts.

Er sah eine Blockhütte mit einer weißen zeltähnlichen Ausbuchtung auf der Rückseite. Trotz der körnigen Fotoqualität konnte er zwei Gestalten vor der Eingangstür ausmachen.

»Was ist das?«, fragte Laurel.

Er winkte sie näher heran. »Das ist von Shar.«

»Shar?« Die Verblüffung in Laurels Stimme spiegelte Tamanis eigene Überraschung wider. »Er hat dir gesimst?«

Tamani nickte und betrachtete weiter das Foto. »Er hat geschrieben, dass Klea mit Yuki abgehauen ist. Er hat sie dorthin verfolgt.« Tamani strich wieder über das Display, um ganz sicherzugehen, bevor er seinen Verdacht äußerte. »Diese beiden Wächter sind keine Menschen, glaube ich.«

»Orks?« David blieb auf dem Sofa sitzen.

»Elfen«, behauptete Tamani, der den Blick nicht vom Display nahm. »Und sie verbergen es auch gar nicht. Das scheint mir … keine Ahnung … Kleas Hauptquartier oder so was zu sein.«

»Willst du ihn nicht anrufen?«, fragte Laurel, doch Tamani schüttelte heftig den Kopf.

»Auf keinen Fall. Wenn er gerade dort ist, darf ich ihn nicht verraten.«

»Kann dein Handy ihn nicht orten, mit GPS oder so?«

»Schon, aber was soll das nützen? Er hat keine Anweisung mitgeschickt, das heißt, ich soll erst mal nichts unternehmen.« Er steckte die Hände wieder in die Tasche – die eine umklammerte nach wie vor das Handy – und tigerte weiter durch die Küche.

Das Handy vibrierte fast sofort von Neuem: ein weiteres Bild.

»Was soll das denn sein?«, fragte Laurel und quetschte sich neben ihn, um einen besseren Blick auf die großen grünen Stängel zu bekommen.

Der Anblick drehte Tamani den Magen um. Als Sohn einer Gärtnerin hatte er die besondere Pflanzenart in Sekundenbruchteilen erkannt. »Das sind Sprösslinge«, sagte er mit rauer Stimme.

»Spröss … oh!« Laurel holte scharf Luft.

»Meint ihr diese Pflanzen, aus denen Elfen werden?«, fragte David und kam vom Sofa zu ihnen, um einen Blick über Tamanis Schulter zu werfen.

Tamani nickte wie betäubt.

»Aber da sind ja ganz viele!«, rief Laurel. »Und warum sind so viele abgeschnitten?«, fragte sie nach einer Pause.

Doch Tamani schüttelte nur den Kopf, sah das Foto böse an und versuchte herauszufinden, was Shar ihm damit sagen wollte. Alles daran war verkehrt. Er war kein Gärtner, aber der schlechte Zustand der keimenden Pflanzen fiel sofort ins Auge. Sie standen zu eng und die meisten Stiele waren im Verhältnis zur Zwiebel viel zu kurz. Bestenfalls waren sie unterernährt, wahrscheinlich aber bereits grundlegend geschädigt.

Doch die abgeschnittenen Stängel machten ihm am meisten zu schaffen. Man schnitt einen Stängel nur ab, wenn man ihn vor der Zeit ernten wollte. Tamanis Mutter hatte das ein einziges Mal in ihrem Berufsleben getan, um ein sterbendes Elfenbaby zu retten, doch Tamani konnte sich nicht vorstellen, dass Klea solch mütterliche Gefühle hegte. Andererseits fiel ihm auch kein Grund ein, warum sie so viele gleichzeitig abschneiden sollte. Es sei denn, sie wollte sie benutzen. Und nicht, damit sie ihr Gesellschaft leisteten.

Seine schaurigen Überlegungen wurden von einem weiteren Foto unterbrochen, auf dem ein Regal aus Metall mit grünen Glasfläschchen abgebildet war. Da Tamani dazu gar nichts einfiel, neigte er das Display, um es Laurel zu zeigen. »Kennst du das Serum?«

Laurel schüttelte den Kopf. »Die Hälfte aller Seren ist grün. Das könnte alles Mögliche sein.«

»Könnte es …« Das Handy vibrierte erneut und schnitt ihm das Wort ab. Diesmal war es keine SMS, sondern ein Anruf. Tamani holte tief Luft und hielt das Handy ans Ohr. »Shar?« Hörte er sich so verzweifelt an, wie er sich fühlte?

Als Laurel den Kopf hob, las er Sorge, Angst und Hoffnung in ihrem Blick.

»Shar?«, wiederholte er leiser.

»Du musst mir helfen, Tam«, flüsterte Shar. »Ich möchte, dass du …« Seine Stimme brach ab und Tamani hörte lautes Scharren, als würde Shar das Handy auf den Boden legen.

»Keine Bewegung oder ich werfe das Regal um.« Trotz eines leichten Echos war Shar gut zu verstehen. Die Freisprechfunktion! Ein Lachen sprudelte in Tamanis Kehle und er musste sich auf die Lippe beißen, um es zu unterdrücken. Shar hatte sich genügend mit dem Handy beschäftigt, um es entsprechend zu benutzen, wenn es darauf ankam.

Dann sprach Klea, ein wenig dumpfer, aber laut genug, um sie verstehen zu können. »Ernsthaft, Hauptmann, ist das wirklich nötig? Du hast meinen Plan schon zur Genüge durcheinandergebracht, indem du die arme Yuki k.o. geschlagen hast.«

Eine Winterelfe k.o. geschlagen?, dachte Tamani stolz und zugleich ungläubig. Wie hat er das bloß wieder geschafft?

»Ich habe dich brennen sehen«, sagte Shar mit sengender Stimme. »Das Feuer war so heiß, dass sich drei Tage lang niemand in seine Nähe wagte.«

»Ein schönes Feuer gefällt jedermann, nicht wahr?« Sie machte sich über ihn lustig.

»Auf meine Anordnung hin wurde die Asche in der Akademie untersucht und es wurde zweifelsfrei bewiesen, dass eine Herbstelfe in diesem Feuer gestorben ist.«

»Wie schlau von dir! Darum habe ich meine Blüte zurückgelassen. Ich war mir sicher, dass ich euch nur mit einer frischen würde täuschen können.«

Laurel legte eine Hand auf Tamanis Arm. »Ist das …«

Tamani brachte sie sanft zum Schweigen, nahm das Handy vom Ohr und stellte es ebenfalls laut. Außerdem schaltete er für alle Fälle das Mikrofon aus.

»Wo hast du Yuki gefunden?«, fragte Shar laut und deutlich.

»Gefunden? Ach, Hauptmann, dafür braucht man doch nur ein einziges Samenkorn, wenn man sich geschickt anstellt. Mit den Stecklingen kam ich früher nur langsam voran, aber die Menschen haben in den letzten Jahrzehnten erstaunliche Fortschritte beim Klonen gemacht. Ich habe rasch herausgefunden, dass jeder Sprössling unabhängig vom Stammbaum seine eigene Bestimmung hat. Deshalb war es nur eine Frage der Zeit, bis ich eine Winterelfe gezüchtet hatte.«

»Und woher hattest du den Samen?«

»Das sollte ich dir lieber nicht verraten«, sagte Klea. »Aber es ist zu gut, um es für mich zu behalten. Ich habe ihn den Unseligen gestohlen.«

»Du gehörst selbst zu den Unseligen, vergiss das nicht.«

»Wirf mich ja nicht mit diesen übergeschnappten Fanatikern in einen Topf!«, fauchte sie ihn an. »Woher die Unseligen den Samen hatten, habe ich allerdings nie herausgefunden. Es spielt aber auch keine Rolle. Eine von ihnen hat mich sogar gesehen, als ich gerade damit verschwinden wollte. Die war vielleicht wütend!«, zischte Klea leise. »Aber das kennst du ja von ihr, Shar de Misha.«

Tamani schloss die Augen, weil er es seinem Freund nachfühlen konnte, der gerade erfahren hatte, was seine Mutter so lange vor ihm geheim gehalten hatte – ein Geheimnis, das so viele Leben kostete. Shar antwortete erst nach einer langen Pause. »Du hast ganz schön viele Fläschchen gehortet. Erzähl mir doch wenigstens, wofür ich hier mein Leben lasse. Das bist du mir schuldig.«

»Ich schulde dir höchstens eine Kugel in den Kopf.«

»Wenn du mich sowieso umbringst, kann ich auch das Regal umwerfen«, sagte Shar.

Während er Klea ein Stichwort nach dem anderen und schließlich den letzten Köder hinwarf, spürte Tamani Laurels Blick, aber er hatte jetzt keinen Sinn für ihre stillschweigende Verständigung. Er zwang sich, mit voller Konzentration zuzuhören und ruhig zu atmen, solange das Handy auf seiner ausgestreckten Hand lag.

Klea zögerte. »Wie du willst. Glaub ja nicht, ich würde dich verschonen. Ich habe viel Zeit in ihre Herstellung investiert und würde sie ungern verlieren, aber das ist nur die letzte Lieferung. Das Meiste wurde bereits verteilt.«

»Machst du damit die Orks gegen unser Gift immun?«

»In Avalon behandelt ihr die Kranken. Hier haben die Menschen gelernt, Krankheiten im Vorhinein zu verhindern. So ähnlich funktioniert das Serum auch. Wie eine Schutzimpfung. Also ja, es macht sie immun.«

»Immun gegen Elfenmagie, meinst du. Gegen Herbstmagie.«

Tamani hatte das Wort Impfung noch nie gehört, aber er konnte sich nur zu gut denken, was es bedeutete. Klea machte ein ganzes Orkrudel gegen Herbstmagie immun. Die ganzen Probleme, die sie in den letzten Jahren gehabt hatten – der Pfeil, der vor zwei Jahren keine Wirkung auf Barnes gehabt hatte; Laurels Serum, das im Leuchtturm vier Orks ausgeschaltet hatte, nur nicht Barnes; die Zuckerglaskugel mit dem Caesafum-Serum, das erst vor einigen Monaten nach dem Herbstball die Orks wider Erwarten nicht geblendet hatte, und die Spürseren, die nicht mehr funktionierten – es war alles Kleas Werk.

»Dieser hochrangige Ork«, sagte Shar, der ebenso schnell wie Tamani zwei und zwei zusammengezählt hatte.

»Ganz genau. Schön, dass du dich noch an Barnes erinnerst. Er war damals mein Versuchskaninchen. Es klappte nicht so richtig und er dachte, er könnte mich ausschalten. Aber ich finde es immer beruhigend, wenn man noch einen Plan B oder C hat. Du nicht auch?«

Shar lachte gezwungen. »Den könnte ich jetzt gut gebrauchen.«

»Das hast du schön gesagt«, flötete Klea in einem Tonfall, der Tamani beinahe dazu verleitet hätte, das Handy zu zertrümmern. »Aber wir wissen beide, dass du keinen Plan B hast. Entweder versuchst du, Zeit zu schinden, weil du Angst vor dem Tod hast – was schrecklich peinlich wäre –, oder du glaubst, du könntest die Informationen auf wundersame Weise an jemanden in Avalon weitergeben, bevor ich dort einmarschiere. Das wird nicht klappen. Wenn du also so freundlich wärst, vorzutreten, damit ich dich umbringen kann …«

»Wie willst du das denn eigentlich anstellen?«, unterbrach Shar sie. Tamani zwang sich zuzuhören, statt sich den Schreckensbildern hinzugeben, in denen er sich ausmalte, was seinem besten Freund bevorstand. »Willst du Laurel foltern, bis sie dir verrät, wo das Tor liegt? Das wird sie nicht tun. Sie ist stärker, als du glaubst.«

»Wieso zum Teufel denkst du, ich bräuchte Laurel dazu? Ich weiß längst, wo das Tor ist. Yuki hat dieses Kleinod schon vor einer Woche aus Laurels Kopf gezupft.«

Verblüfft hob Laurel den Kopf und riss vor Schreck die Augen auf. Während Tamani seine eigenen Schlüsse zog, dämmerte auch ihr die Wahrheit. Diese Kopfschmerzattacken. Die eine fürchterliche nach dem Angriff der Orks – als man davon ausgehen konnte, dass ihr Verstand verletzlich und auf Avalon gerichtet war. Kleas Anruf bei Yuki, deren glänzende Augen – die ganze Zeit hatte Klea dieses Ziel verfolgt, darum hatte sie ihnen in jener Nacht die Orks auf den Hals gehetzt. Und dann die heftige Attacke an den Schließfächern. Das war am letzten Schultag gewesen, als sie sogar befürchtet hatte, dass Yuki etwas damit zu tun hatte. Doch als sie Tamani davon erzählte, hatte er ihre Sorge abgetan, weil sie ohnehin vorhatten, sie gefangen zu nehmen. Kein Wunder, dass Klea so wütend geworden war, weil Yuki darauf bestanden hatte, zu dem Ball zu gehen – sie hatte ihre Aufgabe erfüllt. Und wegen ihrer törichten Zuneigung zu Tamani war Yuki geblieben.

Tamani schloss die Augen und zwang sich, tief und regelmäßig zu atmen. Er durfte jetzt nicht zusammenbrechen.

»Dann habe ich nur noch eine letzte Bitte.« Tamani riss die Augen wieder auf. Irgendetwas in Shars Stimme gefiel ihm nicht. Sie hatte eine ungewöhnliche Schärfe.

»Sag Ari und Len, dass ich sie liebe«, sagte Shar, der noch klarer als zuvor zu verstehen war, obwohl seine Stimme bebte. »Über alles.«

Die Angst schnürte Tamani die Kehle zu. »Nein«, flehte er kaum vernehmlich.

»Das ist niedlich, aber für Nachrichten dieser Art bin ich nicht zuständig, Shar.«

»Ich weiß … es ist nur wegen der Ironie der Geschichte.«

»Ironie? Das verstehe ich nicht.«

Als im Hintergrund ein unglaubliches Klirren und Scheppern zu hören war, als ob Hunderte von Kristallkelchen auf dem Boden zerbrachen, schlug Laurel eine Hand vor den Mund.

»Fragen wir Tamani«, sagte Shar, und Tamani riss den Kopf herum, als er seinen Namen hörte. »Er ist der Fachmann für Sprachen. Ist es nicht das, was die Menschen Ironie der Geschichte nennen, Tamani? Ich hätte jedenfalls nie gedacht, dass ich die letzten Minuten meines Lebens damit verbringen würde, dieses Handy richtig zu bedienen.«

»Nein!«, schrie Tamani. »Shar!« Er packte das Handy, doch er war machtlos. Das unmissverständliche Knallen einer Schießerei dröhnte ihm in den Ohren und er musste würgen, als er auf die Knie fiel. Vier Schüsse. Fünf. Sieben. Neun. Dann war es still und die Leitung war tot.

»Tam?«, flüsterte Laurel kaum hörbar und streckte die Hände nach ihm aus.

Er konnte sich nicht rühren, nicht atmen, nichts anderes tun, als still zu knien, das Handy in der Hand, mit einem Blick, der das Telefon anflehte, wieder aufzuleuchten und Shars Namen auf das Display zu schreiben, der ihn auslachen und ihm sagen sollte, wie witzig die Aktion gewesen war.

Doch er wusste genau, dass das nicht geschehen würde.

Obwohl seine Hände zitterten, gelang es ihm, das Handy wieder in die Tasche zu stecken und aufzustehen. »Es ist so weit«, sagte er und staunte, wie fest seine Stimme klang. »Komm, wir gehen.«

»Wir gehen?«, fragte Laurel. Sie sah so fertig aus, wie Tamani sich fühlte. »Wohin?«

Richtig, wohin? Auf der Jagd nach den Orks hatte Shar ihm eingeschärft, nie zu vergessen, dass er Laurels Fear-gleidhidh war. Sollte er mit Laurel davonlaufen? Seine Gedanken drehten sich im Kreis, als er versuchte, die richtige Entscheidung zu treffen. Doch der Widerhall der Schüsse – das innere Bild von Shar, der von ihnen zerrissen wurde – verdrängte alles andere.

Sag Ari und Len, dass ich sie liebe.

Ariana und Lenore waren in Avalon. Das waren nicht nur zärtliche letzte Worte, das war ein Befehl.

Tamani hatte eine letzte Anweisung von Shar erhalten.

»Zum Tor«, antwortete er. »Zu Jamison. Shar hätte Klea nicht sagen müssen, dass wir alles mitbekommen, aber er hat es getan. Du hast Klea gehört – mit uns war sie längst fertig. Shar hat sie wieder auf uns angesetzt, um sie abzulenken und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er hat uns Zeit gegeben, Avalon zu warnen, und genau das werden wir tun.« Er setzte im Kopf die Puzzleteilchen zusammen. »Jetzt sofort.« Er holte schon die Autoschlüssel heraus.

Als er zur Haustür sprintete, versperrte David ihm den Weg. »Moment, Moment«, sagte er und hob die Hände. »Warte nur eine Sekunde.«

»Weg da«, sagte Tamani böse.

»Nach Avalon? Jetzt sofort? Das halte ich für keine gute Idee.«

»Dich hat keiner gefragt.« Typisch, dass er sich ausgerechnet jetzt wieder einmischen musste.

Davids Blick wurde sanfter, doch Tamani wollte es nicht wahrhaben. Er wollte kein Mitleid von einem Menschen. »Hör doch zu, Mann«, sagte David. »Du hast gerade mitangehört, wie dein bester Freund zusammengeschossen wurde. Ich kannte ihn kaum und bin trotzdem völlig fertig. Ich sage nur, dass du keine übereilten Entscheidungen treffen sollst – so kurz danach.«

»So kurz wonach? Du meinst, nach dem Mord an Shar?« Die Worte schmeckten wie Salz und er versuchte, David nicht merken zu lassen, wie sehr es ihn zerriss, sie auszusprechen. »Hast du eine Ahnung, wie viele Freunde ich schon habe sterben sehen?«, fragte Tamani und verdrängte die Erinnerungen. »Das ist nicht das erste Mal. Und weißt du, was ich danach getan habe? Jedes Mal?«

David schüttelte erschauernd den Kopf.

»Ich habe nach den Waffen gegriffen – verdammt, manchmal sogar nach den Waffen meiner toten Freunde – und meinen Job gemacht, bis alles erledigt war. So bin ich nun mal. Und jetzt sage ich noch einmal: Geh mir aus dem Weg!«

David wich zögernd zurück, blieb aber bei ihm und stellte einen Fuß in die Tür, als Tamani sie aufriss.

»Dann komme ich mit«, sagte er. »Ich kann euch fahren und ihr könnt währenddessen nachdenken. Überlegt euch, ob das wirklich die richtige Lösung ist. Und wenn ihr eure Meinung ändert …« Er breitete ratlos die Arme aus.

»Ach nein, jetzt spielst du den Helden, oder was? Weil Laurel dabei ist?« Tamani verlor allmählich die Beherrschung. »Gestern Nacht bist du einfach abgehauen. Du bist weggelaufen, statt dich Yuki und dem, was wir mit ihr machen mussten, zu stellen. Ich tue jetzt schon acht Jahre, was getan werden muss, David. Und bisher habe ich weder versagt noch bin ich weggelaufen. Wenn hier einer für Laurels Sicherheit sorgen kann, dann bin ich das … und nicht du!«

Wann hatte er angefangen zu brüllen?

»Was ist hier los?« Sie drehten sich zu der verschlafenen Stimme von Chelsea um, die in einem zerknitterten T-Shirt auf der Treppe stand. Ihre wilden Locken wirkten wie ein dunkler Heiligenschein.

»Chelsea.« Laurel drängte sich zwischen David und Tamani durch und zwang beide, einen Schritt zurückzutreten. »Es geht um Shar. Klea hat ihn umgebracht. Wir müssen nach Avalon, und zwar sofort.«

Tamani konnte sich ein Gefühl von Stolz, weil sie sich auf seine Seite geschlagen hatte, nicht verkneifen.

»Du kannst einfach weiterschlafen oder nach Hause fahren, wie du willst. Ich rufe dich sofort an, wenn wir wieder da sind.«

»Nein.« Chelseas Schlaftrunkenheit war wie weggewischt. »Wenn David mitkommt, will ich auch dabei sein.«

»David kommt aber nicht mit«, widersprach Tamani entschlossen.

»Ich könnte es einfach nicht ertragen, wenn euch etwas passieren würde«, sagte Laurel und Tamani hörte, wie gestresst sie war.

»Bitte«, bettelte Chelsea leise. »Wir sind mit euch durch Dick und Dünn gegangen. Gemeinsam sind wir stark. Das ist seit Monaten unser Motto.«

Tamani wollte nicht noch mehr Leute dabeihaben. Die Zeit war knapp. Er wollte schon den Mund aufmachen und verkünden, wer mitkam und wer nicht, doch Laurels Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab. Sie hatte den Autoschlüssel in der Hand und warf ihm einen sonderbaren Blick zu.

»Tamani, mein Auto steht bei deiner Wohnung. Und deins auch.«

Tamani spürte, wie die Kampfeslust von ihm abglitt wie Regen von Ahornblättern. Ihm blieb nur der bohrende Schmerz der Trauer.

David war so vernünftig, nicht zu lächeln.

»Wie ihr wollt!«, sagte Tamani und verschränkte die Arme. »Aber sie lassen euch nicht durch das Tor und spätestens in ein paar Stunden wimmelt es im Wald von Orks und Elfen. Und dann werde ich nicht bei euch sein können, um euch zu beschützen.« Er warf Chelsea einen flehenden Blick zu. Sie sollte bleiben. Wenn sie hier blieb, war sie in Sicherheit.

Jedenfalls eher, als wenn sie mitkam.

Denn hier konnten die Wachposten sie beschützen. Doch als er ihren entschlossenen Blick sah, wusste er, dass er verloren hatte.

»Das Risiko müssen wir dann eben eingehen«, sagte sie in aller Ruhe.

»Mein Auto steht in der Einfahrt«, sagte David.

Tamani senkte das Kinn. Bis auf Laurel und vielleicht seine Mutter gab es niemanden auf der Welt, den er so sehr liebte wie Shar. Doch auch Laurel mit ihrem mitfühlenden Blick konnte seinen Schmerz nicht lindern. Als sie zu ihm trat, wandte er den Kopf ab; wenn er noch eine Sekunde länger in ihre schönen Augen sah, würde er zusammenbrechen. Stattdessen nickte er mit stoischer Miene und blinzelte mehrmals.

»Gut, dann aber los!«