Fünf
Die Druckwelle schleuderte Tamani zu Boden und zerriss die Sicherheitskette mit einem metallischen Klirren. Als Laurel vor dem prasselnden Schutt zurückwich, sah sie, dass die Rückwand der Wohnung auseinanderbrach. Glasscherben und Gipsplatten wurden über den Boden geschoben, als der dickste Ork, den Laurel je gesehen hatte, durch die Mauer krachte. Es war ein minderer Ork, so wie der, den Barnes damals an die Kette gelegt hatte. Das unförmige bleiche Ungeheuer trampelte durch die Wohnung und versuchte, Aaron abzuschütteln, der sich an den beiden Messern festklammerte, die er ihm in die Schultern gerammt hatte. Das kämpfende Paar taumelte in die Küche und außer Sicht.
Als Laurel sich nach Tamani umschaute, entdeckte sie zu ihrem Entsetzen einen Rosenstrauß, der in hohem Bogen von der Tür zu Yukis Gefängnis flog und dabei rote Blütenblätter wie Blutstropfen verlor. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Laurel begriff, dass die Rosen in einer halben Sekunde den Salzkreis durchbrechen und Yuki befreien sollten. Wenn Shar recht hatte, würde Yuki sie wahrscheinlich alle umbringen.
Ein Messer mit einer Diamantklinge schoss durch die Luft und nagelte den in Papier gewickelten Blumenstrauß nur eine Armeslänge von dem Salzkreis, der sie alle am Leben hielt, an die Wand. Shar holte bereits ein weiteres Messer aus der Scheide an seiner Taille, als Yuki enttäuscht aufschrie. Gleichzeitig blickte Laurel zu der zerstörten Tür und der Person auf der Schwelle.
»Callista!«, rief Shar, als Klea ihr Gesicht ins Licht hielt.
Auch Klea schien ihn wiederzuerkennen, denn sie sah Shar an, obwohl sie mit zwei Pistolen direkt auf Tamani und Laurel zielte.
»Hauptmann. Welch glücklicher Zufall.«
»Ich habe dich vor fünfzig Jahren sterben sehen«, sagte Shar ungläubig. »Du bist also Klea.«
»Shar!« Aaron wankte aus der Küche, bedeckt mit Trümmerteilen und Orkblut. Sein linker Arm hing schlaff herunter. »Da kommen noch mehr. Wir haben versucht, sie aufzuhalten …«
Er erstarrte vor Schreck, als er Yukis mitgenommene Blüte sah. »Oh Göttin der Erde und des Himmels! Ist das …?«
Doch von hinten stürzte sich der Ork auf ihn und sie durchbrachen eine weitere Wand.
»Ich hatte dir befohlen, das verdammte Ding abzuschneiden«, fauchte Klea Yuki an. Die Pistole in ihrer Hand zitterte – mit Sicherheit vor Wut statt vor Angst –, doch Laurel wagte es nicht, sich zu rühren. »Das hast du jetzt davon!«
Klea hob eine Hand zu ihrer Verteidigung, als Shar noch ein Messer durch die Luft schleuderte. Die Klinge schlug ihr eine Pistole aus der Hand, doch sie richtete die andere auf Shar und schoss. Der Knall dröhnte in Laurels Ohren, als Shar getroffen rückwärts taumelte, eine Hand auf die Schulter legte und an der Wand nach unten sank.
Tamani ergriff die Gelegenheit und stürzte sich auf Klea, die jedoch einen Schritt zur Seite trat und sein Handgelenk ergriff. Sie wirbelte ihn durch die Luft und warf ihn auf den Boden.
»Tam!«, rief Shar unter Schmerzen und versuchte aufzustehen.
Doch Tamani war schon wieder auf den Beinen und hielt ein langes silbernes Messer in der Hand. Laurel hatte nicht einmal gesehen, dass er es aus der Scheide gezogen hatte. Klea griff ihn unglaublich schnell an, so anmutig, dass ihre Bewegungen an einen Tanz erinnerten. Sie wich Tamanis Stichversuchen geschickt aus und schlug ihm dann mit dem Pistolengriff ins Gesicht. Ein tiefer Schnitt zog sich über seine Wange. Als sie ihm einen weiteren Schlag auf das Handgelenk versetzte, ließ er das Messer fallen, das wie aus eigenem Willen in Kleas Hand flog.
Tamani wich zwei Schritte zurück und wehrte Kleas Vorstöße ab, doch da er keine Waffe mehr hatte, mit der er ihre Angriffe parieren konnte, bestand sein Hemd bald nur noch aus Fetzen, die mit dem Pflanzensaft aus vielen oberflächlichen Wunden auf Brust und Armen getränkt waren.
Laurel, die sich die Pistole schnappen wollte, die Klea hatte fallen lassen, bemerkte aus dem Augenwinkel flatternde rote Flügel. Es ging ihr bis ins Mark, als eins der Blütenblätter aus dem angenagelten Rosenstrauß wie eine Feder kreiselnd durch den Luftzug schwebte. Gleich würde das unschuldige Pflanzenteilchen den Kreis unterbrechen und mit Hilfe von Yukis außergewöhnlichen Kräften zu einer tödlichen Waffe werden.
Und Laurel war zu weit weg – nie im Leben würde sie es rechtzeitig erreichen.
»Shar!«, rief sie, doch er hatte sich zwischen Klea und Tamani geworfen und schwenkte den Stuhl wie einen improvisierten Schild.
»Hau mit ihr ab!«, schrie Shar, als Klea ihm mit einem Fußtritt den Stuhl aus den Händen kickte. »Sofort!«
Die Welt verschwamm vor Laurels Augen, als Tamani sie umschlang, sie zur zerstörten Mauer zerrte und hinausstieß. Sie wollte schreien, doch da landete sie schon hart auf dem Boden und bekam keine Luft mehr. Gemeinsam rollten sie über den Erdboden, bis es nicht mehr weiter ging und Laurel drei Meter über sich die Wand mit dem Loch entdeckte, das Aarons Ork hinein geschlagen hatte.
»Komm weiter«, sagte Tamani und zog sie schon wieder hoch, obwohl sich noch alles drehte. Sie folgte ihm blindlings, die rechte Hand in der seinen, während er sich durch Schutt und Mauerreste schlängelte.
Als es plötzlich wieder laut wurde, Holz splitterte und ein starker Luftzug zu spüren war, blieben sie kurz stehen. »Der Kreis ist unterbrochen«, stöhnte Tamani. Der Lärm hielt an, als sie um das Gebäude gingen. Auf der anderen Seite drückte Tamani Laurel an die Hauswand. »Überall Orks«, flüsterte er so nah an ihrem Ohr, dass seine Lippen ihre Haut streiften. »Wir schaffen es nicht zu meinem Auto, wir müssen rennen. In Ordnung?«
Laurel nickte. Sie hörte die knurrenden Orks sogar über dem ohrenbetäubenden Lärm zerberstenden Holzes. Tamani nahm sie fest an der Hand und zog sie mit sich. Laurel wollte sich umsehen, doch Tamani hielt sie davon ab, indem er einen Finger an ihr Kinn legte und ihr Gesicht wieder nach vorne drehte. »Lass es«, sagte er leise, lief mit ihr über das offene Gelände und blieb erst wieder stehen, als sie die relative Sicherheit des Waldrandes erreicht hatten.
»Meinst du, Shar schafft es?«, fragte Laurel mit bebender Stimme, als sie durch den Wald liefen. Tamani stolperte unbeholfen weiter, hielt aber ihre Hand ganz fest, während er die andere an seine Seite drückte.
»Mit Klea wird er schon fertig«, sagte Tamani. »Das Wichtigste ist jetzt, dass wir dich in Sicherheit bringen.«
»Warum hat er sie Callista genannt?«, keuchte Laurel. Nichts von dem, was in den vergangenen Minuten geschehen war, ergab für sie einen Sinn.
»Er hat sie früher unter diesem Namen gekannt«, antwortete Tamani. »Callista ist eine wahre Legende bei den Wachposten. Sie ist an der Akademie als Mixerin ausgebildet worden und wurde bereits ins Exil geschickt, bevor du auch nur gesprossen bist. Angeblich wurde sie verbrannt. Shar hat zugesehen. Das war damals in Japan.«
»Aber sie hat ihren Tod nur vorgetäuscht?«
»Sieht so aus. Und das muss sie gut gemacht haben – du weißt ja, wie gründlich Shar ist.«
»Warum wurde sie verbannt?«, japste Laurel.
Tamani franste sich mühsam durch den Wald und seine Stimme zitterte so sehr, dass Laurel ihn kaum verstehen konnte. »Shar hat mir erzählt, dass sie mit unnatürlicher Magie experimentiert hat, mit Elfengift … also im Grunde mit botanischen Waffen.«
Hatte Katya ihr nicht im vorletzten Sommer von einer Elfe erzählt, die es zu weit getrieben hatte? Das musste sie sein. Laurel wurde schlecht bei der Vorstellung einer Mixerin, die an der Akademie so böse Gifte gemischt hatte, dass man sie dafür verbannt hatte. Auch ohne Magie hatte sie schon genug Angst vor Klea.
Schweigend liefen sie weiter, bis sie endlich an den schmalen Pfad gelangten, den Tamani in den vergangenen Monaten hundertfach gelaufen war.
»Und du glaubst trotzdem, dass er gegen sie ankommt?«, fragte Laurel.
Tamani zögerte. »Shar ist ein fantastischer Locker. Wie der Rattenfänger, von dem ich dir neulich erzählt habe. Er kann Menschen aus großer Entfernung kontrollieren und seine Fähigkeit zur Manipulation ist höher entwickelt als bei den meisten Lockern. Jedenfalls ist er viel besser als ich«, erwiderte er. »Er … er kann diese Fähigkeit gegen sie einsetzen. Das hilft bestimmt.«
»Du meinst, er wird sie … unter seine Kontrolle bringen?« Laurel konnte ihm nicht ganz folgen.
»Lass es mich so sagen: Ein Kampf gegen Shar in einem Haus voller Menschen ist eine sehr schlechte Idee.«
Opfer. Der Groschen war gefallen. Menschliche Hindernisse in Kleas Weg oder Soldaten, die sie gegen ihren Willen angreifen. Sie musste schlucken und wollte nicht länger darüber nachdenken. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, nicht hinzufallen, weil Tamani so schnell lief, dass sie kaum mithalten konnte.
Kurz darauf kamen ihr die Bäume bekannt vor, denn sie näherten sich der Rückseite ihres Hauses. Als er in den Hof lief, pfiff Tamani schrill und trillernd. Auf dieses Zeichen hin sprang Aarons Stellvertreter, ein großer dunkelhäutiger Elf namens Silve aus den Sträuchern.
»Sie sind überall, Tam!«
»Es ist noch schlimmer«, antwortete Tamani und rang nach Luft.
Laurel blieb stehen, stützte die Hände auf die Knie und atmete abgerissen ein und aus, während Tamani Silve die Lage erklärte. Silve protestierte stammelnd, als Tamani ihn über all die Details informierte, die er und Shar geheim gehalten hatten.
»Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen«, schnitt Tamani ihm das Wort ab. »Shar braucht sofort Verstärkung.« Die beiden Wachposten nahmen sich nur wenige kostbare Sekunden Zeit, um die Truppen aufzuteilen. Dann brüllte Silve sein Kommando ins Gebüsch.
Tamani legte schützend eine Hand um Laurels Taille und führte sie zur Hintertür, ohne den Waldrand aus den Augen zu lassen.
In der Küche trafen sie auf Laurels Mutter, die einen leichten Morgenrock trug und sie besorgt ansah. »Laurel? Wo warst du? Und was …?« Sie zeigte wortlos auf Tamanis nasses, zerrissenes Hemd.
»Ist Chelsea hier?«, erkundigte sich Laurel, um den mütterlichen Fragen auszuweichen. Im Augenblick hatte sie keine Zeit dafür.
»Das weiß ich nicht. Ich dachte, ihr liegt in euren Betten.« Als sie Tamani noch mal ansah, der gerade vor Schmerzen das Gesicht verzog, wurde sie blass. »Schon wieder Orks?«, flüsterte sie.
»Ich sehe nach Chelsea«, sagte Laurel und schob Tamani sanft auf einen Barhocker.
Sie lief die Treppe hoch und schob die Tür vorsichtig auf, bis sie Chelseas unverwechselbare Locken auf dem Kopfkissen entdeckte. Dann schloss sie die Tür wieder und seufzte. Vor Erleichterung sank sie auf den Teppichboden und verharrte kurz, bis sie Schritte hörte. Ihr Vater schlurfte verschlafen in den Flur. »Was ist los, Laurel? Ist mit dir alles in Ordnung?«
Die Lawine der Ereignisse, die ihr Leben in den letzten vierundzwanzig Stunden verschüttet hatte, trieb ihr die Tränen in die Augen. »Nein«, antwortete sie, »mir geht’s total schlecht.«