Dreiundzwanzig

Die Fenster des Winterpalastes waren so dunkel wie der Nachthimmel. Als Laurel dort ankam, schloss sie die Augen und betete, dass ihr Plan aufgegangen war.

»Laurel!«, flüsterte Chelsea aus einem Geißblattbusch.

»Wusste ich’s doch, dass du mich verstehst«, sagte Laurel und umarmte ihre Freundin, als sie aus der Deckung kam.

»Was hast du vor? Du willst doch nicht wirklich tun, was Klea verlangt, oder?«

»Nur über meine Leiche«, sagte Laurel grimmig.

»Und wie kann ich dir helfen?«

»Geh bitte zu den Wachposten am Winterpalast und sag ihnen, dass Marion und Yasmine immer noch in höchster Gefahr schweben. Sie dürfen sie auf keinen Fall herauslassen, es sei denn, du würdest sie höchstpersönlich dazu auffordern. Klea darf sie nicht treffen.«

»Aber …«

»Sie können mit ihrer Winterkraft nichts ausrichten, weil Klea am Leben bleiben muss, um mit uns zusammenzuarbeiten. Was wir brauchen, hat sie im Kopf.«

»Kann Jamison denn nicht vielleicht ihre Gedanken lesen?«, fragte Chelsea. »Wenn es ihm wieder gut geht, meine ich«, fügte sie hinzu, als sie Laurels ängstliche Miene sah.

»Kann sein«, antwortete Laurel und verdrängte ihre düsteren Gedanken. »Aber eigentlich glaube ich es nicht. Yuki hat sehr lange gebraucht, um die Lage der Tore aus mir herauszubekommen. Außerdem würde es nicht ausreichen, wenn er nur das Rezept aus ihrem Gehirn saugen würde.« Laurel stockte. Es hatte lange gedauert, bis sie verstanden hatte, was Yeardley über die Prozedur des Mixens gesagt hatte: Der wichtigste Bestandteil in jeder deiner Mixturen bist du.

»Es ist schwer zu erklären, aber so läuft das beim Herstellen von Zaubertränken eben. Ich fürchte, Marion würde sie schon aus Prinzip sofort töten, und das dürfen wir nicht zulassen – für alle Fälle. Wenn du die Nachricht überbracht hast, lauf bitte zur Akademie zurück und berichte Yeardley alles, was Klea über ihre Gifte erzählt hat, vor allem über das rote Gas. Es kann sein, dass wir in die Akademie zurückmüssen, und dann sollten sie wissen, dass sich das Gift von selbst neutralisiert. Sag ihm, dass ich auf der Suche nach einer Lösung bin, und sag ihm … sag ihm, er soll sich bereithalten.«

»Bereit? Wozu? Was hast du vor?«

Laurel seufzte. »Keine Ahnung«, gestand sie. »Aber ich brauche Hilfe, so viel steht fest.«

»Und wo willst du hin?«

Laurel sah in die Ferne auf die Kuppe eines Hügels. »Zum einzigen Ort, von dem ich mir noch Hilfe erhoffe.«

Chelsea nickte und sauste los. Pfeilschnell lief sie an der hinteren Mauer zu dem eingestürzten Torbogen, den sie schon einmal an diesem Tag passiert hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Laurel beobachtete sie kurz und machte sich dann ebenfalls auf den Weg.

Überlebte Tamani noch die nächste Stunde? Konnte sie es in dieser kurzen Zeit schaffen? Laurels Energiepegel war wirklich nicht mehr auf der Höhe, doch sie strengte sich an, schneller zu laufen. Das Atmen tat ihr schon weh, als sie die Mitte des Tals erreichte.

Noch einen Hügel, dann bin ich da. Bei der Vorstellung kamen ihr die Tränen und vor Erschöpfung wäre sie beinahe in die Knie gegangen. Die Nachtluft war kühl, doch ihre Beine brannten bei jedem Schritt.

Als sie die Hügelkuppe bezwungen hatte, gönnte sie sich eine kurze Pause, um Luft zu holen. Dann trat sie unter das ausladende Kronendach des Weltenbaums.

Sie war nicht mehr hier gewesen, seit Tamani sie vor anderthalb Jahren mitgenommen hatte. Im vergangenen Sommer hatte sie überlegt hinzugehen, weil sie damals nicht wusste, wo Tamani war und ob sie ihn je wiedersehen würde. Doch die Erinnerung an jenen Tag war zu stark gewesen und sie hatte es sich nicht zugetraut. Jetzt verbeugte sie sich ehrfürchtig, als die starke Aura des Baumes sie einhüllte.

Es war an der Zeit, ihre Frage zu stellen.

Tamani hatte sie gelehrt, dass der Baum aus Elfen bestand. Sein Vater hatte sich den sogenannten Schweigsamen vor nicht allzu langer Zeit angeschlossen. Alle Elfen hatten das Recht, ihre Weisheit anzufragen, wenn sie nur genügend Geduld bewiesen. Allerdings konnte es Stunden dauern, bis der Baum sich zu einer Antwort bequemte, manchmal sogar Tage – das hing vom Fragesteller ab.

So viel Zeit hatte Laurel nicht.

Sie dachte an den Tag zurück, als Tamani sich auf die Zunge gebissen und sie sofort danach geküsst hatte. Ihre Gefühle hatten sie überwältigt, ihr Verstand war von Ideen überflutet worden. Es war anders gelaufen, als erhofft, und statt etwas über Yukis Kräfte zu erfahren, hatte Laurel begriffen, was hinter Kleas Geheimnis steckte: Man konnte Elfen ebenso wie alle anderen Pflanzen für Zaubertränke gebrauchen. Doch Yeardley hatte sie gelehrt, dass sie mehr konnte, als nur Bestandteile zu ihrem Nutzen zu mixen. Wenn sie an ihren Kern heranreichte, konnte sie ihr gesamtes Potenzial abrufen.

Laurel, die in Gedanken bei Tamani war, bei den schwarzen Linien, die sich aus der Wunde wanden, und seinem Gesichtsausdruck, der ihr sagte, wie sehr er sich bereits mit dem Tod abgefunden hatte, nahm all ihren Mut zusammen, um das Sakrileg zu begehen. Sie ging zum Stamm des Weltenbaums, legte die Hand auf die raue Rinde und spürte das Leben darunter vibrieren, das durch den Baum schwirrte.

»Mir wird es viel mehr Schmerzen bereiten als euch«, murmelte sie kaum hörbar. »Es tut mir leid«, fügte sie noch hinzu. Dann stieß sie mit dem Messer in den Stamm des uralten, knorrigen Baums, bis ein wenig Grün zu sehen war. Doch obwohl der Pflanzensaft aus der verletzten Rinde perlte, war Laurel klar, dass das nicht reichte. Gebt ihr mir was, gebe ich euch was, dachte sie. Sie drückte mit der Messerspitze in ihre offene Hand und biss die Zähne zusammen.

Als der Pflanzensaft floss, presste sie die Wunde an das grüne Fleisch des Baumes.

Auf einmal fühlte sie sich, als stünde sie unter einer Lawine von Stimmen. Sekündlich prallten tausend Hagelkörner geflüsterten Wissens von ihrem Kopf ab, regneten auf ihre Schultern und drohten, sie in den Abgrund zu werfen und lebendig zu begraben. Laurel wankte unter dieser Last, doch sie hielt stand.

Während sie ihr Bewusstsein dem Baum unterordnete, verwandelte die Lawine sich in einen Wasserfall und dann in einen reißenden Strom, den sie in sich aufnahm und sanft durch ihren Kopf fließen ließ. Er blätterte sozusagen in ihrem Leben, in ihren Erinnerungen. Obwohl ihr diese Zudringlichkeit nicht gefiel, atmete sie gleichmäßig und konzentrierte sich auf ihre Fragen.

Wieder stellte sie sich Tamani vor und durchlebte in ihrer Erinnerung die Szene, die zu der Vergiftung geführt hatte. Sie holte Kleas Erklärung und die unmögliche Forderung, die sie an Laurel gerichtet hatte, aus dem Gedächtnis hervor. Gleichzeitig enthüllte sie dem Gedankenfluss Kleas letzte Drohung – dass das Gift ganz Avalon zerstören sollte, also auch den Weltenbaum.

Und wieder verwandelte sich der Fluss des Lebens in einen Sturzbach aus Seelen, doch diesmal stand Laurel in einer Oase der Ruhe, gehalten von der Stille. Ihr Körper wurde von Kopf bis Fuß in Wärme gehüllt.

Als der Baum schließlich zu ihr sprach, fühlte Laurel mehr, als sie sie hörte, eine einzelne Stimme.

Wenn du so denken kannst wie die Jägerin, kannst du auch tun, was sie vollbracht hat.

Was soll das bedeuten?, flehte Laurel, während sie die Antwort für immer ihrer Erinnerung überantwortete. Doch die Wärme floss bereits aus ihrem Kopf, hinab in die Brust und fort durch ihre Arme.

»Nein!«, schrie Laurel. Ihr schriller Schrei zerriss die Stille. »Ich verstehe das nicht! Helft mir bitte! Ich kann niemand anderen fragen!«

Die sonderbare Präsenz strömte aus ihren Händen, denn schon nahm das tosende Leben unter der Rinde wieder seinen Lauf, wenngleich ruhiger als in Laurels Kopf. Ihre Fingerspitzen kribbelten und wurden kalt, doch noch einmal kam ein kurzes Zucken und ein beinahe vertrautes Flüstern machte sich über all dem anderen verständlich.

Rette meinen Sohn.

Dann war es nicht mehr warm. Kein Wispern war mehr zu hören.

»Nein. Nein, nein, nein!« Laurel drückte die Hand fester an den Baum, bis es wehtat, obwohl sie eigentlich schon wusste, dass es zwecklos war. Der Weltenbaum hatte gesprochen.

Sie fiel auf die Knie und schürfte sich die Haut an der rauen Rinde der breiten Baumwurzeln auf. Dann weinte sie hemmungslos. Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt und verloren. Der Weltenbaum – ihre letzte Hoffnung – hatte ihr nicht geholfen. Avalon würde untergehen. Und ob es an Kleas Gift oder ihrer Herrschaft zugrunde ginge, war nicht länger wichtig.

Hätte sich Laurel doch bloß mehr für den Viridefaeco-Trank interessiert! Eine ihrer Klassenkameradinnen hatte jahrelang wie besessen daran gearbeitet; warum hatte sich Laurel nicht an ihren Forschungen beteiligt? Jetzt wusste sie gar nicht, wo sie anfangen sollte, und konnte sich nicht mal daran erinnern, wie die Elfe hieß!

Klea wusste es. Es machte Laurel verrückt, dass dieses Wissen zum Greifen nah und gleichzeitig unerreichbar war. Die nächste Sackgasse. Wie zum Teufel sollte sie so denken wie Klea? Allein die Vorstellung stieß sie ab; Klea war eine Mörderin. Sie manipulierte alle. Sie war bösartig, gerissen, giftig …

Giftig. Das Wort blieb hängen, während Laurel die Tränen über die Wangen liefen.

Man kann nur gute Gegengifte herstellen, wenn man sich zunächst ausführlich mit dem Gift beschäftigt. Das hatte Klea selbst vor weniger als einer Stunde gesagt.

Aber so kam sie auch nicht weiter. Mara, die Giftexpertin der Akademie, hatte nicht weiterforschen dürfen. Und was könnte sie Laurel in der kurzen Zeit, die ihr noch blieb, schon beibringen – selbst wenn sie dazu bereit wäre?

Laurel lehnte sich erschöpft an den Weltenbaum. Sollte sie überhaupt zu Klea zurückkehren? Nur um Tamani beim Sterben zuzusehen? Sie wünschte sich nichts mehr, als ihn im Arm zu halten, auch wenn es zum letzten Mal sein sollte. War es noch von Bedeutung, dass sie sich dann anstecken würde? Was war ihr Leben ohne Tamani noch wert? Sollte sie das Risiko eines letzten Kusses eingehen? Allerdings würde dann sie allein sterben, vergiftet, sodass ihr niemand zu nahe kommen durfte. Andererseits …

Man kann nur gute Gegengifte herstellen, wenn man sich zunächst ausführlich mit dem Gift beschäftigt.

Laurel hatte plötzlich eine Idee. Sie stellte sich vor, wie die junge Klea – Callista – allein und heimlich im Klassenraum arbeitete. Sie musste Testpersonen für ihre Gifte und Gegengifte gehabt haben.

Wen hätte sie dafür benutzen können?

Wenn du so denken kannst wie die Jägerin, kannst du auch tun, was sie vollbracht hat.

Laurel war schon aufgesprungen, bevor sie merkte, was sie tat. Dann lief sie los.

Alle Sterne waren aufgegangen und leuchteten durch das Blätterdach. Laurel konnte sie deutlich sehen, als der Weg über eine Lichtung führte.

Anscheinend war das Feuer in der Akademie erloschen – sie war in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen. Doch im Frühlings- und Sommerviertel brannten noch Lichter. Laurel mochte sich kaum vorstellen, wie die Orks dort gewütet hatten, ehe sie umgefallen waren. Wenn sie keinen Erfolg haben würde, wäre es ohnehin egal.

Laurel stolperte mehrmals in der Dunkelheit, doch schon bald näherte sie sich den sonderbaren handzahmen Wachposten. David reichte ihr die Hand, sonst wäre sie in den tiefen Graben gefallen, den er mit dem Schwert gezogen hatte. Sie blinzelte gegen die Dunkelheit an und verstand nach einigen Sekunden, was er für Avalon geleistet hatte. Laurel warf sich in seine Arme. »Danke«, flüsterte sie, und ehe sie sich von ihm löste: »Jamison?«, weil sie Kleas Aufmerksamkeit nicht auf ihn lenken wollte.

»Lebt«, murmelte David.

Laurel nickte und sprang mutig über den Graben.

Es dauerte ein wenig, bis sie Klea, die reglos im Dunkeln lag, und Tamani in der Mitte des Kreises gefunden hatte. Yukis Kopf lag in seinem Schoß. Er sah Laurel gequält an.

Sie starrte auf die reglose Elfe. »Ist sie …?«

»Ich kann die Königin nirgends entdecken«, unterbrach Klea sie.

Doch Laurel ließ sich nur kurz von ihr ablenken, kehrte ihr den Rücken zu und ging neben Tamani und Yuki in die Hocke. Yuki sah aus, als ob sie schliefe, doch ihre Züge waren wächsern und sie atmete nicht mehr. Es tat Laurel unendlich leid um sie und gleichzeitig stand sie am Rande der Panik. Wenn Yuki bereits tot war, wie viel Zeit blieb Tamani dann noch?

»Zieh das Hemd aus«, forderte sie ihn auf.

Tamani gehorchte.

Bei seinem Anblick musste sie würgen. Aus dem kleinen Kratzer am Schlüsselbein wanden sich schwarze Streifen über Schultern und Hals. Aus den Wunden am Bauch rann grünlicher Pflanzensaft – ein untrügliches Zeichen dafür, dass Kleas Gift auch innerlich wirkte. Lange hielt er nicht mehr durch.

»Du hast versagt, nicht wahr?«, fragte Klea, die immer noch nur wenige Schritte von ihm entfernt im Gras lag und keinen Finger rührte. »Und weil du eine Versagerin bist, wird Avalon untergehen.«

»Falsch!«, fauchte Laurel sie an. »Ich war gar nicht im Palast. Hast du wirklich gedacht, ich würde dir helfen? Jamison hatte vollkommen recht, dich zu den Unseligen zu schicken.« Laurel funkelte Klea wütend an. »Lieber sterbe ich, als in deiner perfekten Welt zu leben!«

Laurel hörte, wie es knirschte, als Klea die Faust ballte. Das Serum tropfte ölig durch ihre Finger auf ihre schwarze Bluse. »Den Wunsch erfülle ich dir gerne. Nur schade, dass du alle anderen mit dir in den Abgrund reißt.«

»Heute nicht«, flüsterte Laurel.

Jetzt oder nie.

Offenbar stand ihr ins Gesicht geschrieben, was sie vorhatte, denn Tamani wich zurück. »Nein!«

Doch sie hatte die Hand bereits auf seine schwarze Haut gelegt, schloss die Augen und spreizte die Finger. Sofort spürte sie das Leben unter seiner Haut; es nahm den Kampf gegen das Gift auf, das sie ebenfalls fühlen konnte. Kleas Zauber war anders als alles, was Laurel kannte. Er war sogar noch komplizierter und absonderlicher als das Pulver, mit dem Klea die Orte verborgen hatte, an denen die Orks untergebracht waren. Laurel hatte dieses Pulver erfolgreich zurückentwickelt, doch sie hatte viel zu lange dafür gebraucht und dabei hatte sie noch Glück gehabt.

Auf der anderen Seite hatte sie einiges daraus gelernt.

Als sie sich wieder von Tamani löste, hatte er Tränen in den Augen. »Warum hast du das getan?«, fragte er und hob mühevoll die Hände, um ihr Gesicht zu umfassen. »Ich soll doch eigentlich dich beschützen.«

»Einen besseren Beschützer kann sich kein Mädchen wünschen«, sagte Laurel tröstend. Sie beugte sich vor und küsste ihn kurz. »Aber jetzt bin ich dran.«

Kleas Gift wirkte bereits in ihren Fingern und unter ihren Lippen, indem es das Chlorophyll zerstörte und ihre Zellwände durchbrach. Auf diese Weise brachte es Laurels Lebensenergie unter Kontrolle und wendete sie gegen sie. Sie musste schnell sein, doch das Gift teilte sich ihr mit und sie hörte bereitwillig zu.

»Oh«, sagte sie, als sie aufstand. »Schöne Grüße von deinem Vater.«

Laurel wartete nicht ab, wie Tamani darauf reagierte, sondern erinnerte sich noch einmal genau mit geschlossenen Augen an die Worte des Weltenbaums. Wenn du so denken kannst wie die Jägerin, kannst du auch tun, was sie vollbracht hat. »Bin gleich wieder da«, sagte sie und sprang über den Graben.

David hielt sie auf. »Wo bist du denn gewesen, Laurel?«

»Am Weltenbaum.« Auf ihrer inneren Uhr tickten die Sekunden.

»Bei dem Baum, der zu dir spricht?«

Laurel nickte.

»Was hat er gesagt?«

»Ich soll Avalon retten!«