Drei
Du sitzt die ganze Zeit einfach nur so da?«, fragte Chelsea Tamani. Ihre Stimme war rau, weil sie ein Gähnen gerade noch unterdrücken konnte.
Es war still und dunkel in der Wohnung. Shar hatte die Gelegenheit genutzt und den Kopf an die Wand gelehnt, um endlich ein wenig zu schlafen. Deswegen blieb es Tamani überlassen, sich leise mit Chelsea zu unterhalten, die auf der ersten Schicht bestanden hatte. »Was soll ich sonst tun? Du kannst gerne ein bisschen schlafen«, antwortete Tamani. »Der Teppichboden ist schön weich. Tut mir leid, dass die Einrichtung …«
»Nicht wirklich vorhanden ist?« Chelsea streckte sich auf dem schlichten Holzstuhl, der normalerweise unbenutzt am Küchentisch stand. »Kein Problem, ich bin eigentlich nicht müde. Mir ist eher langweilig.« Sie machte eine Pause, bevor sie sich zu Tamani vorbeugte. »Sagt sie denn nie was?«
»Doch!«, zischte Yuki, ehe Tamani die Frage beantworten konnte. »Als hättest du mich nicht tausend Mal in der Schule reden hören! Denk nur an den Tag, als wir zusammen zur Schule gegangen sind! Ich weiß, letzte Woche kommt einem ewig her vor, aber ich dachte, so weit könntet ihr Menschen euch gerade noch zurückerinnern.«
Chelsea blieb der Mund offen stehen, doch dann schloss sie ihn und murmelte gereizt: »Oh, tut mir leid!«
»Ich muss dir nicht leidtun«, erwiderte Yuki und rutschte unruhig auf dem Stuhl herum. »Ich hänge hier vielleicht ein paar Tage fest, wenn es hochkommt, aber du kommst dein Leben lang nicht davon los.«
»Was meinst du damit?« Yuki hatte jetzt Chelseas volle Aufmerksamkeit.
»Hör nicht hin«, warnte Tamani sie. »Yuki will dich nur ärgern.«
»Chelsea Harrison«, fuhr Yuki unbeeindruckt fort. »Das ewige dritte Rad am Wagen. Immer kurz vor Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches, aber eben nur kurz davor.«
»Also wirklich«, sagte Tamani und stellte sich zwischen die beiden Mädchen. »Das willst du nicht hören.« Sein Beschützerinstinkt meldete sich. Er hatte in den letzten Monaten eine gewisse Zuneigung zu dem Menschenmädchen gefasst und wollte nicht, dass Yuki es mit ihrer nächsten Bemerkung verletzte.
»Glaubst du wirklich, dass du eine ernsthafte Konkurrenz bist?«
Da Chelsea für ihre Neugier mindestens so berüchtigt war wie für ihre Ehrlichkeit, beugte sie sich vor, sodass sie Yuki wieder sehen konnte.
»Konkurrenz für wen?«
»Für Laurel natürlich. Das sieht doch ein Blinder, dass sie sich für David entscheiden wird«, fügte Yuki hinzu, um auch Tamani eins auszuwischen. »Aber selbst wenn sie es nicht täte, hast du noch lange nicht gewonnen. Stellen wir uns vor, alles läuft, wie du es gerne hättest. Laurel lässt David stehen, und der dreht sich eines Tages um und merkt zum ersten Mal, dass du die ganze Zeit auf ihn wartest.«
Chelsea wurde knallrot, doch sie sah Yuki unverwandt an.
»Auf einmal will er nur noch dich. Er betet dich an und ist – im Gegensatz zu deinem unzuverlässigen Freund – auch bereit, aufs gleiche College zu gehen wie du.«
»Wer hat dir erzählt, dass …?«
»Ihr geht nach Harvard, zieht zusammen, vielleicht heiratet ihr sogar. Aber«, sagte Yuki und beugte sich so weit vor, wie es die Fesseln erlaubten, »er wird Laurel immer im Hinterkopf behalten. Die Abenteuer, die sie zusammen erlebt haben, die gemeinsamen Pläne. Sie ist hübscher als du, magischer, einfach rundum besser. Mach dir nichts vor, du wirst immer nur billiger Ersatz sein. Dein Leben lang wirst du wissen, dass David sich niemals für dich entschieden hätte, wenn er hätte wählen dürfen. Laurel gewinnt auf allen Ebenen.«
Chelsea bekam kaum noch Luft. Als sie aufstand, mied sie Tamanis Blick. »Ich glaube, ich muss was trinken.«
Tamani sah ihr nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte und hörte, wie sie den Wasserhahn aufdrehte. Das Wasser lief … und lief. Sie ließ es viel länger laufen, als nötig war, um ein Glas zu füllen. Nach einer langen Minute stand er auf und warf Yuki, die selbstgefällig grinste, einen bösen Blick zu.
Als Shar Tamanis Schritte hörte, hob er den Kopf, doch Tamani winkte ihm zu – bin gleich wieder da.
Er behielt Yuki im Auge, als er in die Küche ging. Chelsea hatte die Arme auf die Spüle gelegt – ein Glas war nicht in Sicht.
»Geht es wieder?«, fragte er so leise, dass er knapp das Wasserrauschen übertönte.
Chelsea hob ruckartig den Kopf. »Ja, ich …« Ihre Hände fuhren hilflos durch die Luft. »Ich habe kein Glas gefunden.«
Tamani öffnete einen Küchenschrank direkt vor ihrer Nase und reichte ihr wortlos ein Glas. Sie ließ Wasser hineinlaufen und wollte den Hahn wieder zudrehen, doch Tamani hielt sie davon ab. »Lass es laufen. So kann sie uns schlechter hören.«
Chelsea betrachtete das laufende Wasser; wahrscheinlich ging es ihr gegen den Strich, es zu verschwenden. Doch dann nickte sie und zog die Hand zurück. Tamani machte noch einen Schritt auf sie zu, ohne jedoch Yukis Blüte aus den Augen zu verlieren.
»Sie hat Unrecht«, sagte er. »Es hört sich richtig an, aber sie verdreht alles und in Wahrheit ist es ganz anders.«
»Nein, sie hat absolut recht«, widersprach Chelsea mit erstaunlich fester Stimme. »Laurel spielt in einer anderen Liga. Ich hatte nur nicht darüber nachgedacht, wie lange ihre Wirkung auf David anhalten würde. Aber Yuki hat recht, sie wird nicht nachlassen.«
»So darfst du das nicht sehen. Laurel ist ganz anders als du, aber du bist auf deine Weise genauso toll«, sagte Tamani. Er war überrascht, wie ernst er das meinte. Nach kurzem Zögern grinste er. »Du bist witziger als Laurel.«
»Na super«, sagte Chelsea trocken. »Wetten, dass ich Davids Herz mit ein paar Witzen zur rechten Zeit erobern kann?«
»Das meine ich nicht«, sagte Tamani. »Jetzt mal ehrlich, du kannst dich nicht mit einer Elfe vergleichen. Wir sind Pflanzen. Aus irgendeinem Grund findet ihr Menschen unsere perfekte Symmetrie schön. Aber diese Perfektion macht uns nicht zu etwas Besserem und ich glaube auch nicht, dass David Laurel deshalb so liebt. Vielleicht war das der Grund, warum er sich in sie verliebt hat.«
»Soll heißen, dass sie auch im Innern besser ist?«, grummelte Chelsea.
Jetzt schaltet sie extra auf stur. »Nein. Ich will nur, dass du verstehst, warum Yuki eben nicht recht hat. In Avalon haben alle diese Symmetrie, die dir an Laurel und mir so auffällt. Wir haben eine gewisse Bandbreite an Schönheit, könnte man sagen, aber Laurel fällt überhaupt nicht aus dem Rahmen. Sie hat sogar eine Freundin an der Akademie, die ihre Zwillingsschwester sein könnte. Wenn David Katya begegnen würde, oder einer noch schöneren Elfe – glaubst du, er würde aufhören, Laurel zu lieben?«
»Also, ehrlich, du machst alles nur noch schlimmer«, knurrte Chelsea.
»Tut mir leid.« Tamani verzog das Gesicht. »Damit wollte ich nicht sagen, dass er nie aufhören wird …«
Chelsea unterbrach ihn mit einem leisen mitleiderregenden Schnaufen. »Schon gut, ich kann mir denken, worauf du hinaus willst. Aber wenn du irgendwen davon überzeugen willst, dass Laurel nichts Besonderes ist, vergiss es. Ich glaube es nicht, du glaubst es doch selbst nicht. Und abgesehen davon, dass ich nur auf eine Zukunft mit David hoffen darf, wenn du sie ihm wegnimmst, hoffe ich trotzdem, dass du es nie tun wirst.«
»Ach, darum geht es doch gar nicht.« Tamani dachte nach. »Laurel war sehr lange fort, Chelsea. Und obwohl ich sie immer geliebt habe, hatte ich früher auch Augen für andere Mädchen.« Bei diesem Geständnis kam er sich ein wenig lächerlich vor. »Ich habe sogar ein paar Mal auf Festen mit einer unglaublich schönen Elfe getanzt. Aber ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen, und seit ich wirklich mit Laurel zusammen sein und sie von Neuem kennenlernen kann, habe ich auch keinen Gedanken mehr an diese Elfe verschwendet. Ehrlich«, sagte er grinsend, als Chelsea die Augenbrauen hochzog, »beinahe hätte ich mich nicht einmal mehr an sie erinnert. Ich liebe Laurel und darum wird sie für mich zur schönsten Elfe auf der Welt. Dagegen kommt eben niemand an.«
Chelsea sah ihn mit ihren großen grauen Augen an. Sie hoffte inständig, dass er die Wahrheit sagte. »Könntest du Laurel vergessen, wenn du dich in mich verlieben würdest?«
Tamani seufzte. »Bestimmt, wenn ich denn in der Lage wäre, eine andere außer ihr zu lieben. Aber so ist es, glaube ich, nicht.«
»Wie kann sie dir bloß widerstehen?«, fragte Chelsea, doch sie konnte wieder lächeln.
Tamani zuckte die Achseln. »Das wüsste ich auch gerne. Wie kann David dir widerstehen?«
Jetzt musste sie wirklich lachen und löste damit die angespannte Atmosphäre in der kleinen Küche.
»Ich wünsche dir viel Erfolg mit ihm«, sagte Tamani wieder ernst.
»Wie selbstlos von dir«, erwiderte Chelsea und rollte mit den Augen.
»Nein, wirklich.« Tamani legte ihr eine Hand auf den Arm und ließ sie so lange dort liegen, bis sie ihm ins Gesicht sah. »Lassen wir meine Hoffnungen kurz beiseite. Ich weiß, wie es sich anfühlt, sich so nach jemandem zu sehnen. Ich weiß, wie weh das tut.« Nach einer kurzen Pause flüsterte er: »Ich wünsche uns, dass wir es beide schaffen.« Als sie gemeinsam die Küche verließen, grinste er sie an. »Und was für ein Zufall, dass das eine vom anderen abhängt!«