Zwölf

Ich nehme Jamison«, sagte Tamani. Chelsea war wirklich sehr schnell und das ließ ihn hoffen, doch er konnte keine Sekunde mehr an sie verschwenden. »Wir umrunden das Frühlingsviertel durch die Bäume, damit wir uns möglichst lange verstecken können. Dann gehen wir zu meiner Mutter. Ich hoffe, dass ihr gemeinsam etwas findet, was ihm hilft – meine Mutter mit ihren gartentechnischen Erfindungen und du mit deinen Mixturen.« Mit Laurels Hilfe legte er sich Jamison über die Schultern. »Laurel, du folgst mir, David, du sicherst hinten.«

Als sie Richtung Frühlingsviertel gingen, fragte Tamani sich nicht zum ersten Mal, ob es nicht doch besser wäre, auf dem Hauptweg zu bleiben. Aber sie hatten ja gesehen, wie schnell die Orks das Tor überrannt hatten, und beim nächsten Mal war keiner mehr da, der sie zurückdrängen würde. Die restlichen Wachposten konnten sie möglicherweise noch ein wenig länger in Schach halten, aber Tamani war nicht sonderlich optimistisch, und wenn der Garten erst mal in feindliche Hände gefallen war, würde Klea wahrscheinlich direkt danach die Hauptwege überwachen lassen. Solange er Jamison trug, konnte er nicht einmal rennen. Das bedeutete, dass sie über die schmaleren Wege abwärts gehen mussten, auf denen er als Setzling gespielt hatte.

Er verdrängte den Gedanken an die Wachposten, die er zurückgelassen hatte. Sie waren zum Tode verurteilt.

Sie opfern sich für das Allgemeinwohl, sagte er sich immer wieder, während sie sich langsam, aber stetig durch den Wald bergauf quälten. Jahrelang hatte Shar ihm dieses Motto eingetrichtert – für das Allgemeinwohl –, doch erst heute hatte er es in seinem ganzen Ausmaß verstanden.

Shar.

An ihn konnte er jetzt auch nicht denken.

Sie brauchten nur eine knappe Stunde bis zu der Lichtung hinter dem Haus seiner Mutter, obwohl jeder Schritt mühevoll war. Jamison war kein großer Elf, aber er wurde immer schwerer und Tamani immer müder. Er hatte viel zu wenig geschlafen.

»Schön unten bleiben«, flüsterte Tamani, als er den Blick über die Rasenfläche wandern ließ, die sie überqueren mussten, um ins Haus zu gelangen. Die Straßen waren verlassen und die Orks waren anscheinend noch nicht ins Frühlingsviertel vorgedrungen, doch Tamani hatte zu viel Erfahrung, um sich vom äußeren Eindruck einlullen zu lassen. Auf sein Zeichen hin stürzten sie sich auf die Lichtung und flogen geradezu zu dem runden Baum, in dem Tamanis Mutter lebte. Als sie die Rückwand erreichten, öffnete Tamani das fein verborgene Schloss und wollte die Tür aufdrücken, doch nichts rührte sich. Er schob und schob – nichts passierte. Grollend hob er einen Fuß und trat so fest zu, dass die verborgene Tür nachgab und heftig in den Scharnieren schwang.

Er hatte das Haus noch nicht betreten und blieb gerade noch rechtzeitig stehen, bevor das Messer an seiner Kehle seine Haut durchstach.

»Bei der Wiege der Göttin, Tam!« Seine Mutter nahm das Messer von seinem Hals und gab den Weg frei. Kaum waren sie im Haus, ließ sie besorgt den Blick über die Felder schweifen und schloss die Tür. »Ich habe euch für Orks gehalten. Die junge Sora war gerade hier und hat uns gewarnt, dass Orks auf dem Weg ins Frühlingsviertel seien. Ich hatte vor, mich den Wachposten an den Barrikaden anzuschließen.«

»Du musst etwas Wichtigeres für mich erledigen«, sagte Tamani und ging ins Schlafzimmer seiner Mutter, wo er Jamison auf ihrem Bett ablegte.

»Himmel und Erde, ist das etwa … Jamison?«, rief seine Mutter. Dann zog sie ihren Armschutz aus und kniete neben dem Bett nieder. »Was ist passiert?«

Tamani erklärte es ihr rasch. »Wir müssen ihn wecken. Ich habe gehofft, dass du Laurel dabei helfen kannst.«

»Selbstverständlich«, erwiderte seine Mutter und zog den Rest ihrer Rüstung aus. »Wirklich schade, dass der alte Tanzer sich den Schweigsamen angeschlossen hat. Er würde genau wissen, was zu tun ist.«

»Das wusste ich noch gar nicht«, sagte Tamani und ließ enttäuscht die Schultern sacken. Er hatte gehofft … doch Laurel würde es schaffen. Es musste ihr einfach gelingen!

Als er Laurels verwirrte Miene sah, erklärte er es ihr. »Tanzer war ein Freund meiner Mutter. Er … hat früher hier in der Nähe gewohnt.«

»Der beste Mixer aller Zeiten«, sagte Tamanis Mutter und legte die Hände auf Jamisons aschfahle Wangen. »Früher kannte ich sie alle. Aber nur wenige Mixer ziehen ins Frühlingsviertel.«

»Du hast eben etwas von Barrikaden gesagt?«, fragte Tamani.

Seine Mutter nickte. »Auf dem Hauptweg – in der Nähe der Wäschehütten. Falls die Orks sie durchbrechen, geht der Straßenkampf los.«

Nicht falls, sondern wenn. Tamani war kurz davor, alle Hoffnung fahren zu lassen. Die Königin hatte sie im Stich gelassen, Jamison war außer Gefecht gesetzt und der Torgarten in feindlicher Hand.

Immerhin hatten sie noch David.

Und David hatte das Schwert.

Tamani sah Laurel in die Augen. »Tu für Jamison, was du kannst. Probier jeden Mixertrick aus, den du kennst, leg einfach los. Wir müssen zu den Barrikaden – und tun, was wir können.«

Tamanis Mutter sah ihn besorgt an. Dann stand sie auf und zog ihn beiseite, wo Laurel und David sie nicht verstehen konnten. »Ich weiß, wer das ist«, sagte sie mit mütterlicher Strenge und neigte den Kopf zu David. »Dass du mir ja nicht mit ihm rausgehst und zusiehst, wie sie ihn umbringen, nur weil es dir zugute käme, Tam. Ein ehrloser Sieg ist schlimmer als gar keiner.«

Doch Tamani schüttelte den Kopf. »Es ist nicht, wie du denkst, Mutter. Er hat das Schwert. Das, von dem Shar immer so leise erzählt hat. Es ist wirklich wahr, und ich habe gesehen, wie er es benutzt hat.« Er sah David an. »Er ist unsere letzte Hoffnung, jetzt, da Jamison bewusstlos ist.«

Seine Mutter schwieg einen Augenblick. »Steht es wirklich so schlimm?«

Tamani drückte ihre Hand.

»Dann geh«, sagte sie. »Die Göttin möge euch beide beschützen.« Sie wollte sich schon abwenden, doch dann umarmte sie ihn noch einmal und legte die Hand auf seine Wange. »Ich liebe dich, mein Sohn. Egal, was heute passiert, vergiss das nicht.«

Tamani musste schlucken und nickte. Auch Laurel schien etwas sagen zu wollen, doch Tamani bezweifelte, dass er das auch noch ertragen konnte. Er schob sich an ihr vorbei zu David. »Bist du bereit?«

Sie waren schon fast an der Tür, als Laurel rief: »Tam, David!« Tamani schloss die Augen und wappnete sich gegen ihre Proteste, doch sie sagte erst gar nichts. Dann flüsterte sie zu seiner Überraschung nur: »Passt auf euch auf.«

Dankbar für ihr Verständnis winkte Tamani ihr zu und führte David aus dem Vordereingang auf den Hauptweg zurück, wo sie bald schon den Lärm der Schlacht hörten. »Orks sind so verdammt schnell«, murrte Tamani und packte den Speer fester. Gleich würden sie wieder kämpfen müssen. So eine großartige Waffe hatte er nur selten in der Hand gehabt – nicht einmal im Training. Damit konnte man Orks viel besser töten als mit den kleinen Messern, die er normalerweise bei sich führte. Gute Waffen waren gleichbedeutend mit toten Orks und jeder tote Ork gab ihm das Gefühl, dass Laurel sicherer war.

Und was könnte wichtiger sein?

»Achte auf Orks mit Pistolen«, rief Tamani David über die Schulter zu. »Wenn es so läuft wie am Tor, dann sind es nicht viele, aber die meisten Elfen hier wissen nicht einmal, was eine Pistole ist, und haben deshalb auch keine Angst davor.«

»Geht klar«, antwortete David gestresst. Tamani musste einräumen, dass David sich für einen ungeübten Zivilisten sehr gut schlug.

Tamani nickte den ihm bekannten Elfen zu, als sie unter einem Dach hindurchgingen, wo sich die Bogenschützen versammelt hatten, um ihre Pfeile über eine grob gezimmerte Barrikade hinweg abzuschießen. Spitze Pfähle, vorwiegend von ehemaligen Gartenzäunen, waren auf dem Weg verteilt, wo er zwischen zwei Hügeln verlief, auf denen weitere Bogenschützen lauerten. Sie nahmen jeden Ork, der sich hierher verirrte, unter wilden Pfeil- und Steinbeschuss. Der Kampf fand hauptsächlich in dem kleinen Tal statt, wo der Weg abzweigte, doch einige Orks hatten sich durchgeschlagen und nahmen die Barrikade auseinander.

Tamani hob den Speer, doch ein Pfeil zischte durch die Luft und traf den Ork, den er sich ausgesucht hatte, mitten in die Brust. Tamani stieß das unförmige Ungeheuer beiseite und rannte los, immer weiter durch die Barrikade – David dicht auf seinen Fersen.

Jetzt waren sie auf allen Seiten von Lockern umgeben – von denen einige ehemalige Wachposten sich sogar sehr gut hielten, während sie Seite an Seite mit Sensen schwingenden Hütern und Schmieden mit Hämmern kämpften. Dennoch hatte Tamani, der einen Ork erstach, bevor der einen jungen Frühlingself töten konnte, der mit dem Spaten auf ihn losgegangen war, das Gefühl, als wären viel zu viele Setzlinge in der Schlacht. Er wollte den Jungen schon nach Hause schicken, doch was sollte er dort tun? Warten, bis die Orks kamen und ihn umbrachten? Nein, Tamani wollte ihm seinen Mut nicht ausreden, auch wenn es dumm war.

»Hier lang, David!«, rief Tamani und steuerte ihn mitten ins Orkgetümmel. »Gleich haben wir’s«, flüsterte er und rammte einem Ork, der versuchte, ihm mit fleischigen Händen die Kehle zuzudrücken, den Speer in den Hals. Tamani hatte den Überblick über die zahllosen oberflächlichen Wunden verloren, die man ihm heute schon zugefügt hatte. Keine war auch nur annähernd lebensbedrohlich, doch sie wirkten sich negativ auf seine Reflexe aus. Während ihn die Orks immer dichter bedrängten, wurde es immer schwieriger, einen zu töten. David schlug sich zu ihrem Vorteil, doch die Orks kamen zu Dutzenden den Hügel hinunter.

Sie waren schon weit hinter der Barrikade, als Tamani ein tiefes Grollen hörte. Als er aufblickte, entdeckte er mehrere Elfen auf den Dächern am Rand des Viertels, die ihre Arme zum Himmel streckten und anmutig wieder einzogen, als zögen sie an unsichtbaren Seilen.

Kurz darauf hatte Tamani begriffen, was sie vorhatten. »David!«, rief er warnend. »Achtung, auf den Hügel!«

Der Hügel war zu steil, um in der kurzen Zeit ganz hinaufzusteigen. David und Tamani drückten sich daher flach auf die Erde, als das Grollen zu einem ohrenbetäubenden Brüllen wurde. Vom Ende des Wegs her tobte eine große Rinderherde auf die Barrikade zu, wo die Hirten sich auf den Dächern versammelt hatten. Zahlreiche Orks wurden von ihren Hufen zermalmt. Tamani drückte sich noch fester auf den Rasen, um sich vor den panischen Kühen und ihren tödlichen langen Hörnern zu schützen. Als die Gefahr vorüber war, hätte Tamani beinahe über David gelacht, der halb stehend, halb sitzend am steilen Hügel lehnte, das Schwert in seinen schlaffen Händen hielt und das Schauspiel betrachtete. »Was ist denn in die Kühe gefahren?«, fragte David verblüfft.

Tamani zeigte auf die Locker auf den Dächern.

David verfolgte ihre Bewegungen und riss die Augen noch weiter auf, was Tamani gar nicht für möglich gehalten hatte. »Sie locken Kühe an?«, fragte er ungläubig.

Tamani nickte, doch er lächelte nicht mehr. »Komm«, forderte er David auf. »Wir müssen zuschlagen, solange sie durcheinander sind.« Die Orks waren immer noch größer als die meisten Kühe und begriffen rasch, was gespielt wurde. Sie richteten ihre Klingen gegen die Herde, aber lange würde sie das nicht ablenken.

»Warum haltet ihr in Avalon Kühe?«, fragte David laut schreiend, als er einen niederen Ork umbrachte, der überall eiternde Geschwüre hatte, wo nicht schwarzes Fell die Haut bedeckte.

Tamani zog seinen Speer mit einem wilden Tritt aus der Brust eines anderen Orks. Das Namensschild auf seinem Pullover wies ihn als GREG aus und Tamani überlegte kurz, ob der beinahe menschlich wirkende Ork Greg hieß oder nur einen Greg gefressen hatte. »Wir brauchen mehr Dünger als unsere Mixer herstellen können«, antwortete er vage.

Der Nachschub an Orks ließ nach und David hatte offenbar einen guten Rhythmus gefunden, sodass Tamani Zeit hatte – den Speer mit einer Hand fest umklammernd –, mehrere verwundete Elfen zur Barrikade zurückzuschleppen. Sie atmeten noch und könnten vielleicht wieder gesund werden, wenn sie es schafften, dort, wo sie lagen, nicht getötet zu werden.

Leider hatte er keine Zeit, sie richtig in Sicherheit zu bringen, doch er konnte sie wenigstens so weit aus der Gefahrenzone ziehen, dass sie nicht zu Tode getrampelt wurden.

»Tamani!«

David. Er zog einem Ork, der ihm gerade auf die Schulter springen wollte, sein Schwert über.

»Es kommen keine mehr den Hügel hinunter«, sagte David außer Atem.

Tamani war misstrauisch. Als die Feinde beim letzten Mal ausgeblieben waren, hatten sie im nächsten Moment etwas noch Schlimmeres erlebt. Er traute der Sache nicht und erwog zögernd, was sie tun sollten. Auch wenn sie das Frühlingsviertel im Moment verschonten, wusste die Göttin allein, wie viele im Sommerviertel oder in der Akademie wüteten. Doch Tamani wollte David die Hoffnung nicht nehmen.

»Lass uns hier weiterkämpfen, bis die Locker alles besser im Griff haben. Dann müssen wir wieder zu meiner Mutter.« Doch Tamani hatte keine Ahnung, wie lange das noch dauern sollte. Und wie lange die Frühlingskämpfer noch durchhalten würden.

David nickte, doch dann zuckte er zusammen, als etwas vor seinen Füßen klirrend zerbrach.

»Na endlich«, murmelte Tamani und war ein wenig erleichtert. Weitere kleine Fläschchen regneten vom Himmel, zerplatzten am Boden und verschütteten ihren süßlich duftenden Inhalt auf dem Schlachtfeld.

»Endlich was?«, fragte David.

»Die Bienenhirten haben ihre Völker versammelt«, erklärte Tamani und grinste, als er das verräterische Geräusch hörte. Er zeigte auf die Barrikaden, wo die Bogenschützen einem Trupp Frühlingselfen Platz machten. Jeder von ihnen hatte einen Stab in der einen und eine Schleuder in der anderen Hand.

Als sich eine summende dunkle Wolke auf den Pass senkte, begannen die Orks vor Schmerzen zu schreien. Die schwarzgelben Insekten schwärmten über das Schlachtfeld aus und stachen wie wild zu. Ihre Körperchen fielen so rasch zu Boden, wie sie heranflogen, und es gab Tamani einen Stich, wenn er bedachte, wie viele Jahre sie brauchen würden, um die Bienenvölker wieder aufzubauen. Doch gemäß ihrer Natur verteidigten sie ihre Heimat genau wie die Frühlingselfen. Die Orks, die dem Gift nicht erlagen, verloren vor Schmerzen die Orientierung und taumelten durch die Wolke von Insekten, sodass sie ein leichtes Ziel für die Elfen abgaben.

Ein Aufschrei ließ Tamani mit erhobenem Speer herumfahren.

Die Bienen umschwärmten nun auch David, der jedoch Excalibur sei Dank nicht gestochen werden konnte. Doch die Insekten gingen ihm so auf die Nerven, dass er mit dem Schwert wie mit einer Fliegenklatsche um sich schlug, um sie abzuwehren.

»David! David!«, rief Tamani, aber David reagierte nicht. »David!«, brüllte Tamani. Endlich nahm er ihn wahr. »Alles in Ordnung! Sie können dich nicht stechen.«

»Nein«, erwiderte David ruhiger. »Aber ich spüre sie. Und das …« David hielt inne und zischte dann: »Das macht mich fertig!«

Das brachte Tamani zum Lächeln. »Ich glaube, die Locker können jetzt übernehmen«, meinte er. Er wünschte, er wäre sich ganz sicher. »Komm, wir gehen.«

David murmelte etwas, das sich wie Zustimmung anhörte, und folgte Tamani zurück durch die Barrikaden.

»Lauf!«, sagte Tamani und fing an zu rennen. »Dann kehren sie zu den Zaubertränken zurück und lassen dich in Ruhe.«

Sie liefen gemeinsam über die verlassenen Seitenwege, die Tamani seit seiner Setzlingszeit nicht mehr betreten hatte. Die Bienen ließen sich nur langsam abschütteln, doch nach einigen Minuten wurde David nur noch von ein paar hartnäckigen Exemplaren verfolgt.

»Ich dachte, die Orks wären gegen Magie immun«, keuchte David.

»Bienen sind nicht magisch«, antwortete Tamani und blieb kurz stehen, um Luft zu schöpfen.

»Aber das Zeug, das sie runtergeworfen haben – diese Glasdinger – enthielten sie nicht einen Zaubertrank?«

Jetzt grinste Tamani breit. »Doch. Aber einen Zaubertrank für Bienen, nicht für Orks. Er stimuliert sie zum Angriff auf Tiere. Und zu denen zählst du leider auch.«

David nickte und legte vornübergebeugt die Hände auf die Knie. »Super«, sagte er, holte noch einmal tief Luft und folgte Tamani, der ihm schon wieder vorausgeeilt war.

»Bei Hekates Auge«, japste Tamani und warf sich an eine Mauer, nachdem er um die Ecke zum Haus seiner Mutter gelugt hatte. Gegenüber beugten sich zwölf Orks über eine Handvoll toter Wachposten. »Sie müssen einen anderen Weg genommen haben«, sagte er. Dann spähte er noch einmal um die Ecke. Sie kamen nun auf sie zu – hatten sie etwas gehört? Oder …

»Sie wittern uns«, erklärte Tamani und sah an seinen blutbefleckten Sachen hinunter. Er verfluchte seine Sorglosigkeit. »Wahrscheinlich sind sie dem Blutgeruch bis hierher gefolgt.«

Der erste Ork kam in Sichtweite – ein riesiger niederer Ork, der wie ein unbehaarter Grizzlybär mit einer Nase statt einer Schnauze laut in der Luft schnüffelte.

»Und los geht’s«, sagte Tamani, bog um die Ecke und ging zum Angriff über. Der riesige Ork kam mit einer derartigen Geschwindigkeit auf ihn zugestürmt, dass Tamani kaum Zeit hatte, seinen Speer zu heben.

Mit einem Bilderbuchschwung trat David vor und trennte dem Ungeheuer den Arm ab. Als die anderen das pochende rote Blut aus seiner Schulter strömen sahen, wurden sie wild und warfen sich alle gleichzeitig in die Schlacht. David, dessen Arme das Gewicht von Excalibur kaum noch tragen konnten, hatte Mühe, das Schwert schnell genug zu schwingen, um sie zurückzudrängen. Tamani tat, was er konnte, und stach auf jede Waffe und jedes Körperteil ein, das ihm zu nahe kam. Allerdings musste er sich schon ordentlich anstrengen, um überhaupt so lange am Leben zu bleiben, bis David sie auf eine überschaubare Menge reduziert hatte.

Wie war das, drei gegen einen?, dachte Tamani kläglich.

Als jemand seinen Knöchel fasste und ihn zu Boden warf, fürchtete er, dass es mit seinem Glück aus und vorbei war. Er kam zwar wieder auf die Beine, aber nicht rechtzeitig, bevor ihn der Ork mit einem widerlichen eisernen Morgenstern an der Schulter traf. Tamani schrie auf, als sich die Stacheln in sein Fleisch bohrten, und ließ den Speer los. Der Ork trat ihm von hinten in die Knie. Er versuchte, sich wieder zu fangen, doch sein verletzter Arm konnte sein Gewicht nicht mehr tragen und knickte ein. Er rollte sich schnell genug herum, um zu sehen, dass der Ork erneut den Morgenstern hob und diesmal auf seinen Kopf zielte. Tamani hatte keine Kraft mehr, ihn aufzuhalten.

Doch dann ging der Ork in die Knie und fiel nach vorne auf Tamani, der Orkfleisch in den Mund und ekligen Gestank in die Nase bekam. Mit dem gesunden Arm drückte Tamani gegen das Gewicht des Orks, doch er konnte das fette Ungeheuer erst loswerden, als David ihm dabei half.

Als Tamani hoch kam, zog David das Schwert aus dem Kopfsteinpflaster, in das er es gerammt hatte. Er trug eine sonderbare Miene zur Schau.

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Tamani und hob seinen Speer auf. »Schon wieder.«

»Das war ich nicht. Also den da, den habe ich erledigt«, sagte David und deutete auf die beiden Hälften des Orks, der Tamani die Beine weggetreten hatte. »Aber als ich mich umgedreht habe, um den anderen zu töten, und das Schwert hob … ist er von selbst zusammengebrochen.«

»Wahrscheinlich ein Giftpfeil«, sagte Tamani und ließ den Blick über die Leiche des Orks wandern, ehe er auf den Weg schaute, um den verborgenen Wohltäter zu suchen. Da sich niemand blicken ließ, winkte er ein Dankeschön in die leere Luft.

Er versuchte, eine Haltung für seine Schulter zu finden, die ihm am wenigsten Schmerzen bereitete, gab aber bald auf und ergab sich der Verletzung. »Wir gehen lieber schnell ins Haus, bevor noch mehr Orks kommen.«

Als sie durch den Vordereingang ins Haus platzten, wurden sie von Laurel begrüßt, die dasselbe Messer schwenkte wie zuvor Tamanis Mutter. Es traf Tamani bis ins Mark, Laurel mit einem Messer zu sehen. Sie musste wirklich große Angst haben, wenn sie zur Waffe griff, selbst wenn sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte.

»Ihr seid es!«, rief sie erleichtert und warf das Messer weg, als wäre es faules Obst. »Sie standen schon mehrere Minuten vor der Tür und wir konnten nichts tun, außer ganz leise zu sein.« Sie legte die Arme um beide, doch Tamani wünschte, sie würde nur ihn umarmen.

»Geht es Jamison besser?«, fragte er. Laurel schüttelte traurig den Kopf.

»Und ihr? Ist einer verletzt?«

»Nicht so schlimm«, sagte Tamani. Er ging an ihr vorbei in den Flur. Wenn er sich auch nur einen Moment auf sich selbst konzentrierte, könnte er die Schmerzen nicht mehr aushalten.

»Er zuckt ab und zu«, sagte Laurel, die ihm gefolgt war. »Aber mehr haben wir leider nicht erreicht.«

»Das hatte ich schon befürchtet«, sagte Tamani leise, der in der Tür zum Schlafzimmer stand und zu seiner Mutter sah, die bei Jamison saß. In dem Raum hingen so schwere Gerüche, dass Tamani kaum atmen konnte, ohne zu husten.

»Es tut mir leid«, sagte seine Mutter. »Laurel hat mir erzählt, die Menschen hätten ein Elixier, das sie als Riechsalz bezeichnen, und wir dachten, wir probieren es mit etwas Ähnlichem. Es scheint zu wirken, aber nur sehr langsam.«

Tamani nickte. »Dann macht so weiter. Wir haben den Weg verteidigt. Einige Orks sind durchgekommen, aber wie es aussieht, haben wir bald alles unter Kontrolle.« Er sah Jamison traurig an, denn er wünschte sich sehnlichst, dass er aufwachen würde. Doch für solche Gefühle hatte er keine Zeit. »Dann sollten wir wohl zur Akademie gehen«, sagte er schließlich. »Ich nehme David mit. Und hoffentlich …«

Nein! Es würde Laurel nicht helfen, wenn er laut ausspräche, dass er hoffte, die Akademie würde noch stehen, zumal er Chelsea dorthin geschickt hatte. War das richtig gewesen? Hätten sie nicht doch versuchen sollen, sich allen Gefahren zum Trotz dorthin durchzuschlagen? Shar hatte ihn oft vor allzu großen Selbstzweifeln gewarnt, vor allem mitten in der Schlacht, und dennoch überlegte er, ob sich seine Angst um das Frühlingsviertel auf das Gefühl, Jamison sei hier am sichersten, ausgewirkt hatte.

»Hoffentlich schaffen wir es«, sagte er schließlich.

Als er sich umdrehte, prallte er mit Laurel zusammen.

»Ich komme mit.«

»Kommt nicht infrage.«

»Du kannst mich nicht aufhalten.«

Plötzlich fühlte er sich entsetzlich hilflos. Selbstverständlich könnte er sie aufhalten, doch sie wusste genau, dass er es nicht tun würde. »Hier bist du sicherer. Und du kannst Jamison alles erklären, wenn er aufwacht.«

»Ich habe deiner Mutter bereits alles erzählt. Es ist wichtig, dass ich mitkomme und den anderen Mixern seinen Zustand genau beschreibe. Das ist am vielversprechendsten«, sagte Laurel und sah ihn entschlossen an.

Es passte ihm gar nicht, dass sie recht hatte.