Acht
Warte«, sagte Laurel, als David den Motor anließ. »Ich muss noch meine Mutter anrufen.« Sie wollte wieder aussteigen, aber Tamani legte ihr die Hand aufs Bein.
»Ruf hiermit an«, sagte er und gab ihr sein Handy.
Es fühlte sich schlecht an, das Handy auch nur zu berühren, aber was blieb Laurel übrig? Sie rief im Geschäft an und hoffte inständig, dass ihre Mutter drangehen würde.
»Mutter Natur!«, sagte ihre Mutter. Schon beim vertrauten Klang ihrer Stimme hätte Laurel am liebsten angefangen zu weinen.
»Mom«, sagte sie, als sie merkte, dass sie sich nichts überlegt hatte.
»Wir bedienen gerade, rufen Sie aber gerne zurück, wenn Sie eine Nachricht hinterlassen.«
Laurel hatte einen Kloß im Hals. Nur der Anrufbeantworter. Sie wartete auf den Piepton und holte tief Luft. »H-hallo Mom«, sagte sie und räusperte sich, als ihre Stimme kippte. »Wir … wir fahren weg. Wir müssen nach Avalon«, sagte sie rasch. Gut, dass ihre Mutter in ihrem Laden als Einzige das Passwort zum Abhören der Nachrichten hatte. »Shar … Shar ist gefangengenommen worden und wir müssen es Jamison erzählen.«
Was sollte sie noch sagen? Es war einfach schrecklich, dass sie nur auf den AB sprechen konnte. »Ich komme möglichst bald zurück. Ich liebe euch«, flüsterte sie noch, bevor sie die Taste mit dem roten Hörer drückte. Dann starrte sie das Telefon in ihrer Hand an, weil sie anfangen würde zu weinen, wenn sie irgendwo anders hinsehen oder etwas sagen würde. Sie hoffte, sie betete, dass dies nicht die letzten Worte sein würden, die ihre Eltern von ihr hörten.
Tamani streckte die Hand aus.
Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, gab Laurel ihm das Handy zurück. Er blätterte im Telefonbuch und hielt es ans Ohr.
»Aaron, Shar ist tot. Klea hat Yuki und eine Armee von Orks. Sie sind gegen Herbstmagie immun und wissen, wo das Tor ist. Ich bringe Laurel nach Avalon. Wenn du mit der Wohnung fertig bist, nimmst du alle Mann, die nicht zum Schutz von Laurels Eltern abgestellt sind, mit zum Grundstück. Wahrscheinlich ist Klea euch knapp voraus. Möge die Göttin euch beschützen.«
Er betonte keins der Wörter, sondern sprach vollkommen monoton. Doch nach dem Anruf schaltete Tamani das Handy aus und warf es auf den Sitz, als hätte er sich verbrannt. Würde er es je wieder in die Hand nehmen?
Zwei letzte Nachrichten – die eine ein Abschied, der von Herzen kam, die andere ein scheinbar ruhiger Dienstanruf, trotz der verheerenden Botschaft.
Laurel erschauerte. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn Tamani geschrien und getobt hätte. Doch er fraß alles in sich hinein und verbarg es selbst vor ihr, als er den Kopf an die Autoscheibe lehnte. Sie fühlte sich so hilflos.
Doch etwa fünf Meilen hinter Crescent City strich er mit einer Hand über Laurels Arm und verschränkte sie mit ihrer, wobei er sie unmerklich näher zog. Er schaute weiter aus dem Fenster, doch sein fester Händedruck machte deutlich, dass er Halt suchte. Laurel freute sich, dass auch er sie endlich einmal brauchte – selbst wenn ihr allmählich die Finger wehtaten.
Auf der Fahrt wurde wenig geredet, zumal Chelsea wieder eingeschlafen war. Sie lag verdreht auf dem halb heruntergelassenen Beifahrersitz. Gut, dass sie Shars Anruf nicht mitgehört hatte, denn danach hätte sie nicht so leicht weiterschlafen können. Schließlich wurde sie wach, als sie eine kurze Strecke auf rauem Asphalt fuhren, und löste den Gurt, damit sie sich zu Tamani und Laurel umdrehen konnte.
»Äh, was machen wir denn nun, wenn wir da ankommen?« Ihr Blick fiel kurz auf die verschränkten Hände von Laurel und Tamani, doch sie schwieg dazu.
Tamani rückte zum ersten Mal vom Fenster ab. »Wir gehen zum Tor, erklären, wie dringend es ist, fordern Einlass und werden durchgewinkt, wenn wir Glück haben. Also, ich meine natürlich Laurel und mich. Seit über tausend Jahren hat kein Mensch Avalon betreten.«
»Wir wollen euch helfen«, sagte David. »Glaubst du nicht, dass sie es erlauben würden?«
Tamani zog seine Hand aus Laurels, als er sich vorbeugte. »Das haben wir doch schon besprochen«, sagte er nicht unfreundlich. »Eure Hilfe wird so nicht gebraucht. Ich schlage vor, ihr lasst uns raus und fahrt möglichst schnell woandershin. Fahrt nach Süden – auf keinen Fall zurück zu Laurels Haus. Die Wachposten werden deine Eltern beschützen«, fügte er zu Laurels Beruhigung hinzu. »Aber es hat ihnen gerade noch gefehlt, sich um noch mehr Menschen kümmern zu müssen. Fahrt nach Eureka oder McKinleyville.« Er zögerte. »Macht Weihnachtseinkäufe oder so was.«
»Eine Woche vor Weihnachten im Einkaufszentrum. Na, toll«, klagte Chelsea.
»Dann geht eben in Orick was essen. Hauptsache, ihr fahrt nicht vor morgen oder übermorgen nach Crescent City zurück.«
»Hast du eine Idee, wie wir das unseren Eltern erklären sollen?«, fragte David.
»Vielleicht hättest du darüber nachdenken sollen, bevor du mitgekommen bist«, erwiderte Tamani in etwas schärferem Ton. Aber laut wurde er nicht.
David schüttelte nur den Kopf. »Ich bin auf deiner Seite, Mann.«
Tamani senkte den Kopf und holte mehrfach kurz Luft, bevor er ruhiger sagte: »Selbst wenn sie euch reinlassen, wäret ihr mindestens genauso lange in Avalon. Glaub mir, du hast alle Zeit der Welt, dir etwas für deine Mutter zu überlegen.«
»Ich erzähle meiner Mom einfach, dass David und Laurel durchbrennen wollten«, sagte Chelsea trocken. »In dem Moment bin ich vorbeigekommen und habe versucht, es ihnen auszureden. Meine Mutter verzeiht mir praktisch alles, wenn es um Laurels Tugendhaftigkeit geht.«
Als Laurel merkte, dass ihr Mund offen stand, gab sie Chelsea einen Klaps auf die Schulter.
»Das habe ich mir für den Notfall aufgespart«, sagte Chelsea stolz zu niemand Bestimmtem, drehte sich wieder um und schnallte sich an, als David von der Hauptstraße abbog.
Beim Anblick des Blockhauses wurde Laurel erneut von Trauer überwältigt. Das letzte Mal war sie mit Tamani hier gewesen, an einem der schönsten Tage in ihrem Leben. Sogar in diesem Augenblick erschauerte sie bei der Erinnerung. Das Leben war auf einmal so unsicher und zerbrechlich. Würde sie noch so einen Tag mit Tamani erleben? Wie sie plötzlich feststellte, wollte sie das unbedingt! Sie sah ihn an; auch er betrachtete die Hütte. Dann drehte er sich um, ihre Blicke trafen sich, und sie wusste, dass sie beide an das Gleiche dachten.
»Wo soll ich parken?«, fragte David. »Sie sehen sonst das Auto, wenn sie kommen.«
»Wenn sie kommen, bevor ihr wieder weg seid, ist es zu spät, sich Sorgen zu machen«, antwortete Tamani und löste den Blick von Laurel. »Also kannst du ihn auch gleich hier abstellen.«
Bevor sie alle in den Wald gingen, baute Tamani sich mit todernster Miene vor ihnen auf. »David, Chelsea, ich habe schon gesagt, dass bisher nur einigen auserwählten Menschen Einlass nach Avalon gewährt wurde. Und die … sind manchmal nicht zurückgekommen. Wenn ihr jetzt mit uns in den Wald geht, kann ich für nichts garantieren. Und ich weiß nicht, was schlimmer wäre … wenn sie euch am Tor abweisen würden und ihr nicht genug Zeit hättet, zum Wagen zurückzukehren, oder wenn sie euch einließen.«
Er hielt Davids Blick lange stand, bevor David einmal kurz nickte. Dann wandte er sich an Chelsea.
»Ich kann nicht zurückbleiben«, sagte sie leise. »Ich würde mich für den Rest meines Lebens hassen.«
»Verständlich«, sagte Tamani kaum hörbar. »Dann gehen wir jetzt.«
Er führte sie über den gewundenen Weg und bewegte sich so selbstbewusst und entschlossen durch den Wald, dass Laurel und ihre Freunde beinahe rennen mussten, um mit ihm Schritt zu halten. Laurel wusste, dass Wachposten sie beobachteten, und erwartete an jeder Biegung, sie zu sehen, wie so oft, wenn sie mit Tamani hier gewesen war.
»Sind wir zu spät gekommen?«, flüsterte Laurel.
Tamani schüttelte den Kopf. »Es liegt an den Menschen«, antwortete er schlicht.
Als sie schließlich in Sichtweite des uralten Baumkreises gelangten, der das Tor umschloss, zeigte sich endlich der erste Wachposten, der Tamani fast ins Gesicht sprang und ihm eine Hand auf die Brust legte. Tamani blieb so anmutig stehen, dass ein unbeteiligter Zuschauer hätte meinen können, er hätte sowieso an dieser Stelle anhalten wollen.
»Du bewegst dich auf gefährlichem Terrain, wenn du sie so nahe heranbringst, Tam«, sagte der Wachposten.
»Ich werde mich auf noch viel gefährlicherem Terrain bewegen, wenn ich um die Erlaubnis bitte, sie nach Avalon mitzunehmen«, sagte Tamani kategorisch.
Der andere Wachposten reagierte geschockt. »Das … das kannst du nicht machen! Das ist unmöglich!«
»Mach Platz«, sagte Tamani. »Ich habe keine Zeit.«
»Tu das nicht«, erwiderte der Wachposten, ohne von der Stelle zu weichen. »Bevor Shar zurückkehrt, können wir nicht mal …«
»Shar ist tot«, sagte Tamani. Ein Hauch von Ehrfurcht raschelte in den Bäumen. Nachdem er einige Sekunden gewartet hatte – vielleicht damit der andere die Neuigkeit verarbeiten oder auch damit er all seinen Mut zusammennehmen konnte – fuhr Tamani fort. »Als stellvertretender Kommandeur dieser Truppe übernehme ich seinen Posten, zumindest bis der Rat zusammenkommt. Und jetzt fordere ich dich noch mal auf, Platz zu machen.«
Der Wachposten wich zurück und Tamani ging mit hoch erhobenem Kinn weiter. »Männer, die …« Seine Stimme brach kaum merklich. »Männer, die ersten zwölf vortreten.« Das war Shars Text, der Beginn eines Rituals, das einen knorrigen alten Baum in ein glänzendes goldenes Tor verwandelte. Laurel hatte diese Worte oft genug gehört, um zu wissen, wie bedeutend sie waren.
Elf Wachposten traten neben den, der sie aufgehalten hatte, und Chelsea schnappte leise nach Luft, als sie sich in einem Halbkreis um den Baum aufstellten. Sie boten einen herrlichen Anblick in ihrer Rüstung, die sorgfältig getarnt war. Alle zwölf trugen einen Speer mit dunklem Schaft und einer diamantenen Spitze. Ähnlich wie bei Tamani und Shar waren die Haarwurzeln bei einigen grün verfärbt. Außerhalb ihrer Umgebung sähen sie wahrscheinlich recht sonderbar aus, möglicherweise sogar lächerlich. Doch hier im Wald erschienen sie Laurel stets als mächtige Beschützer.
Als die Wachposten an den Baum traten und jeder eine Hand an die Rinde legte, wurde Laurel bewusst, dass ihre Freunde die Zeremonie zum ersten Mal beobachteten. Sie erinnerte sich daran, wie sie die Verwandlung zum ersten Mal erlebt hatte. Damals war Tamani angeschossen worden und Shar hatte Jamison hergebeten, um das Leben seines Freundes zu retten. Jetzt war Shar tot und Tamani bemühte sich, allen das Leben zu retten.
Die vertraute leise Melodie summte durch den Wald, als der Baum seine unförmigen Äste im Schein der Lichtung schüttelte, der ihn ätherisch leuchten ließ. Es sah aus, als würde der Baum sich spalten und zu einer Art Bogen verschmelzen. Dann kam der abschließende Blitz, der so hell war, dass die Lichtung zu brennen schien, und schon standen sie vor dem schönen goldenen Tor, das den Weg nach Avalon bahnte.
Laurel warf einen schnellen Blick über ihre Schulter. Chelsea platzte geradezu vor Glück, während David mit offenem Mund dastand.
»Jetzt rufe ich …«
Tamani hielt verwirrt inne. Die Schwärze hinter den Gitterstäben des Tores ließ Schemen erkennen und kurz darauf umklammerte eine alte, welke Hand die Stäbe und zog langsam das Tor auf. Obwohl Jamison sie besorgt ansah, freute Laurel sich unbändig bei seinem Anblick. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, sonst wäre sie ihm in die Arme gesunken.
Doch warum war er bereits am Tor?
»Laurel, Tam!« Er winkte sie näher heran. »Kommt, kommt!«
Die Wachposten rückten hinter ihnen zusammen, als Laurel, Tamani, David und Chelsea auf das Tor zugingen. Jamison blieb auf seinem Platz in der Mitte der Pforte stehen – wollte er sie etwa abweisen?
»Ich habe eine fürchterliche Nachricht vom Herrenhaus erhalten«, sagte Jamison. »Stimmt es, dass Shar uns verlassen hat?«
Tamani nickte schweigend.
»Das tut mir sehr leid«, fuhr Jamison fort und legte Tamani eine Hand auf den Arm. »Was für ein schwerer Verlust.«
»Er gab sein Leben für Avalon«, erwiderte Tamani mit einem Hauch von Trauer in der Stimme.
»Etwas anderes habe ich nicht von ihm erwartet«, sagte Jamison und richtete sich auf, »aber das Herrenhaus hat mir nur eine Nachricht von Aaron weitergeleitet, der nichts weiter ausführte, als dass ich euch am Tor erwarten sollte. Diese Diskretion ist ein kluger Schachzug; schließlich wollen wir keine Panik auslösen. Doch deshalb müsst ihr mir jetzt alles genau erklären, damit das Opfer unseres guten Hauptmanns nicht vergeblich war.«
»Es war die Wildblume«, begann Tamani. »Sie ist eine Winterelfe, die von Klea aufgezogen wurde.« Jamison machte große Augen, als Tamani weiter berichtete. »Sie hatte den Auftrag, die genaue Lage des Tores aus Laurels Kopf zu ziehen – was sie letzte Woche auch geschafft hat.«
Laurel fühlte sich schuldig, als die Sorgenfalten in Jamisons Gesicht noch tiefer wurden.
»Sie kann nichts dafür«, sagte Tamani. »Wir haben zu spät entdeckt, zu welcher Kaste Yuki gehört, um es zu verhindern.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Jamison und lächelte Laurel traurig an. »Das ist ganz und gar nicht deine Schuld.«
»Wie wir bereits vermuteten, ist Klea die Herbstelfe, die Laurels Vater vergiftet hat.« Er zögerte. »Und sie ist Callista, die Verbannte.«
»Callista.« Jamisons Miene spiegelte Überraschung und Bedauern. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Namen zu meinen Lebzeiten noch einmal hören würde.«
»Ich fürchte, es kommt noch schlimmer.«
Jamison schüttelte ermattet den Kopf.
»Klea – Callista – ist es gelungen, Seren zu mischen, durch die Orks gegen Herbstmagie immun werden. Deshalb hatten wir solche Probleme, sie zu finden und zu jagen. Anscheinend hat sie eine wahre Armee von diesen Orks und …« Er holte tief Luft. »… und sie werden bald hier sein. In höchstens einer Stunde.«
Jamison schwieg und schien nicht einmal mehr zu atmen. Laurel wünschte, er würde endlich etwas sagen, egal was. Doch dann sah er Laurel auf einmal mit einem sonderbaren Leuchten in den Augen an.
»Wer sind eure Freunde?«, fragte er unvermittelt und trat näher an sie heran. »Würdest du mich bitte vorstellen?«
»David und Chelsea«, antwortete Laurel verwirrt. »Und das ist Jamison.«
Chelsea und David streckten die Hände aus – Chelsea atemlos – und Jamison hielt Davids Hand einige Sekunden lang fest. »David«, sagte er nachdenklich. »So hieß der große König in der Sage der Menschen, nicht wahr?«
»Äh … ja, Sir«, antwortete David.
»Interessant. Eine Winterelfe, immunisierte Orks und die möglicherweise begabteste Herbstelfe in der Geschichte Avalons haben sich gegen uns verschworen«, sagte Jamison kaum hörbar. »Seit über tausend Jahren war Avalon keiner derartigen Bedrohung mehr ausgesetzt. Und dann haben wir hier noch zwei Menschen, die ihre Treue bereits unter Beweis gestellt haben.« Er blickte über die Schulter nach Avalon. »Möglicherweise ist es Bestimmung.«