Sechs
Wie ein Rinnsal, das zu einem reißenden Strom wird und schließlich einen Damm bricht, so fühlte sich Laurel, als sie stammelnd versuchte, ihren Eltern alles zu erklären – auch die Ereignisse der letzten Woche, die sie zunächst vor ihnen geheim gehalten hatte. Erst als sie sich wieder im Griff hatte, konnte sie langsamer von Kleas Angriff und der Gefahr, in der Shar nach wie vor schwebte, erzählen. Am Schluss fühlte sie sich leer und geläutert, selbst wenn es immer noch eine Sache gab, von der ihre Eltern nie etwas erfahren durften.
»Ich … ich wusste einfach nicht, wie ich es euch früher hätte erklären sollen«, schloss sie.
»Eine Winterelfe?«, fragte ihr Vater.
Laurel nickte.
»Das ist doch die Art, die so ungefähr alles kann, richtig?«
Sie rieb sich die Augen. »Ihr macht euch keine Vorstellung.«
Laurels Mutter sah Tamani an, der sich mit keinem Wort an Laurels Erklärung beteiligt hatte. »Ist meine Tochter in Gefahr?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte Tamani. »Ich glaube, Yuki stellt für Laurel keine Gefahr dar, abgesehen davon, dass sie eine Winterelfe ist. Mit Klea sieht das schon anders aus. Sie tut Dinge, die in Avalon nicht einmal ansatzweise legal sind, und wir wissen immer noch nicht, worauf sie eigentlich hinaus will.«
»Wirklich schade, dass wir Klea nicht eins mit der Bratpfanne überziehen konnten, als sie letztens hier war«, sagte Laurels Vater halb im Scherz.
»Sollen wir dich irgendwohin bringen, Laurel?«, fragte ihre Mutter.
»Was meinst du damit?«
»Wäre es sicherer für dich, wenn wir mit dir irgendwohin führen? Wir könnten in einer Stunde aufbrechen.« Sie stand auf und blickte in ihrem Beschützerinstinkt zu allem entschlossen auf Laurel hinunter, sodass ihre Tochter am liebsten gleichzeitig gelacht und geweint hätte.
»Ich kann hier nicht weg«, antwortete sie leise. »Ich trage Verantwortung. Falls Klea mir etwas tun wollte, hätte sie es schon oft tun können. Ich glaube, dass sie etwas anderes mit mir vorhat.«
»Was will sie denn von dir?«
Laurel zuckte die Achseln. »Das Grundstück, denke ich. Zugang zum Tor von Avalon. Wie Tamani schon sagte, wir wissen es nicht.«
»Und wir werden es auch kaum herausfinden, bevor Shar zurückkommt«, fügte Tamani hinzu.
Als Laurel merkte, dass er die Fäuste geballt hatte, legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Er kommt zurück«, sagte sie tröstend. Hoffentlich klang sie zuversichtlicher, als sie sich fühlte.
»Weißt du was«, sagte Tamani ruhig, ohne sie anzusehen. »Vielleicht hat deine Mom doch recht. Wir haben hier getan, was wir konnten. Jamison hat uns gebeten, der Ursache des Orkproblems auf die Spur zu kommen. Klea hat die Orks mitgebracht, um Yuki zu retten. Ich würde sagen, das beweist hinreichend, dass sie die Wurzel dieses Übels ist, also haben wir diese Aufgabe erfüllt. Den Rest müssen Aaron und Shar erledigen, aber wenn sie … keinen Erfolg haben …« Tamani machte eine Pause, und Laurel sah ihm an, dass er sich das schlimmste Szenario vorstellte. »Möglicherweise solltest du wirklich flüchten.«
Laurel schüttelte sofort den Kopf. »Im Wald sind so viele Wachposten – wo sollte es sicherer sein als hier?« Sie wandte sich an ihre Mutter. »Ich weiß, dass du mich beschützen willst, aber ich muss etwas Wichtiges tun und davon hängt die Sicherheit von Tausenden von Elfen in Avalon ab. Falls Shar und Aaron Klea wirklich nicht aufhalten können, dann muss ich hier sein, um es zu tun. Ich kann nicht davor weglaufen. Ich möchte ihnen einfach …«
Laurels Mutter lächelte sie mit Tränen in den Augen an.
»Ich möchte ihnen einfach helfen.« Laurel hob hilflos die Schultern.
»Wir können dir das nicht ausreden, stimmt’s?«, fragte ihr Vater.
Da sie Angst hatte, ihre Stimme würde zittern und ihr Vater würde es ausnutzen, um es eben doch zu versuchen, schüttelte sie den Kopf.
»Andererseits wäre es vielleicht gut, wenn ihr beide ohne Laurel wegfahrt«, schlug Tamani vor. »An euch ist Klea bestimmt nicht interessiert, aber Laurel wüsste wenigstens, dass euch nichts passieren kann.«
Laurels Mutter warf ihrer Tochter einen Blick zu. »Wenn Laurel bleibt, gehen wir auch nicht weg.«
Tamani nickte.
Ihr Vater stand seufzend auf. »Ich muss duschen. Dabei denke ich nach. Danach können wir uns einen Plan überlegen.«
»Ich muss David anrufen«, sagte Laurel und griff nach dem Telefon, als ihr Vater nach oben ging.
»Warum muss David immer und überall dabei sein?«, murmelte Tamani, der unruhig durch den Raum tigerte.
»Vielleicht, weil er denkt, dass er gleich eine Schicht übernehmen muss?«, erwiderte Laurel spitz und wählte Davids Nummer. Tamani holte sein Handy heraus.
»Er hat ein iPhone?«, flüsterte Laurels Mutter, als Laurel es bei David zum zweiten Mal klingeln hörte.
Laurel nickte. »Das habe ich mir als Munition für die nächste Diskussion über ein Handy für mich aufgespart.«
Ihre Mutter schwieg, während Laurel Davids Mailboxansage hörte. »Haben sie denn Empfang? Ich meine, in Avalon?«, fragte ihre Mutter dann.
Laurel zuckte die Achseln und hinterließ eine kurze Nachricht auf Davids Mailbox. Er sollte sie anrufen, sobald er wach wurde. Sie erwog, ihn zu Hause auf dem Festnetz anzurufen, doch sie wollte seine Mutter nicht wecken. Schließlich war es gerade erst sieben Uhr morgens. Das würde warten müssen.
Wie alles andere auch.
Tamani ließ die Hand in der Hosentasche und schlenderte durch die Küche, immer hin und her, bis Laurel glaubte, gleich schreien zu müssen.
»Möchtest du vielleicht einen Tee, Tamani?«, fragte ihre Mutter schließlich leicht genervt. Im Haus der Sewells war es nicht üblich, ziellos hin und her zu laufen. »Oder willst du dich … ein bisschen säubern?«
»Säubern?« Tamani sah sie verwirrt an, bevor er sein zerrissenes Hemd und die Kratzer auf seinen Armen betrachtete, die nicht mehr nässten, aber noch vor Pflanzensaft glänzten. »Keine schlechte Idee«, sagte er zögernd.
»Und wie wär’s mit etwas zu Essen?«, schlug Laurel vor. »Beim Stand der Dinge könntest du doch auch wieder etwas Grünes essen«, fügte sie mit einem gezwungenen Lachen hinzu. Tamani hatte seine Lieblingsspeisen gemieden, damit sich seine Augen und Haarwurzeln nicht verräterisch verfärbten. Im Nachhinein betrachtet, war es völlig sinnlos gewesen. Yuki hatte von Anfang an gewusst, was er war.
Tamani nickte ruckartig. »Ja, danke. Gerne Brokkoli, wenn ihr habt.«
»Ich hole dir ein T-Shirt von oben«, sagte Laurels Mutter.
»Vielen Dank«, sagte Tamani, doch er hatte nur Augen für sein Handy. Es sollte endlich klingeln.
Wie betäubt nahm Laurel ein Messer, um den Brokkolistrunk klein zu schneiden, den sie aus dem Kühlschrank geholt hatte.
Tamani legte den Kopf schief und lauschte den Schritten von Laurels Mutter, die die Treppe hinauf und in ihr Zimmer ging. Dann sackte er auf dem Barhocker zusammen und fuhr sich stöhnend durch die Haare.
Laurel legte mehrere Röschen auf einen Teller und reichte ihn ihm. Tamani nahm den Teller mit der einen Hand und griff mit der anderen nach ihrer. Dabei sah er sie so leidenschaftlich an, dass es ihr den Atem verschlug. Langsam stellte er den Teller auf den Tresen und zog sie an sich.
Laurel schmiegte sich an seine Brust und klammerte sich an die Reste seines Hemdes. Er vergrub die Hände in ihrem Haar, legte sie um ihre Taille und drückte die Finger fast zu fest in ihren Rücken.
»Ich dachte wirklich, es wäre aus mit uns«, flüsterte er ihr ernst ins Ohr. Als sie seine Lippen auf ihrem Hals spürte, dann auf ihren Wangen und ihren Lidern, wich sie nicht zurück. Und als er sie küsste, hungrig und verzweifelt, erwiderte sie den Kuss mit Feuer und Leidenschaft. Erst jetzt, da sie die Verzweiflung hinter seinem Begehren spürte, wurde ihr klar, wie knapp sie dem Tod entronnen waren. Seit Barnes ihn angeschossen hatte, hatte Laurel nicht mehr erlebt, dass Tamani einen Kampf verloren hatte, und sie klammerte sich zitternd an ihn. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie so eine Angst um ihn gehabt hatte.
Laurel strich zartfühlend über die Wunde auf Tamanis Wange, zog die Finger jedoch schnell zurück, als er an ihrem Mund vor Schmerz die Luft einsog. Doch er riss sich nicht los. Im Gegenteil, er zog sie noch näher an sich heran. Sie wünschte, sie hätten alle Zeit der Welt, sich in diesen Küssen zu verlieren und zu vergessen, dass Shar da draußen irgendwo um ihrer aller Leben kämpfte.
Schließlich löste er sich von ihrem Mund und schmiegte seine Stirn an ihre. »Danke«, sagte er leise. »Ich … ich brauchte dich gerade ganz schrecklich.«
Laurel flocht ihre Finger in seine. »Ich glaube, ich dich auch.«
Tamani sah ihr tief in die Augen und streichelte ihr Gesicht mit dem Daumen. Seine Verzweiflung war einer sanften Ruhe gewichen und er strich vorsichtig mit dem Mund über ihren, wie er es so oft mit den Händen getan hatte. Laurel beugte sich vor, sie wollte mehr. Sie wollte ihm zeigen, dass es noch lange nicht genug war. Laurel schaltete alles aus, sie wollte nicht mehr lauschen, ob ihre Mutter oder Chelsea die Treppe hinunterkamen. Nichts zählte außer Tamanis Atem auf ihren Wangen.
Erst als das Telefon klingelte, wurde ihr die Welt wieder bewusst. Es klingelte weiter, doch sie musste erst mal Luft holen. »Das ist bestimmt David«, flüsterte sie.
Tamani strich langsam mit dem Daumen über ihre Unterlippe. Dann ließ er von ihr ab und widmete sich dem Teller mit Brokkoli, während Laurel nach dem Telefon griff.
»Laurel!« David klang noch ganz verschlafen. »Du bist zu Hause. Hast du verpennt? Soll ich hinfahren und deine Schicht übernehmen?« Sie hörte, wie er seinen Kram sortierte und wahrscheinlich gleichzeitig in Jeans und T-Shirt schlüpfte, damit er sofort losrennen und in Aktion treten konnte.
»Nein, es ist etwas Schlimmes passiert«, sagte Laurel ruhig. Danach hörte David ihr still zu, während sie ihm alles erklärte.
»Ich komme rüber.«
»Ich glaube, hier sind schon genug gestresste Leute«, widersprach Laurel.
»Soll ich etwa hier bleiben und nichts tun? Es würde mir guttun, wenn ich wenigstens bei dir sein könnte, für den Fall der Fälle. Geht das nicht?«
Laurel unterdrückte einen Seufzer. Sie wusste genau, wie er sich fühlte, und würde sich an seiner Stelle genauso verhalten. »Gut«, sagte sie, »aber komm einfach rein, ohne zu klingeln. Chelsea schläft noch und sie hat es echt nötig.«
»Mach ich. Und, Laurel? Danke.«
Laurel legte auf und drehte sich zu Tamani um. »Er kommt rüber.«
Tamani nickte und schluckte sein Gemüse hinunter. »Das habe ich mir schon fast gedacht.«
»Wer kommt rüber?«, fragte Laurels Mutter auf halber Treppe.
»David.«
Laurels Mutter seufzte leicht amüsiert und warf Tamani ein sauberes graues T-Shirt zu. »Ich muss schon sagen, ich weiß wirklich nicht, was der Junge seiner Mutter erzählt.«