Sechsundzwanzig

Laurel sah zu, wie Tamani schwerfällig ins Frühlingsviertel hinunterwankte. Einen Arm hatte er zur Stütze um Chelseas Schultern geschlungen. Mit jeder Minute gewann er neue Kraft, doch das Serum, das seinen Körper von dem Gift reinigte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie erschöpft er war.

Sie waren alle müde. Chelsea und David hatten dunkle Ringe unter den Augen und Tamanis Körper war schon völlig zerschlagen gewesen, bevor Klea ihn vergiftet hatte. Doch Chelsea würde gut auf ihn aufpassen. Laurel wusste, dass sie sich auf ihre Freundin verlassen konnte.

»Der Junge hat was vor«, sagte Jamison zwinkernd. »Ich bin sehr gespannt.«

Laurel nickte, aber bei ihr überwog die Angst. Tamani hatte schon häufiger bewiesen, dass er sich gern für sie opferte, und sie konnte nur hoffen, dass sein Plan nicht in diese Richtung ging. Zumal sie sich nicht vorstellen konnte, was das ändern sollte. Sie zog Jamison hoch und nahm seinen linken Arm, während Yasmine ihn auf der rechten Seite stützte.

»Es fühlt sich seltsam an, dass Klea tot ist«, räumte Laurel ein, als sie langsam den Weg hinuntergingen. »Ich habe mir solche Mühe gegeben, sie zu durchschauen und mich vor ihr in Sicherheit zu bringen … und das, wie mir scheint, über ein Jahr.«

»Ich wünschte, es wäre anders für sie ausgegangen«, gestand Jamison.

»Es hat mir keinen Spaß gemacht, mich in sie hineinzuversetzen, aber nur deshalb ist mir die letzte Zutat überhaupt eingefallen«, sagte Laurel.

»Das liegt daran, dass sie einen brillanten Verstand hatte. Und, was vielleicht noch wichtiger ist, sie war für alles offen. Sie war auf eine Weise bereit, Fragen zu stellen und Antworten nachzujagen, die anderen Elfen im Traum nicht einfiele. Am Ende war es ihr Untergang, doch gleichzeitig auch ihre Erlösung.«

»Du hast einmal zu mir gesagt, ich könnte so gut werden wie jemand, dessen Namen du nicht nennen wolltest. Hast du da an sie gedacht?«

»Das ist richtig. Ich habe in den letzten fünfzig Jahren oft an sie gedacht, und daran, was Avalon an ihr verlor, als wir sie verbannten.«

Laurel zögerte und platzte dann heraus. »Wie kannst du nach dem, was sie uns angetan hat, von ihren Fähigkeiten sprechen? Wenn ich an Klea denke, sehe ich nur Tod und Elend.«

David drückte mitfühlend ihren Arm.

»Dann überleg mal, wie oft sie deine Familie und deine Freunde gerettet hat.«

»Wir waren nie wirklich in Gefahr«, widersprach Laurel, die in Gedanken bei der Nacht war, in der sie Klea erstmals begegnet waren. In jener Nacht hatte sie sie zum ersten Mal ›gerettet‹. »Sie hat uns schließlich die Orks überhaupt erst auf den Hals gehetzt. Das zählt nicht. Und auch vor Barnes hat sie uns nur gerettet, weil sie die Kontrolle über ihn verloren hatte.«

»Ist das so? Dabei hast du mir selbst erzählt, dass sie behauptet hatte, die besten Gifte und Gegengifte herzustellen. Ich liege doch nicht falsch in der Annahme, dass der Heiltrunk, den ich dir gab, deinem Vater das Leben gerettet und einigen deiner Freunde gelegentlich sehr geholfen hat.«

Laurel schnappte nach Luft, als sie an das blaue Fläschchen dachte, das zu Hause in ihrer Ausrüstung lag. »Der ist von ihr?«

Jamison nickte. »Ich habe in meinem Leben nur wenige wirklich schlechte Keimlinge gesehen. Auch wenn einige aus Neid, Gier oder selbstsüchtigem Stolz handelten, waren sie dennoch fähig zu lieben. Am Ende hat sogar Yuki zurückgefunden. Es tut mir leid, dass es Callista nicht gelungen ist, aber ich glaube immer noch, dass auch in ihr früher einmal etwas Gutes schlummerte.«

»Ja. Mhm.« Jamison hatte Laurel nicht überzeugen können. Nachdem Tamani beinahe vor ihren Augen gestorben wäre, ließ sie endgültig kein gutes Haar mehr an Klea.

Jamison schwieg. »Ich weiß nicht, ob ich noch hier bin, wenn du das nächste Mal nach Avalon kommst«, sagte er schließlich.

»Jamison …«

Er unterbrach sie. »Bitte.« Seine Miene war ungewohnt ernst. »Es ist wichtig. Sehr, sehr wichtig.« Er hielt inne und blickte sich verschwörerisch um. Dann nahm er Laurels Hände in seine und sah ihr in die Augen. »Es ist über fünfzig Jahre her, seit wir beschlossen, ein Pfropfreis in die Menschenwelt zu bringen und unseren Plan umzusetzen. Ich hatte meine Zweifel. Die Zeit war noch nicht reif. Cora würde bald dahinwelken und ich merkte bereits, was für eine Königin Marion sein würde. Doch ich wurde überstimmt. Viele Jahre später wurde uns dann eine frische Winterelfe gebracht, die gerade gekeimt war.«

Jamison legte väterlich den Arm um Yasmine, die hochblickte und ihn anlächelte.

»Ich sah auf diese winzige Winterelfe hinab – die nie herrschen sollte, weil sie nur wenig jünger war als Marion – und bedauerte es, dass ihr Potenzial verschwendet werden würde. Es war genau wie bei Callista. Und in dem Augenblick wusste ich, dass ich das nicht noch einmal zulassen durfte. Nur wenige Tage später wurden mir endgültig die beiden Kandidaten für das menschliche Pfropfreis präsentiert.«

»Mara und ich?«, fragte Laurel. Jamison nickte.

»Da merkte ich, dass ich eine der beiden jungen Mixerinnen kannte. Ich hatte sie oft in der Akademie gesehen, wenn die Gärtnerin sich um den Wintersetzling kümmerte. Die kleine Mixerin war mit dem Sohn der Gärtnerin eng befreundet.«

»Tamani?«, flüsterte Laurel.

»Ich begriff, dass darin die Lösung lag. Ein Pfropfreis – ein gutes, freundliches Pfropfreis, das jemanden in Avalon hatte, der es liebte, von Herzen liebte. Dieser Jemand würde ihr Anker sein und sie in unser Königreich zurückbringen.

Doch sie sollte nicht mit leeren Händen kommen. Ich brauchte ein Pfropfreis, das nicht auf die Menschen herabblicken, sondern sie lieben würde. Es musste ein Pfropfreis sein, dass die alten Traditionen und Vorurteile nicht übernahm, die man nur so schwer ablegen konnte, dass ich nicht einmal einem Gedächtniselixier zutraute, sie zu löschen. Wie wäre es wohl, dachte ich, wenn dieses Pfropfreis den Elfen in Avalon zeigen könnte, dass es noch eine andere Möglichkeit gab? Vielleicht wuchs in ihr eine wertvolle Beraterin des Throns heran? Konnte so vielleicht eine friedliche Revolution vorangetrieben werden – die neuen Ruhm und einen neuen Lebensgeist in unser Königreich brächte?«

»Jamison!« Laurel rang nach Luft.

»Und während dieses Pfropfreis eine andere Lebensweise erlernte, konnte ich der kleinen Winterelfe beibringen, allen Elfen in Avalon mit dem gleichen Respekt zu begegnen – und nicht nur solchen mit Macht. Und vielleicht, ganz vielleicht, würde sie ja doch auf den Thron gelangen – und ihre Chance nutzen, Avalon zu einem Ort zu machen, den ich mir heimlich erträumte.«

»Du hast das geplant!«, sagte Laurel atemlos, während sie noch versuchte, die Ausmaße von Jamisons Handlungen zu ermessen. »Du hast mich erwählt, Tamani geholfen und alles so geplant!«

»Alles nicht. Das hier nicht«, widersprach Jamison und zeigte auf die gewaltige Zerstörung, die sich ihren Blicken bot. »Niemals. Doch nach der Verbannung von Callista musste ich handeln. Ich musste einen Wandel einleiten. Das ist unser Geheimnis«, fuhr Jamison ernüchtert fort, als er von Yasmine zu Laurel und David sah. »Und jetzt ist es auch eures. Man sollte langsam vorgehen, mein nicht mehr ganz so kleiner Setzling. Die besten langfristigen Gelegenheiten bieten sich nur allmählich; ein Baum muss erst seine Wurzeln in die Tiefe strecken, bevor er ungeahnte Höhen erklimmen kann. Doch ich verspreche dir: Wenn die Zeit kommt – wenn Avalon vorbereitet ist und du dich uns anschließen willst – wird auch Yasmine so weit sein. Dann gibt es eine richtige Revolution. Eine friedliche Umwälzung, die alle Elfen in Avalon unterstützen können. Und wenn du mit Yasmine zusammenarbeitest, kann Avalon endlich zu dem werden, was wir uns immer schon erhofft haben.«

Staunend sah Laurel zu Yasmine hinunter und entdeckte in ihren leuchtenden Augen all die Güte, die sie immer an Jamison geliebt hatte.

Die Zukunft von Avalon! Laurel lächelte vor Freude. Sie sah die beiden an und nickte. Schweigend schloss sie sich ihrem heimlichen Kreuzzug an.

Als sie weitergingen, dachte Laurel über Jamisons Ausführungen nach. Was hatte er nicht alles getan! Er hatte die Samen gesät – buchstäblich und bildlich betrachtet – und eine Ernte vorausgesehen, die er vermutlich nicht mehr erleben würde. Als sie ans Tor gelangten, half Laurel Jamison wie betäubt, sich auf eine kleine Steinbank innerhalb der zerstörten Gartentore zu setzen. Yasmine nahm neben ihm Platz und ihre Am Fear-faire standen zu allen Seiten Gewehr bei Fuß.

»Ich … bin gleich wieder da«, murmelte Laurel, die ein paar Minuten Ruhe brauchte, um die Neuigkeiten zu verdauen.

Mit David im Schlepptau ging sie zurück durch die Gartentore und lief ein Weilchen, ehe sie sich an die Steinmauer lehnte und nach unten rutschte.

»Ich fasse es nicht, was er sich alles ausgedacht hat«, sagte sie leise.

»Und jetzt wird er dafür sterben, dass es Wirklichkeit werden kann.« David setzte sich neben sie auf den Boden. »Und damit wir Avalon wieder verlassen können.«

Doch Laurel schüttelte den Kopf. »Tamani wird sich etwas überlegen.«

»Hoffen wir mal.«

Sie schwiegen lange, bis die Sonne über den Horizont lugte und eine kühle Brise Laurels Haar zerzauste. Sie räusperte sich. »Die Sache mit dem Schwert tut mir leid.«

»Mir nicht.«

»Dann tut es mir eben leid, dass du so viele Orks töten musstest.«

Er antwortete nicht, doch sie wusste, wie sehr er innerlich zerrissen war.

»Es … es war aber auch toll. Du hast uns alle gerettet. Für mich bist du ein Held«, fügte sie hinzu und hoffte, dass er sich über ihr Lob freute.

Doch er lächelte nicht. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, dieses Schwert zu halten.« Er zuckte die Achseln. »Andererseits, vielleicht doch. Möglicherweise fühlt es sich so an, wenn du Magie ausübst.«

»Glaub mir, Mixen fühlt sich nicht großartig anders an als normale Hausarbeit.«

»Du fasst es an«, fuhr David fort, als hätte sie nichts gesagt. Laurel schwieg und hörte zu. Anscheinend musste er es rauslassen. »Und dann erfüllt dich die Macht. Und solange du das Schwert berührst, besitzt du diese Macht.«

Laurel dachte an den Weltenbaum und überlegte, ob das Gefühl vergleichbar war.

»Und der Rausch ist einfach unglaublich, man kann gar nicht anders … man glaubt, dass man zu allem fähig wäre.« Er betrachtete seine Hände, die er im Schoß verkrampfte. »Aber nicht einmal das unbesiegbare Schwert kann mir geben, was ich wirklich haben will.«

Als er zögerte, wusste Laurel, was als Nächstes kam.

»Wir kommen nicht wieder zusammen, oder?«

Laurel senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

Er sah sie niedergeschlagen an, doch sie sagte nichts.

»Ich wünschte«, antwortete Laurel schließlich zögernd, »ich wünschte, man könnte es irgendwie so drehen, dass niemand verletzt wird. Und es ist sehr schwer für mich, dass es ausgerechnet von mir ausgeht.«

»Trotzdem ist es besser, wenn ich es weiß«, sagte David.

»Ich wusste es selbst nicht«, erwiderte Laurel. »Nicht genau. Erst, als ich ihn beinahe verloren hätte.«

»Nun, nachdem man dem Tod ins Auge gesehen hat, relativiert sich so einiges«, sagte David und lehnte sich wieder an die Mauer.

»David.« Laurel suchte die richtigen Worte. »Denk bitte nicht, du hättest irgendetwas falsch gemacht oder du wärest nicht gut genug für mich. Du warst als Freund perfekt. Immer. Du hättest alles für mich getan und das wusste ich auch.«

David blieb sitzen, doch er mied ihren Blick.

»Und ich weiß nicht«, fuhr Laurel fort, »ob es das für dich schlimmer oder besser macht, aber ich habe dich sehr geliebt – ich habe dich schrecklich gebraucht. Etwas Besseres als du hätte mir in der Highschool nicht passieren können. Ich weiß wirklich nicht, was ohne dich aus mir geworden wäre.«

»Vielen Dank«, sagte David, als würde er es ernst meinen. »Außerdem – es ist ja nicht so, als hätte ich es nicht kommen sehen. Ich meine, ich hatte gehofft, dass es nicht so wäre, aber …«

Laurel konnte ihn nicht ansehen.

»Ich denke, Tam ist der Einzige auf der ganzen Welt, der dich so sehr liebt wie ich«, schloss David zähneknirschend.

Laurel nickte, schwieg jedoch dazu.

»Heißt das, du bleibst hier bei ihm?«

»Nein«, antwortete Laurel so entschieden, dass David überrascht aufsah. »Ich gehöre nicht hierhin, David. Noch nicht. Irgendwann vielleicht. Falls – nein, wenn Yasmine Königin wird, braucht sie mich, aber jetzt braucht Avalon vor allem jemanden in der Welt der Menschen. Du hast Jamison ja gehört. Jemand muss sie daran erinnern, wie großartig die Menschen sind. Wie wundervoll ihr seid. Und genau das werde ich tun.«

»Laurel?«

Seine Stimme hatte einen verzweifelten Unterton, einen tiefen Kummer, von dem sie wusste, dass sie dafür verantwortlich war. »Ja?«

Er schwieg so lange, dass sie schon glaubte, er wollte lieber doch nichts sagen, doch dann sprudelte es aus ihm heraus. »Wir hätten es schaffen können. Wäre … wäre er nicht gewesen, hätte alles gepasst. Wir wären zusammen geblieben, bis an unser Lebensende. Das glaube ich wirklich.«

Laurel lächelte traurig. »Ich auch.« Sie warf sich in Davids Arme und schmiegte ihre Wange an seine warme Brust, wie sie es unzählige Male getan hatte. Doch diesmal war das Gefühl noch tiefer, als er sie umarmte und an sich drückte. Und obwohl sie sich wahrscheinlich bis zu ihrem Schulabschluss noch täglich sehen würden, wusste sie genau, dass dies der Abschied war.

»Danke«, hauchte sie. »Für alles.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Er war noch weit weg, doch sie begriff sofort, dass Tamani sich allein auf dem Weg zu ihnen vorkämpfte, obwohl er kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Während sie ihn beobachtete, kam er ins Straucheln und konnte sich gerade noch fangen.

Laurel holte scharf Luft und sprang auf. »Ich muss ihm helfen«, sagte sie.

David sah ihr in die Augen und hielt ihrem Blick mehrere Sekunden stand, ehe er nach unten schaute und nickte. »Geh«, sagte er. »Tam braucht dich.«

»David?«, erwiderte Laurel. »Manchmal …« Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie Chelsea es formuliert hatte. »Manchmal sind wir so auf etwas versessen … auf jemanden fixiert … dass wir nichts anderes mehr wahrnehmen. Es könnte sein … dass es an der Zeit ist, die Augen zu öffnen und dich umzusehen.«

Nachdem sie diese Botschaft an den Mann gebracht hatte, lief Laurel zu Tamani, ohne noch einmal zurückzublicken.