Siebzehn

Der rote Tod kam langsam, ganz langsam, in qualmenden Ranken, die lebendiger wirkten als banales Gas. Es wand sich um seine Opfer und suchte sich zuerst die einfache Beute, die bewusstlosen Elfen, die am Boden lagen.

Ich muss sie retten! Laurel war so verzweifelt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Als sie zu den liegenden Elfen stürzen wollte, versperrte Tamani ihr den Weg. »Das geht nicht, Laurel.«

Sie wehrte sich, so sehr wollte sie den hilflosen Elfen helfen. Doch Tamani schlang seine starken Arme um ihre Taille und David streichelte tröstend ihr Gesicht. Beide versuchten, sie zu beruhigen.

»Laurel«, flüsterte David. »Stopp.« Er sprach so sanft, und doch erstarrte sie, als hätte er sie angeschrien. »Wir müssen nachdenken«, fügte er hinzu. Schließlich fasste Laurel sich so weit, dass sie ruhig stehen blieb.

Jeder, der es irgendwie schaffte, stand auf einem der Tische in den Ecken des großen Raumes. Alle waren zu Tode erschrocken. Das Feuer blockierte die Ausgänge, und überall, wo die Flammen nicht hinreichten, drang das Gift in jede Ritze. Laurel spürte die Verachtung, mit der Klea jedes Detail ihres ausgeklügelten Angriffs geplant hatte. Diese Elfen waren ihre Lehrer, ihre Freunde, ja, ihre Familie gewesen. Doch daran, wie sie sich heute verhalten hatte, konnte man sehen, dass sie ihnen den Tod wünschte. Mehr noch, sie wollte, dass sie starr vor Angst starben.

Auf einmal war Laurel stinkwütend. Die Orks konnten sie getrost vergessen, denn das größte Ungeheuer in Avalon war Klea.

Laurel riss sich von David los und ging zu einer Elfe, die nur noch wenige Schritte von dem schleichenden Qualm entfernt lag. Laurel schob ihr die Arme unter die Achseln und schleppte sie rückwärts aus der Gefahrenzone.

Als Tamani ihre Hand nahm, zog sie sie weg. Beim zweiten Mal hielt er sie richtig fest. »Was tust du denn da, Laurel? Wohin willst du sie bringen?«

»Das weiß ich nicht!«, rief Laurel, der vor Wut die Tränen kamen. »Einfach nur weg von diesem Zeug!« Sie machte weiter und zog noch eine Elfe aus dem roten Dunst. Letztendlich würden sie alle sterben, doch Laurel konnte es nicht zulassen, dass es jetzt schon geschah, da sie ihr Leben noch verlängern konnte. Dann packte sie eine dritte Elfe an den Schultern und schleppte sie zu der ersten.

Tamani nickte und tat es ihr nach. Doch noch während er einen Elf hochhob, schlängelte sich das rote Gas näher an sie heran. Zentimeter für Zentimeter bedeckte es den Eingang zum Speisesaal und kroch weiter in den Raum hinein. Da es nunmehr in Strömen durch die offenen Oberlichter quoll, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Boden ein tödlicher roter Sumpf sein würde.

Als Chelsea und David einen anderen Elf auf einen Tisch hievten, folgten auch die Herbstelfen Laurels Beispiel und zogen die Verwundeten und Gefallenen heraus, bis ein Streifen nackten Steins den Qualm von seinen potentiellen nächsten Opfern trennte.

Als David einen weiteren Elf in Sicherheit bringen wollte, legte Tamani ihm eine Hand auf die Brust. »Du musst das Schwert verrücken.« Der Rauch war nur noch wenige Zentimeter von der Wunderwaffe entfernt, die in den Marmorfliesen steckte. »Wir dürfen es nicht verlieren.«

Mit einem Nicken wollte David es holen, doch plötzlich riss er die Augen auf. »Moment!«, sagte er und packte Tamanis Arm. »Das Schwert! Laurel! Was ist hinter dieser Wand?«, schrie er und zeigte auf eine Wand am hinteren Ende des Speisesaals.

»Gärten und so«, keuchte Laurel, ohne in ihrem Bemühen innezuhalten, eine weitere Elfe aus der Gefahrenzone zu ziehen.

»Sonst nichts? Gibt es da nichts, was überhängt oder hervorsteht?«, fragte er.

»Direkt dahinter schließen die Gewächshäuser an«, teilte Caelin ihm mit, der David interessanterweise direkt ansprach.

»Super«, sagte David wie zu sich selbst. »Dort können wir uns verstecken.«

»Aber wie sollen wir denn dahin kommen?«, fragte Caelin verzweifelt. »Es gibt keine Tür.«

»Danke«, entgegnete David und zog Excalibur aus dem Marmor. »Ich ziehe es vor, meine eigenen Türen zu schaffen.«

Mit diesen Worten lief er zu der Wand, beugte kurz den Kopf wie im Gebet und hob das Schwert. Er rammte es tief in den Stein. Tränen der Hoffnung stiegen Laurel in die Augen, als sie zusah, wie er eine lange senkrechte Linie hineinschnitt. Nach zwei weiteren Schnitten drang bereits Licht durch die Wand.

»Helft mir, sie aufzudrücken!«, rief David. Die Elfen stiegen vorsichtig über die Bewusstlosen, die sie in die Ecken gezogen hatten, hinweg. Sie schoben, so fest sie konnten, während David am unteren Ende einen letzten Schnitt machte. Dann gab die Steinplatte mit leisem Knarren nach und fiel aus der Wand. Das Licht der untergehenden Sonne schien in den Speisesaal.

Die nächste Viertelstunde war wie ein Albtraum im Schnelldurchlauf. Laurel taten die Arme weh, als sie eine Elfe nach der anderen durch den schmalen Durchgang in eins der zahlreichen Gewächshäuser schleppte. Ihre Beine, die von der stundenlangen Flucht vor den Orks bereits erschöpft waren, wollten sie nicht länger tragen. Doch jede Elfe, die hinausgebracht wurde, bedeutete einen überlebenden Mixer mehr.

Einmal hielten alle Elfen vor Schreck den Atem an, als das rote Gift über den Rand des Daches über dem Speisesaal auf das durchsichtige Dach des Gewächshauses troff, doch die Versiegelung hielt stand und die Elfen waren in Sicherheit.

Alle waren von der Schlepperei schweißüberströmt – wahrscheinlich eine neue Erfahrung für die meisten Elfen –, aber sie konnten sich keine Pause erlauben. Die Zeit war knapp, denn das überquellende Gas bedeckte mittlerweile fast den gesamten Boden des Speisesaals, während es immer weiter von oben durch die Oberlichter fiel – und zwar nicht mehr in dünnen Strängen, sondern in Schwallen, die so breit waren wie die Fenster dort oben.

»Wir müssen aufhören«, befahl Yeardley schließlich.

»Eine noch«, widersprach Laurel atemlos. »Eine schaffe ich noch.«

Yeardley prüfte die Lage und nickte. »Jeder holt noch einen raus, aber dann müssen wir das Loch wieder schließen. Sonst war alles umsonst.«

Laurel lief zu der nächstgelegenen Gruppe bewusstloser Elfen. Um eine letzte zu retten, musste sie sie gute sechs Meter weit ziehen. Mit schmerzenden Armen sicherte sie die Elfe, die ihr am nächsten war, obwohl es ihr in der Seele leidtat, die anderen, die doch ebenfalls in Reichweite lagen, nicht mitnehmen zu können.

Als sie sich umdrehte, fiel gerade ein neuer Gasschwall von oben herab und versperrte ihr die Sicht auf den Ausgang. Sobald das rote Gift auf dem Boden auftraf, breitete es sich so schnell aus, dass die zarten Ranken Laurel gefährlich nahe kamen. Sie musste sich nach links fallen lassen, sonst wäre sie getroffen worden.

Laurel biss die Zähne zusammen und hievte die Elfe wieder hoch. Sie musste hier raus. Aber schnell!

Sie schleppte die Elfe um das herabstürzende Gas herum, obwohl ihre Beine nicht mehr mitspielen wollten. Als sie wieder nach vorn sah, war der Weg frei. Noch vier Meter. Drei. Sie konnte es schaffen.

Dann verfing sie sich mit den Füßen in etwas und stolperte. Sie verletzte sich am Ellbogen, als sie hart aufkam, und sah schnell nach, was im Weg gelegen hatte.

Es war Mara.

Sie hatte offenbar hier gearbeitet und war von der Hitze und dem Rauch ohnmächtig geworden, bevor die Oberlichter geöffnet worden waren.

Laurel warf einen Blick zurück. Das Kriechgas war nur noch wenige Zentimeter von Maras Füßen entfernt.

Ich lasse dich nicht sterben.

Nach einem weiteren kurzen Blick zum Ausgang, packte Laurel Maras Arm – sie wollte beide Elfen retten, es musste einfach klappen! Ihre Arme zitterten vor Erschöpfung, während sie sich Schritt für Schritt weiter schleppte. Noch ein wenig! Doch dann taumelte sie rückwärts und musste sich umdrehen, um besser zupacken zu können. Die ganze Zeit wurde sie von anderen Elfen, die nicht den ganzen Tag gerannt und geklettert waren, mit ihrer jeweiligen Last überholt. Der Rauch, der weiterhin in der Luft hing, reizte ihre Kehle und ihre Lunge – sie war ihm wirklich zu lange ausgesetzt gewesen. Gleichzeitig kam der Nebel immer näher, Laurel war nicht mehr schneller als er.

Sie oder du. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, und obwohl es möglicherweise sogar stimmte, schüttelte sie den Kopf und zerrte die beiden Elfen noch ein wenig weiter.

Ich schaff’s nicht. Doch, ich schaffe es! Noch ein Blick zum Ausgang. Er war so nah und doch so fern. Als sie mit letzter Kraft zog, blickte sie gerade noch rechtzeitig hoch, um eine Woge des Gases zu sehen, die vom Oberlicht auf sie herabquoll. Das Gift kroch kräuselnd auf sie zu.