Zweiundzwanzig
Nachdem Tamani Laurel nachgesehen hatte, bis sie im Wald verschwunden war, konzentrierte er sich auf Klea. Er war kurz davor, seinen Speer zu nehmen und kurzen Prozess zu machen. Doch sie hatte sie in die Enge getrieben und das wusste sie auch. Klea lag auf dem Rücken, eine Hand im Nacken, und wirkte wie ein müßiger Sterngucker – wenn sie nicht die Faust auf ihrer Brust geballt hätte. Sie versuchte nicht einmal, den Wurzeln zu entkommen, die sie zu seiner Freude noch gefangen hielten.
David kauerte neben Jamison und versuchte, ihn in eine natürlichere Lage zu bringen. Nachdem er seine Atmung kontrolliert hatte, hatte er Tamani den gereckten Daumen gezeigt, doch selbst die Nachricht, dass der Winterelf lebte, konnte sie kaum aufheitern, so hoffnungslos erschien ihnen alles.
Tamani behielt Klea im Auge, denn er hatte große Angst, dass sie den Viridefaeco-Trank allein einnehmen würde, sobald sie ihr den Rücken kehrten. Doch es schien so, als würde sie sich mit dem Warten zufriedengeben.
Wenn es möglich gewesen wäre, verhielten sich die Elfensoldaten noch harmloser als ihre Anführerin. Mit erschlafften Mienen hingen sie in ihren Fesseln. Die sonderbaren Elfen hatten Tamani verstört, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Er warf Klea einen Blick zu. »Was haben die eigentlich?«, fragte er steif.
Klea hob den Kopf und lächelte leise. »Die haben nichts. Sie sind perfekt.«
»Das sind keine richtigen Elfen.« Tamani legte endlich den Finger auf die Wunde. »Sondern leere Hülsen.«
»Wie gesagt: perfekt.«
»Das ist dein Werk?«
»Genetik, Tamani. Ein faszinierendes Thema.« Dann wandte sie sich ab. Das Gespräch war beendet.
»Es ist ganz egal, wann Laurel zurückkommt«, sagte David leise, der sich wieder zu Tamani gesellt hatte, nachdem er für Jamison nichts mehr tun konnte. Er zeigte auf die Erde. Dort, wo Kleas Messer lag, hatte das restliche Gift auf der Klinge das Gras geschwärzt und das tödliche Schwarz breitete sich aus wie plötzlicher Sonnenschein. »Wenn wir das hier nicht stoppen können, wird Kleas Gegengift auch nichts mehr nützen.«
»Ich wüsste nicht, was wir machen könnten«, sagte Tamani und senkte den Blick. Am liebsten wäre er aufgesprungen und Laurel gefolgt. Doch selbst wenn Klea ihm nicht diese Pest angehängt hätte, hatte er nicht die geringste Aussicht, etwas zum Guten zu wenden. Und Laurel hatte doch nicht wirklich vor, Klea zu helfen, oder?
Nein, selbstverständlich nicht. Sie würde schon das Richtige tun.
Falls es das Richtige überhaupt gab.
Als David auf einmal Excalibur bis zum Heft in die Erde rammte, hob Tamani den Kopf. David zog das Schwert wie einen Pflug durch den Boden.
»Was machst du da?«, fragte Tamani.
»Ich ziehe einen Graben«, antwortete David.
»Verstehe ich nicht«, sagte Tamani verwirrt.
»Wir können das Gift nicht aufhalten«, erwiderte David, »aber so muss es wenigstens bis zu den Graswurzeln hinunter, bevor es sich weiter ausbreiten kann. Das zögert es ein wenig hinaus.«
Tamani lächelte leicht verkniffen. »Brillant.«
David grinste zurück und grub weiter.
»Tam?«
Yukis Stimme war leise und rau. Sie war unter sichtlichen Anstrengungen aufgestanden, doch bereits nach wenigen Schritten hatten ihre Beine sie nicht länger getragen. Tamani robbte vor, um sie aufzufangen, und zog sie an sich, um ihren Fall abzudämpfen. Er war erstaunt, wie viel Energie es ihn kostete, sie nur sanft hinzulegen. Er war sofort außer Atem, dabei hatte er gar nicht viel abbekommen – im Gegensatz zu Yuki, die schwer verletzt war und auch ohne Gift in Lebensgefahr schwebte.
»Es tut mir so leid, Tam. Alles.« Eine Träne glänzte im Mondlicht und lief ihr über die porzellanweiße Wange. Sie schniefte und wandte furchtsam den Blick ab, um abgerissen Luft zu holen. »Ich wusste das nicht.« Sie zögerte. »Ich hatte einfach nicht verstanden, wie sehr sie …«
»Yuki …«
»Als ich das Feuer in der Akademie gesehen habe, dachte ich … ich hatte solche Angst …«
»Yuki, bitte.« Er wollte nicht daran erinnert werden, wie sehr er sich dort gefürchtet hatte.
»Ich will … ich kann nicht mit der Vorstellung sterben, dass du mich hasst.«
»Schhh«, sagte Tamani, wischte ihr die Träne von der Wange und hinterließ eine zart glitzernde Spur von Blütenstaub. »Ich hasse dich nicht, Yuki. Ich …« Er stockte. Wie sollte er sich ausdrücken?
»Weißt du noch, nach dem Ball? Als wir zu deiner Wohnung gefahren sind?«
Tamani hätte am liebsten die Augen zugekniffen. Meinte sie, dass er sie angelogen hatte? Nach dem Ball, als er sie so fürchterlich verraten hatte? Oh ja, daran konnte er sich gut erinnern.
»Ich wollte alles gestehen. Ich wollte zu euch überlaufen und euch im Kampf gegen Klea helfen. Du hattest recht – ich hatte immer schon Angst vor ihr. Aber in dieser Nacht hast du mir das Gefühl gegeben, ich wäre stark. Als könnte ich alles tun, was ich wollte. Und das hatte ich vor, ich wollte es versuchen.«
»Ich weiß«, entgegnete Tamani leise. Er zog sie so an sich, wie er es erst am Vorabend beim Tanzen getan hatte, als sie noch ihr Ballkleid trug. Doch diesmal meinte er es ernst. »Es tut mir leid, dass ich dich nicht habe reden lassen.«
»Du hast nur deinen Job gemacht«, flüsterte Yuki. »Als David mich in diesen Kreis gestellt hat, war ich so wütend … ich hätte einfach trotzdem tun sollen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich hätte mit euch zusammenarbeiten sollen. Auch vom Kreis aus hätte ich mit euch reden können. Ich habe es nur nicht getan, weil ich so sauer war.«
»Mit Recht«, sagte Tamani. »Ich habe gemerkt, dass du dich in mich verliebst hast, und habe es gegen dich verwendet. So etwas Schreckliches habe ich noch nie getan.«
»Psst.« Yuki legte einen Finger auf seine Lippen. »Ich will keine Entschuldigungen von dir hören.« Ihre Stimme wurde immer leiser. Wollte sie möglichst wenig Energie verschwenden oder konnte sie einfach nicht mehr? »Ich möchte nur hier liegen und so tun, als hätte ich von Anfang an alles richtig gemacht. Als hätte ich dir vertraut und rechtzeitig mit euch zusammengearbeitet. Ich möchte mir vorstellen, dass die vielen hundert Elfen nicht gestorben sind, weil ich stark genug war, um mich gegen Klea aufzulehnen. Und dass … dass du und ich eine Chance gehabt hätten.«
Tamani verkniff sich den naheliegenden Protest und streichelte Yukis dunkles üppiges Haar. Auch wenn er Yuki in den Armen hielt, war er in Gedanken bei Laurel. Würde er sie je wiedersehen? Würden sie sich je wieder so küssen, so zärtlich miteinander sein, so glücklich wie damals in der Hütte? Aber nein – auch wenn er so lange lebte, bis sie wiederkam, würde er sie nie wieder berühren.
Tamani hatte gar nicht gemerkt, dass er vor sich hin summte, bis Yuki sich von ihm löste und fragte: »Was ist das?«
»Was? Oh, das … das ist ein Gute-Nacht-Lied. Meine Mutter hat es mir immer vorgesungen; es war ihr Lieblingslied.«
»Ein Lied der Elfen?«
»Das habe ich jedenfalls immer gedacht«, erwiderte Tamani mit einem traurigen Lächeln.
»Sing es mir vor«, bat Yuki und schmiegte sich in seine Arme.
In der dunklen Nacht schienen David, Klea und ihre Soldaten zu verblassen, als Tamani leise und stockend ein Lied über Camelot sang, das er auf den Knien seiner Mutter gelernt hatte. Er kannte den Text auswendig, doch beim Singen hatte er das Gefühl, die Worte zum ersten Mal zu hören.
Und als der Mond am Himmel steht,
Jeder sein Korn zu Bündeln dreht,
Ein Flüstern durch die Runden geht
Über die Lady von Shalott.
Sein Blick traf Yukis hellgrüne Augen, in denen wieder Tränen standen. Ihr Kinn zitterte vor Schmerzen und auch vor Reue. Tamani wusste genau, wie sie sich fühlte. Er wünschte, das Lied könnte sie wirklich in den Schlaf lullen und ihr Leben könnte verebben, während sie träumte – von einem Ort, wo der Schmerz sie in Ruhe ließ. Der Tod war ihm nicht fremd, doch obwohl er Freunde hatte sterben sehen – häufiger als er sich erinnern wollte –, hatte er niemanden im Arm gehalten, bis das Leben aus den Augen gewichen war. Es machte ihm Angst.
Doch er würde Yuki nicht verlassen. Sie sollte es nicht allein erleiden.
Lancelot sann, kurz verlegen,
»Hübsch ist sie«, meint er dann verwegen,
»Jetzt hab’ sie der Göttin ew’gen Segen,
Die Lady von Shalott.«
»Lord Alfred Tennyson«, sagte Klea, als Tamani aufhörte zu singen. Er hob ruckartig den Kopf, als hätte sie den Zauber gebrochen. Sogar David hatte nicht weitergegraben, solange Tamani gesungen hatte, und warf Klea einen finsteren Blick zu, bevor er sich wieder seinem Graben zuwandte.
»Aber der Text wurde von einem Schmierfink von Funkler zensiert, würde ich sagen«, fügte Klea ausdruckslos hinzu.
Falls Yuki ihren ätzenden Kommentar gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Hand lag entspannt auf Tamanis Arm.
»Tam?«
»Ja?«
»Kann das hier irgendwie noch gut ausgehen?«
»Irgendeine Möglichkeit gibt es immer«, zwang er sich zu antworten. Doch im Grunde konnte er sich nicht vorstellen, dass Yuki und er den nächsten Sonnenaufgang noch erlebten. Das Gift war einfach zu stark.
Yuki lächelte ermattet und sah dann zu Klea hinüber, die wieder in die Sterne guckte. Tamani spürte, wie viel Angst sie immer noch vor ihrer Ziehmutter hatte. »Ich will nicht mehr, dass sie gewinnt. Und ich kann dafür sorgen, dass es nie im Leben geschieht.«
»Du darfst Klea nicht umbringen«, sagte Tamani, obwohl er schwer in Versuchung war, es Yuki zu gestatten. Doch er zwang sich, Laurel zu vertrauen und diese Entscheidung ihr zu überlassen.
Yuki schüttelte auch schon den Kopf. »Ihr Plan kann nur aufgehen, wenn sie die Winterelfen in ihre Gewalt bringt. Wenn ich sterbe, wird sie die anderen töten, sodass hier alle auf sie angewiesen sind. Selbst wenn Laurel eine Möglichkeit findet … Ihr werdet immer von ihr abhängig sein. Das ist ungerecht. Ich … ich hätte schon viel eher etwas tun sollen. Aber vielleicht kann ich es hiermit wieder gutmachen.« Ihr Blick war auf einen fernen Punkt gerichtet, doch dann war sie wieder im Hier und Jetzt und sah Tamani konzentriert an. »Hast du irgendwas aus … Metall dabei?«
»Metall?«, fragte er verwirrt zurück.
»Es muss passen«, sagte sie, als wäre damit alles klar.
»Äh … ich sehe mal nach.« Er hielt sie weiter mit einer Hand an sich gedrückt und schob mit der anderen sein Hosenbein hoch, um ein kleines Wurfmesser aus einer verborgenen Scheide zu ziehen. »Geht das auch?«
Yuki nahm ihm das Messer aus der Hand. »Perfekt.« Ihr Atem war flach und schnell. Als sie sprach, liefen ihr die Tränen über die Wangen und ihre Stimme zitterte. »Ich werde jetzt sehr viel Kraft brauchen. Ich … weiß nicht, wie lange ich danach noch durchhalten kann.«
»Sag so was nicht«, flüsterte Tamani.
»Nein, ich weiß es. Ich spüre es.« Sie zitterte am ganzen Körper und biss die Zähne zusammen, um nicht laut zu schluchzen. »Lass mich bitte nicht allein. Halt mich fest, bis ich gestorben bin.«
»Was hast du bloß vor?«
»Shokuzai«, sagte Yuki und hielt das kleine Messer mit beiden Händen fest. »Ein Sühneopfer.« Ein warmes Leuchten schien durch ihre Finger und Tamani sah nervös zu Klea, die sie mit schmalen Augen beobachtete. Obwohl Tamani glaubte, dass er ihr genügend die Sicht versperrte, legte er zur Sicherheit noch eine Hand auf Yukis, um das sonderbare Licht zu verdecken.
Als Yuki scharf Luft holte, legte Tamani die Stirn an ihre Schläfe. Sie furchte die Brauen und ihre Hände verkrampften sich. Tamani fühlte sich wie damals in der oberen Etage des Winterpalastes. Die Kraft, die Yuki ausstrahlte, war ungeheuer stark. Seine Intuition mahnte ihn, aufzuspringen und wegzulaufen, doch er hielt durch, bis das Gefühl nachließ. Auch das Licht wurde dunkler und dunkler, sodass es bald vom Sternenlicht überstrahlt wurde.
Tamani löste sich ein wenig von Yuki und betrachtete sie. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht aschfahl. Sie war doch nicht etwa schon tot? Doch dann hob sie mühsam die Lider. »Reich mir die Hände.«
Tamani gehorchte ihrem schwachen Flüstern und obwohl er innerlich vor Angst bebte, gelang es ihm, äußerlich nicht zu zittern. Was hatte sie getan?
Yuki legte etwas Warmes in seine Hand. Was es auch sein mochte – ein Messer war es nicht mehr. Tamani musterte es und versteckte es gut vor Kleas neugierigen Blicken. Allerdings hatte er keine Ahnung, was es sein sollte. »Was ist das?«
Yuki zog sanft seinen Kopf näher heran und gab ihm mit letzter Kraft Anweisungen für den Gebrauch des Gegenstands, den sie gerade gebildet hatte. Als ihm klar wurde, was er damit alles tun konnte, holte er tief Luft und schloss die Finger über ihrem unendlich kostbaren Geschenk.
Doch dann überkam ihn erneut die Verzweiflung. »Wie soll ich es denn nutzen? In einer Stunde bin ich tot!«
Yuki schüttelte den Kopf. »Laurel wird dich retten«, sagte sie trotz ihrer Tränen mit fester Stimme. »Ich bin es, deren Zeit abgelaufen ist.«
»Halt durch«, sagte Tamani und drückte sie fester an sich. Wenn er doch nur so sehr an seine Zukunft glauben könnte wie sie!
»Nein«, erwiderte Yuki mit einem traurigen Lächeln. »Ich habe nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Du schon.«
»Tu’s nicht …« Was sollte sie nicht tun? Tamani wusste nicht, was er eigentlich meinte, und begriff zum ersten Mal, wie unzulänglich Worte sein konnten.
»Aishiteru«, seufzte sie. Während sie es sagte, senkte sich ihre Brust. Sie rührte sich nicht mehr.
»Yuki. Yuki!«
Doch sie antwortete nicht.
Auf einmal hatte Tamani wieder große Angst und sah zu Klea und ihren Soldaten herüber, weil er dachte, ihre Fesseln würden nach Yukis Tod verschwinden. Aber nichts geschah. Yuki hatte dafür gesorgt – irgendwie –, dass Tamani in Sicherheit war, obwohl sie gestorben war. Allmählich kam er zu der Überzeugung, dass sie auf ihre Weise genauso gut vorausplante wie Klea.
Er ließ ihren Körper hinabgleiten, bis ihr Kopf auf seinem Schoß ruhte. Es gab keinen Grund, warum er sie woanders hätte hinlegen sollen. Er konnte nirgends hingehen und nichts tun, bevor Laurel zurückkam. Vorausgesetzt, dass er so lange lebte.
Konnte er so lange durchhalten? Er musste es versuchen.
War Yuki an dem Gift gestorben? Oder an ihrer letzten Handlung als Winterelfe – der Erschaffung eines Meisterwerks, das den goldenen Toren Konkurrenz machte, für deren Erfindung Oberon sein Leben gelassen hatte? Wie auch immer – Tamani wusste, wie wenig Zeit ihm blieb. Er war stets davon ausgegangen, dass er in der Schlacht sterben würde – durch die Waffe eines Feindes. Oder, wenn er so lange lebte, indem er sich zu seinem Vater im Weltenbaum gesellte. Jedenfalls hätte er nicht gedacht, dass er jemals müßig im Gras sitzen und auf den Tod warten würde.
Doch nun saß er unter der Mondsichel mit Yukis erschlafftem Körper auf dem Schoß und strich ihr übers Haar, während er David zusah, der den Graben um die vergifteten Elfen bereits halb fertiggestellt hatte.
Behutsam und unauffällig steckte Tamani die Hand in die Tasche, um Yukis Geschenk so tief wie möglich darin zu verstecken. Er durfte es auf keinen Fall verlieren. Und er durfte niemandem davon erzählen.
Und dabei gab es keinen Gegenstand, nicht ein Ding in ganz Avalon, Davids kostbares Schwert eingeschlossen, das auch nur annähernd so gefährlich war.