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Sie rief Chelsea an, um ihr zu sagen, dass sie unterwegs zu ihr war.
Amber hatte kaum darüber nachgedacht, wo sie während ihres kurzen Aufenthalts in L. A. bleiben würde. In ihr Haus wollte sie nicht. Sie hätte das Gefühl gehabt, wieder zurückzukehren, anstatt nur ein paar Tage hier zu verbringen.
Sollte sie bei Chelsea übernachten? Sie war immer noch aufgewühlt von der Begegnung mit Leo, als sie im Mietwagen zu Chelsea fuhr. Ihre Schwester wartete bereits an der Auffahrt auf sie. Es war früher Abend. Amber war heute Morgen von New York hierhergeflogen, und es war ein langer, langer Tag gewesen.
Sie blinzelte, als sie aus dem Wagen stieg, und unterdrückte ein Gähnen. Der Stress und der Schlafmangel forderten ihren Tribut.
Sie stieg aus und ging auf Chelsea zu. »Hi.« Es gab keine herzliche Umarmung.
Chelsea trug eine Jogginghose; sie hatte etwas zugenommen. Sie hielt eine Chipstüte in der Hand, aus der sie sich bediente, und blickte Amber und ihrer grauen Mulberry gespannt entgegen.
»Und …?«, fragte sie.
»Ich habe sie«, sagte Amber.
Chelsea boxte in die Luft. »Jaaaaa!«, sagte sie und blickte gen Himmel. »Gott sei Dank!«
»Wir wissen noch nicht, was darauf ist, oder?«, gab Amber zu bedenken. »Sally hat sie sich nie angesehen. Wer weiß, vielleicht bloß statisches Schneegestöber. Du weißt doch, wie solche Kameras manchmal arbeiten.«
Chelsea hörte ihr nicht zu. »Komm rein, Ambs, komm schon rein.« Sie machte kehrt. »Ich rufe Sally an. Am besten warten wir, bis sie hier ist.« Sie schüttelte blinzelnd den Kopf. »Ich kann nicht fassen, dass du es getan hast.« Plötzlich verlegen, fügte sie hölzern hinzu: »Toll, Amber. Danke … vielen, vielen Dank.«
Amber tätschelte ihre Schulter. Und dann gingen die beiden Schwestern zusammen hinein.
»Ich bin nervös«, gab Amber zu, als Sally eine halbe Stunde später eintrat und sich alle drei auf dem großen Sofa niederließen. Die Videokassette steckte im Rekorder.
»Ich weiß, Liebes«, sagte Sally nüchtern. »Ich auch. Aber wir müssen es uns ansehen.«
Amber drückte Chelseas Hand, und Chelsea erwiderte den Druck, doch beide blickten auf den Bildschirm, als Sally auf »Play« drückte.
Das erste Band stammte von der Kamera am Pool draußen. Flackernd erwachte der Bildschirm zum Leben. Man sah ein paar Füße vorbeigehen, der dazugehörige Körper wurde nicht erfasst. Ein paar Schatten am Bildrand.
»Wir haben keinen Ton«, sagte Chelsea enttäuscht.
»Nein, leider nicht«, sagte Sally und drückte auf Vorspulen. »Diese Anlage nimmt nur Bilder auf.«
»Wir brauchen keinen Ton«, sagte Amber. »Wenn etwas zu sehen ist …« Sie sprach nicht weiter.
»Stopp!«, rief Amber plötzlich, und Sally spulte das Band ein Stück zurück und drückte auf Play. Und endlich sahen sie Leo durchs Bild laufen, Leo in weißem Leinenhemd, weißer Leinenhose, mit offenen Schuhen, einen Drink in der Hand. Die Uhr zeigte 21.37 an.
»Das ist sein Outfit für zu Hause. Zum Entspannen, hat er immer gesagt«, sagte Chelsea. »Der Mistkerl.«
Die anderen beiden nickten. Auch ihnen war Leos Freizeitkleidung wohlbekannt. »Das heißt leider nichts«, sagte Sally. »Sehen wir es uns weiter an.« Und damit drückte sie wieder auf die Taste.
Am Ende des zweiten Tapes, das aus Leos Schlafzimmer stammte, waren alle drei frustriert, doch niemand wollte es laut aussprechen. Sie hatten den Schnellvorlauf zigmal gestoppt, wann immer etwas über den Bildschirm geflackert war, das ihnen verdächtig vorkam, aber jedes Mal war es … nichts gewesen! Wenn sie das, was sie suchten, nicht auf diesen Bändern fanden, wo sollte es denn dann sein?
»Bist du sicher, dass es nur drei Bänder gegeben hat?«, murmelte Chelsea Amber zu.
»Es hat nur drei gegeben«, sagte Sally laut. »Ich hatte drei genommen.«
»Aber waren es auch die richtigen?«, fragte Chelsea.
»Wir wissen schließlich nicht, wo es geschehen ist, nicht wahr?«, fauchte Sally. »Wer weiß, wo im Haus sie sich herumgetrieben haben …«
»Du hast gesagt, es gibt fünf Kameras im Haus«, gab Chelsea zu bedenken.
»Okay, ja, das weiß ich auch. Aber eine ist auf die Autos draußen gerichtet, die andere hängt in der Küche, und kommt euch das nicht etwas unwahrscheinlich vor?«
»Wer weiß«, sagte Amber trocken. »Hier geht es schließlich um Leo.«
»Sehen wir uns das dritte Band an«, sagte Sally.
»Und woher ist das?«
»Aus seinem Arbeitszimmer.«
Es sah nicht gut für sie aus.
Sally legte das letzte Video ein und drückte auf den Rücklauf, und das Gerät begann zu surren. Chelsea nahm ihr Glas und kippte den Rest Wein herunter. Amber kaute an ihrem Nagel. Als Chelsea das Glas abstellte, wollte sie nach der Fernbedienung greifen. »Nicht, Chelsea«, sagte Sally. »Lass es noch weiter – Oh!«
Sally hatte auf Play gedrückt.
Das schwarzweiße Bild zeigte Leos Büro zu Hause, den großen geschnitzten Schreibtisch, der angeblich der gleiche war wie im Oval Office, und Leo, der sich über etwas beugte … über jemanden beugte …
Sie konnten seinen Rücken sehen, das durchgeschwitzte Hemd, und er bewegte sich rhythmisch gegen den Tisch, stieß vor und zurück wie ein Kolben, und Amber musste die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, was sich da genau tat …
»Oh, Shit«, stieß sie aus, und ihre Hand flog zu ihrem Mund. Sally ließ die Fernbedienung fallen.
Maria lag wie ein Sack auf dem Tisch, so jung und so dünn und zart, dass sie unter Leo fast verschwand. Ihre Augen waren zugekniffen, aber der Mund aufgerissen; sie schrie offenbar, und sie schlug und kratzte ihn, aber Leo hatte beide Hände auf ihre Brust gestemmt und hielt sie auf der Tischplatte fest.
Ihre dünnen Beine traten links und rechts von seiner Hüfte ins Leere. Man sah, mit welcher Kraft er gegen ihre Brust drückte, und ganz plötzlich erschlaffte ihr Körper, und sie hörte auf, sich gegen ihn zu wehren. Leo jedoch hörte nicht auf.
Die drei Frauen vor dem Bildschirm waren totenstill geworden.
Sally biss sich auf die Unterlippe. »Lasst uns ein Stück zurückspulen«, sagte sie leise. »Und nachsehen, wie viel wir haben.«
Sie ließ das Video zurücklaufen bis zu einer Stelle etwa zehn Minuten vorher, an der Leo Maria in sein Büro schubste. Maria schwankte, als sei sie betrunken.
»Der hat ihr irgendwas gegeben«, sagte Chelsea heiser. »Mistkerl.«
Sie sahen, wie Leo sie auf den Tisch setzte. Er streichelte ihre Wange, dann drückte er sie zurück. Sie lachte, aber plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.
Sally drückte die Stopptaste. »Ich will das nicht mehr sehen«, sagte sie und legte die Fernbedienung behutsam auf den Tisch. »Wir haben genug.« Mit einer Hand fuhr sie sich durchs Haar.
»Wartet. Ich will mich vergewissern.« Chelsea drückte Play und sah es sich erneut an. Dann lachte sie. »Das wird ihn ein für alle Mal vernichten. Ich hab’s geschafft!« Sie ballte die Fäuste. »Ich meine, wir haben es geschafft. Jetzt bringen wir ihn zur Strecke.«
Sie schenkte sich Wein nach und lachte wieder. Ihre Augen funkelten so lebendig, dass sie Funken zu sprühen schienen. Amber konnte ihre Schwester nur wortlos ansehen. Und als Sally das Band anhielt, aufstand und es aus dem Gerät holte, hatte Amber ihren Blick noch immer nicht abgewandt.
Sie erkannte, dass die Chelsea von früher nicht mehr existierte.
Denn diese Chelsea heute war ein Ungeheuer. Eine Frau, die das Video einer Vergewaltigung sah und nur daran dachte, wie sie es für ihre Rache nutzen konnte.
Amber räusperte sich; am liebsten hätte sie sich in eine Ecke gekauert und um Maria und Tina geweint. Sie hatte nicht wirklich geglaubt, was Sally und Chelsea ihr erzählt hatten, bis sie es selbst gesehen hatte. Wie hatte sie nur so naiv sein können?
»Ich bringe das morgen der Polizei«, sagte Sally. Sie wirkte weder zufrieden noch triumphierend, nur grimmig wie jemand, der eine ungeliebte Pflicht erledigt hatte. Sally hatte getan, was sie tun musste. Und sie sah plötzlich sehr viel älter aus. »Ich weiß, an wen ich mich wenden kann. Aber es wird wohl eine Weile dauern. Die Polizei wird weitere Beweise brauchen und Fakten überprüfen müssen.«
»Hauptsache, es passiert noch vor der Oscars«, sagte Chelsea und hüpfte aufgeregt auf dem Sofa auf und ab. »Er soll einen Award anmoderieren, habe ich gehört. Der kranke Bastard. Es muss alles vorher geschehen. Mit dem richtigen Timing können wir seine Niederlage perfekt machen.«
»Ja, du hast recht.« Sally steckte das Video in eine Luftpolstertasche. »Wo sollen wir das Ding verstecken? Das ist das Wertvollste, das du je gehabt hast, Chelsea. Ich bleibe heute Nacht hier, um mit dir aufzupassen.«
»Klar, mach das, gute Idee. Ich könnte noch etwas Wein gebrauchen. Amber – du auch?«
Sie blickte sich um.
»Amber?« Sie wandte sich an Sally. »Wo ist sie denn hin?«
Sally blickte auf. »Keine Ahnung. Sie war doch gerade noch hier. Also … wo verstecken wir das Band?«
Sie waren so beschäftigt, dass sie nicht hörten, wie der Wagen die Einfahrt verließ.