16
Eine Stunde später klingelte das Telefon. George war noch nicht zurück. Margaret stand in der Küche, wischte die Arbeitsflächen ab und ging noch einmal die Ereignisse des Tages durch. Noch immer war sie wütend auf Chelsea, diesen dummen Regisseur und George, der ihr vor den Kindern widersprochen hatte. Sie konnte die Mädchen oben in Chelseas Zimmer poltern hören; kreischendes Gelächter drang bis hinunter in die Küche. Sie tanzten und sangen zur Musik; wie es klang, zu ABBA, die gerade wieder absolut in waren – warum, war Margaret ein Rätsel, zumal die Tatsache, dass sie sich noch an »ihre« ABBA-Zeit erinnerte, ihr das Gefühl gab, bereits steinalt zu sein. Die Mädchen schienen irgendetwas einzuüben, so wie sich ihr gleichmäßiges Stampfen anhörte.
Als Margaret zum Telefon ging und sich dabei die Hände an der Schürze abwischte, wurde der Lärm von oben lauter. Sie sah verärgert auf und machte ein zischendes Geräusch, um sie zum Schweigen zu bringen, aber natürlich hörten sie sie nicht.
Sie nahm den Hörer auf. »Guten Abend«, sagte sie majestätisch.
»Spreche ich mit Mrs. Stone?«
»Ja.«
»Mrs. Stone, Simon Moore hier.« Er zögerte. »Von der BBC …«
»Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Moore«, sagte Margaret. Sie hörte selbst, dass ihre Stimme einen schrillen Klang annahm. »Danke, dass Sie noch einmal anrufen.«
Die beiden Mädchen schienen noch mehr Lärm zu machen, und sie hätte am liebsten laut geschrien. War sie eigentlich die Einzige in diesem Haus, der Ambers Zukunft am Herzen lag?
»Oh, sagen Sie doch Simon zu mir. Hören Sie, wir haben eine Entscheidung getroffen.«
Etwas in seiner Stimme machte sie stutzig; es war, als nähme sie eine Witterung auf – Sieg? Plötzlich war sie von Kopf bis Fuß angespannt. Sie war sich nicht bewusst gewesen, wie sehr sie mit der Ablehnung gerechnet hatte. »Mrs. Stone, wir hätten ehrlich gesagt auch nie gedacht, dass wir es so machen würden, aber wir haben gute Nachrichten.«
»Gute Nachrichten?« Margaret hatte enorme Mühe, ruhig zu bleiben. »Nun, das freut mich wirk…«
»Na ja, vielleicht müssen wir noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten, denn natürlich ist es nicht üblich, jemanden …«
Margaret hielt es nicht länger aus. »Simon, Sie haben die Richtige ausgewählt, bitte glauben Sie mir«, unterbrach sie ihn. »Amber ist großartig. Vielen Dank.«
Am anderen Ende der Leitung war es einen Moment lang still. Dann sagte Simon: »Mrs. Stone, ich habe mich wahrscheinlich nicht ganz klar ausgedrückt …«
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie scharf.
»Wir geben nicht Amber die Rolle der Roxy. Wir möchten sie Chelsea anbieten.«
»Chelsea?« Der Schock ließ Margaret fast taumeln. »Aber Sie … aber Sie haben sie doch nur einmal kurz gesehen.«
»Aber das hat gereicht. Ich wusste es sofort, irgendetwas hat ›klick‹ gemacht. Sie ist es.« Simons Stimme war herzlich und aufgeregt, und sie hätte ihn am liebsten in die Eier getreten. »Sie hat genau den Funken, den Roxy haben soll. Sie ist tough, umwerfend, großmäulig, verletzlich, und sie zieht einen sofort in ihren Bann. Ich habe hier schon mit ein paar Leuten gesprochen. Sie soll nächste Woche herkommen, damit ich ihnen zeigen kann, was ich gesehen habe.«
Margaret konnte es noch immer nicht fassen. »Und Sie sind sicher?«
Simon klang ernst. »Wissen Sie was? Ich war mir nie sicherer. Sie hat es.«
»Es?«, wiederholt sie dumpf.
»Ja. Keine Ahnung was ›es‹ ist, aber sie ist toll. Chelsea wird ganz groß rauskommen, Mrs. Stone, das kann ich Ihnen garantieren.«
Hier lief etwas falsch. Völlig falsch. Langsam stieg Margaret die Treppe hinauf. Sie konnte es kaum ertragen. Arme Amber. Ihr Herz war schwer wie Blei. Sie blieb vor der Tür stehen, hörte einen Moment zu, wie die zwei »Fernando« sangen, und spürte die Tränen in den Augen brennen. Chelsea sang schräg und falsch und interpretierte auf alberne Weise, doch Ambers reine schöne Stimme erhob sich deutlich über all dem Lärm – obwohl sie erst zwölf Jahre alt war, sang sie voll und klar.
Wie konnte das nur passieren?
Behutsam drückte Margaret die Tür auf.
»Hallo, Mädchen«, sagte sie.
Beim Anblick ihrer Mutter schraken sie zusammen. Chelsea hörte auf zu singen und erstarrte, während Amber lächelte und sie hereinwinkte. Einen Moment lang fragte sich Margaret, wie es sein konnte, dass sie allein durch ihre Anwesenheit einen Keil zwischen die Schwestern trieb.
»Hey, Mum, komm doch rein. Wir singen bei ABBA mit, und Chelsea macht die ganze Zeit Quatsch und ist so lustig …«
Margaret hielt die Hand hoch, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich muss mit euch beiden reden.« Sie fühlte sich wie eine Verräterin. »Nichts Wildes, aber Simon Moore hat gerade angerufen.« Kaum konnte sie den Ausdruck in Ambers Augen ertragen, das Aufleuchten, die Hoffnung, die Aufregung. Sie wandte sich ihr zu. »Hör zu, Schätzchen, du hast die Rolle nicht bekommen.«
»Oh«, sagte Amber. Sie rieb sich mit der Hand über ein Auge. »Ist nicht so schlimm, Mum. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass ich sie kriege. Er fand Chelsea viel interessanter als mich.« Sie lächelte ihrer Schwester zu.
Verdammt! Margaret presste die Zähne aufeinander.
»Tja, genau darum geht’s.« Sie lächelte. »Ich … ja. Genau das ist es. Sie wollen ihr die Rolle geben.«
»Wem?«, fragte Amber verwirrt.
»Chelsea«, murmelte Margaret.
»Was?«, fragte Chelsea hinter ihr. Aber Margaret widmete sich weiterhin ihrer jüngeren Tochter. Zärtlich strich sie ihr über die Wange. »Es tut mir so leid, Liebes.«
Amber wich alles Blut aus den Wangen. Sie schluckte und brach plötzlich in Tränen aus.
»Tut mir leid«, schluchzte sie. »Wirklich, Mum …« Sie musste um Atem ringen. »Aber das ist doch nicht fair. Ich kriege die Rolle nicht, Chelsea aber schon? Sie … sie musste doch nicht mal vorsprechen. Das … das verstehe ich nicht.«
Margaret tat das Herz weh. Sie hatte geschworen, Amber zu beschützen, Amber den Ruhm zu verschaffen, der ihr selbst versagt geblieben war, und nun ging alles ganz fürchterlich schief.
Chelsea stand noch immer wie angewurzelt mitten im Raum, und Margaret empfand plötzlich nur Verachtung. Ihr Haar war verfilzt, ihre Hände mit Kugelschreibertinte verschmiert, ihr T-Shirt schmuddelig – sie sah nicht aus wie ein Star, sondern wie eine Obdachlose. Tatsächlich sah sie genauso aus wie Derek, als er damals in den Pub geplatzt war …
»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Chelsea leise. »Wie kann es sein, dass ich die Rolle gekriegt habe?«
Tja, das wüsste ich auch gerne, dachte Margaret, aber sie würde ehrlich sein. »Simon sagte, dass du ihn beeindruckt hast. Du hättest genau den Funken, den ihre Roxy bräuchte. Du wärst großartig gewesen. Nicht das, wonach sie gesucht haben« – sie konnte es sich nicht verkneifen –, »aber absolut richtig für die Rolle.«
»Das ist doch großartig, Chelsea«, brachte Amber hervor. »Toll. Du … du hast es verdient!«
Und dann fiel ihr zartes Gesicht in sich zusammen, und sie brach erneut in Tränen aus.
»Oh, Amber.« Chelsea stürzte zu ihr und nahm sie in den Arm. »Bitte wein doch nicht. Das ist doch total albern, die wissen gar nicht, was sie da tun. Du bist viel besser geeignet.« Sie drückte ihre Schwester an sich. »Ich will doch nicht ins Fernsehen, das weißt du.«
Daraufhin weinte Amber nur noch lauter.
»Raus, Chelsea«, sagte Margaret. »Du machst alles noch schlimmer.«
Wie vom Donner gerührt, verließ Chelsea ihr eigenes Zimmer. An der Tür blickte sie zurück und sah, wie ihre Mutter die weinende Amber tröstete. Einen Moment lang blieb sie dort stehen und hörte den beiden zu.
»Alles ist gut«, flüsterte Margaret. »Ganz ruhig, Liebes. Du wolltest die Rolle doch sowieso nicht, richtig? Du wirst berühmt werden, das verspreche ich dir. Du kannst es. Alles wird gut.« Sie wiegte sich, Amber im Arm, sanft vor und zurück. »Ich sorge dafür, mach dir keine Sorgen. Du wirst ein Star, meine Kleine, bitte wein nicht mehr.«
Leise schloss Chelsea die Tür und ging.
Chelsea saß auf der Treppe mit dem beigefarbenen Teppich und lauschte den gedämpften Schluchzern ihrer Schwester in dem ansonsten stillen Haus. Ihr Haus war so groß, und sie fühlte sich winzig darin, unbedeutend trotz der großartigen Neuigkeit, und Amber tat ihr entsetzlich leid. Sie fragte sich, wo ihr Vater blieb. Sie hätte sich gewünscht, dass er hier gewesen wäre, damit sie ihm hätte erzählen können, wie sie sich fühlte. Sie sollte die Roxy spielen, sie würde ihre eigene TV-Serie haben! Sie, die plumpe, unbeholfene Chelsea … eigentlich konnte es sich nur um einen Irrtum handeln.
Sie stieß ein kleines nervöses Kichern aus – sie konnte es noch immer nicht glauben. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit auf, und sie spürte plötzlich, wie sich ein Glücksgefühl durch ihre Eingeweide schlängelte. Etwas erwachte in ihr, etwas, von dessen Existenz sie nichts gewusst hatte. Ihr ganzes Leben lang hatte Chelsea sich gefühlt, als ob sie irgendjemandem im Weg stand, doch nun hatte sie allein etwas erreicht.
Ja, Amber war am Boden zerstört und ihre Mutter fuchsteufelswild, und, ja, sie wusste, dass sie dafür auf die eine oder andere Art zahlen würde. Aber dennoch.
Man hatte sie ausgewählt! Dieser Simon Moore … obwohl er ein ärgerlicher Mensch war, hatte sie ihn irgendwie gemocht. Und sie war ihm aufgefallen!
Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Chelsea Stone das unglaubliche Prickeln der ungeteilten Aufmerksamkeit. Sie befand sich im Mittelpunkt, statt immer nur vom Rand aus zuzusehen – ihrer Schwester, den Klientinnen ihres Vaters, den hübscheren, schlaueren, talentierteren Mädchen in der Schule und so weiter. Es war ein unfassbares, unerwartetes Gefühl … und sie liebte es!
Und in diesem Augenblick wusste Chelsea, dass sie alles tun würde, um genau dort zu bleiben – im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Sie würde berühmt werden. Sie wusste es.