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Die Nachricht erreichte sie am Montagabend, am Tag nach der Oscarverleihung. Die Fotos waren außergewöhnlich; sie hatte kaum den Blick davon abwenden können. Und das lag nicht nur daran, dass es ihr vorkam, als sei ein Alptraum wahr geworden – sie waren so … so intim! Wie konnte man solche Bilder ins Internet stellen? Auf einem Foto sah man Chelseas Titten; die zwei trieben es dort am Strand ja fast miteinander! Amber wusste nicht, ob sie lachen oder toben sollte.
Wie konnte Chelsea ihr so etwas antun?
Amber konnte am Dienstag nicht ausgehen; das Sicherheitstor ihrer Wohnsiedlung wurde belagert. Sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen der anderen Bewohner und ließ jedem einen Geschenkkorb als Entschuldigung schicken. Es war verrückt: Fotografen versuchten, über den Zaun zu klettern oder als Lieferanten verkleidet einzudringen, aber Gott sei Dank war es noch niemandem gelungen.
Diese Demütigung war so unglaublich öffentlich, und für jemanden wie Amber, der am liebsten für sich blieb, war es umso schlimmer. Sie hatte sich noch nie in Bars betrunken oder mit jemandem geschlafen, der Geschichten über sie verkaufen konnte. Sie wollte ihr Privatleben privat halten, und sie verabscheute es, unfreiwillig zur Belustigung anderer beizutragen. Sie konnte nicht aus dem Haus, und so blieben Rosita, Carlos und sie zwei weitere Tage gefangen in ihrer Villa, und Amber glaubte, wahnsinnig zu werden.
Vielleicht wurde sie ja wahnsinnig, abwegig war es nicht. Sie hatte nichts zu tun. Die Dreharbeiten für ihren nächsten Film würden nicht vor der kommenden Woche beginnen, und sie hatte niemanden, mit dem sie reden konnte – außer mit ihrer Mutter vielleicht, aber jetzt hätte sie eine Freundin gebraucht.
Es gab Millionen Menschen auf dieser Welt, die ihre Filme mochten, und sie war reich, schön und erfolgreich, aber das alles bedeutete ihr nichts, und dafür verabscheute sie sich selbst. Wieso konnte sie sich nicht darauf konzentrieren und ließ sich stattdessen niederschmettern von einer Schwester, die sie offensichtlich nicht ausstehen konnte, und einem Mann, den sie, wie sie sich eingestehen musste, vielleicht nie wirklich geliebt hatte?
Und dann rief Sally an.
»Hi«, trällerte sie, als sei alles vollkommen in Ordnung. »Wie geht’s dir?«
Amber lag auf dem riesigen cremefarbenen Sofa, hatte ein Glas Wein in der Hand und blätterte lustlos durch das entsetzlich abgedroschene Drehbuch zu Secret Sisters, den zu drehen sie eingewilligt hatte. Sie wusste nicht, wieso – es war derselbe Schwachsinn wie immer, vielleicht sogar noch langweiliger als ihre bisherigen Filme, und plötzlich schämte sie sich dafür. »Wie es mir geht?«, fragte Amber. Wie konnte man eine solche Frage stellen? »Tja, also …« Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Sie blickte aus dem Fenster. Es war ein kühler, grauer Tag, sehr ungewöhnlich für diese Gegend, aber er passte zu ihrer Stimmung.
»Ich würde gerne etwas mit dir besprechen«, sagte Sally. »Würde es dir jetzt passen?«
»Willst du mir helfen, Leo umzubringen, zu zerstückeln und zu kochen?« Amber fühlte sich leicht angetrunken. »Gerne.«
»Haha.« Das Lachen klang arg bemüht. »Wow, es ist gut, dass du Witze darüber machen kannst! Und deshalb lieben die Leute dich auch so!« Sie senkte die Stimme. »Also. Leo würde dich gerne treffen und …«
»Ich will ihn aber nicht treffen«, unterbrach Amber. »Ich will ihn nie wieder sehen.«
»Das weiß er«, sagte Sally. »Er ist vollkommen fertig, Amber, absolut am Boden zerstört. Und er möchte unbedingt mit dir reden.«
Und plötzlich zerriss etwas in Amber, und das war die letzte Verbindung zu Leo. Sie war nicht wütend, obwohl sie es werden würde, das wusste sie. Aber im Augenblick fühlte sie sich vor allem müde. Sehr müde.
»Ich komme rüber«, sagte sie.
»Keine gute Idee – du wirst gar nicht reinkommen. Überall sind Fotografen, auch vor unserem Haus.«
»Das ist mir egal«, sagte Amber. Sie stand auf. »Sag ihm, ich bin in einer Stunde da. Und sag ihm, er ist ein dreckiges Schwein.«
»Ähm … mach ich«, sagte Sally.
Amber legte den Hörer auf.
»Tja«, sagte sie langsam, »das war’s dann wohl …«
Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich fühlen sollte, aber schließlich spürte sie Zorn in sich aufkeimen, und das tat verdammt gut.
Sie stieg in ihren nagelneuen Wagen, setzte sich die riesige Sonnenbrille auf, wies Carlos an, das Tor zu öffnen, und gab Gas, brauste hinaus, an der Küste entlang, in die Stadt und hinauf nach Beverly Hills, um ihrem Liebhaber einen letzten Besuch abzustatten.
Leo begrüßte sie mit ernster Miene, als habe er eine tödliche Krankheit. »Hallo, Amber.« Er legte ihr die Hand ans Haar und nickte ihr aufmerksam zu, obwohl sie noch kein Wort gesagt hatte. »Danke, dass du gekommen bist.«
»Eines würde ich gerne wissen«, sagte Amber ruhig und stellte ihre Tasche auf den schmiedeeisernen Tisch am Pool. »Bist du glücklich?«
»Hier geht es nicht um mich«, sagte Leo.
»Oh, doch, Leo«, erwiderte sie. »Es geht immer um dich. Es geht darum, was du willst und wie du es bekommst. Und ich habe es jahrelang mit mir machen lassen.«
»Amber. Ich fühle mich schrecklich. Das musst du mir glauben.«
»Nein, das tust du nicht.« Sie konnte ihn nicht ansehen. Sie spürte Tränen in den Augen, aber es war ungemein wichtig, dass sie nun nicht zusammenbrach. »Das tust du wirklich nicht. Ich will nur wissen – bist du glücklich? Hast du bekommen, was du wolltest, indem du mit uns beiden geschlafen hast?«
»So ist es nicht, meine Liebe …«
»Ich habe dir die besten Jahre meines Lebens geschenkt, Leo. Du warst für mich wie …« Sie hatten ein Vater sagen wollen, aber das klang so fürchterlich falsch. Und dennoch war es die Wahrheit. »Du warst alles für mich, Leo … wie konntest du das nur tun?«
Er kam auf sie zu, seufzte tief. »Baby, das ist doch nur ein Missverständnis.«
»Du Mistkerl.« Amber sah ihm ins Gesicht, sah sein mildes Lächeln und wünschte sich, ihm dieses Lächeln aus dem Gesicht schlagen zu können. Er war so verdammt selbstherrlich, so sicher, dass er der Größte war und blieb!
»Amber, so habe ich dich ja noch nie erlebt. Komm, trink einen Tee. Das beruhigt dich ein bisschen.«
Sie holte tief Luft. »Sag mal, meinst du das ernst?«
»Aber ja. Hör zu, Baby, du bist nicht du selbst. Du musst dich beruhigen.«
Verdammter, arroganter Wichser. Sie betrachtete ihn genauer und sah zum ersten Mal den Bauchansatz, den er zu verbergen versuchte, die schwammig gewordenen Konturen seines Gesichts, die blutunterlaufenen Augen, und verstand endlich. Er sprach offensichtlich immer mehr dem Kokain zu; die Nebenwirkungen machten sich inzwischen deutlich bemerkbar. Nein, das brauchte sie nicht. Das brauchte sie wahrlich nicht!
Es erschien ihr passend, dass diese letzte Aussprache bei Leo stattfand. Hier hatte sie ihn das erste Mal besucht, als sie noch die scheue, naive Zwanzigjährige war. Das große weiße Haus im spanischen Stil war das erste Zuhause gewesen, das sie in L. A. gefunden hatte. Wo sie mit Maria befreundet gewesen war und ihr genau hier, auf dem perfekt manikürten Rasen, die Tanzschritte zu »Baby one more time« gezeigt und wo sie mit Marco gelacht und geplaudert und getratscht hatte. Zum ersten Mal seit vielen Monaten dachte sie an die beiden. Was mochte mit Maria geschehen sein? Und wo war Marco? Sie waren ihre Freunde gewesen und nach und nach ins Abseits gedrängt worden. Wegen Leo. Wegen Leo hatte sie aufgehört zu singen. Wegen Leo hatte sie ihre Freunde und ihre Identität verloren. Und wegen Leo verlor sie nun ihre Schwester.
Es war gar nicht so sehr die Demütigung, die ihr so naheging, obwohl alle Welt Mitleid mit ihr hatte und sie diese Aufmerksamkeit hasste und es verabscheute, dass sie sich nicht hinter einer Rolle verstecken konnte. Es war auch gar nicht die Tatsache, dass sie ihre Schwester in ihrem Zuhause willkommen geheißen und diese es ihr damit gedankt hatte, ihr die Rollen und den Freund zu stehlen.
Viel schlimmer war, dass sie zu begreifen begann, welchen Anteil sie sich selbst zuschreiben musste. Sie hatte das alles zugelassen. In den knapp sechs Jahren, die sie mit Leo zusammen gewesen war, hatte sie in einem goldenen Käfig gelebt, in den sie sich freiwillig begeben hatte.
Wer war sie?
Sie hatte keine Ahnung. Sie, Amber Stone, hatte keine Ahnung. Wie jämmerlich.
Sie hielt die Zeitung hoch, eine von vielen, die die Fotos von Chelsea und Leo am Strand abgedruckt hatten. Chelseas graues Oscarkleid stand an den Seiten offen, und Leo hatte seine Hände hineingeschoben. Seine Miene zeigte fast kindliche Freude.
»Schau, Leo«, sagte sie, »siehst du eigentlich nicht, was du tust? Aber für dich ist alles nur ein Spiel, nicht wahr?«
Leo sah sich um, dann tätschelte er ihr die Schulter. »Amber«, begann er wieder, »die ganze Sache tut mir schrecklich leid, und ich fühle mich …«
Sie unterbrach ihn erneut. »Nein, Leo, es tut dir nicht leid. Und du fühlst dich auch nicht schrecklich. Lüg mich nicht an.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Ich glaube, du fühlst eigentlich gar nichts.«
Sie hatte recht. Leo empfand eigentlich nichts. Er liebte Amber nicht. Er hatte zu dem Videoband, das er bei ihrem ersten Mal aufgenommen hatte, viele, viele Male masturbiert, aber es war schon sehr lange her, dass sie persönlich ihm ein ähnliches Vergnügen hatte bereiten können.
Er hatte von ihr alles bekommen, was sie zu geben gehabt hatte.
Er liebte das, was sie ihm verschaffte – Geld und Ansehen –, und er schlief gerne mit ihr; nicht so gerne wie mit Chelsea, aber, hey, niemand war perfekt. Sie hatten eine gute Zeit gehabt, hatten einige Jahre voneinander profitiert und genutzt, was zu nutzen war. Es war ja nicht strafbar, eine Affäre zu haben, nicht wahr?
Und vielleicht war es einfach Zeit für eine Veränderung. Er dachte an Chelseas Porzellanteint, ihr schwarzes Haar, ihre blauen Augen – alles an ihr war so lebendig, so sexy, so leidenschaftlich. Er dachte an diesen frühen Morgen am Strand, als sie Kaffee getrunken hatten, er seine Jacke um sie gelegt und seine Hände in ihr Kleid geschoben hatte, während die Wellen ans Ufer schlugen. Wer hätte auch ahnen können, dass jemand wie wild fotografierte! Verdammt! Woher hatten diese Schufte es gewusst?
Aber er erinnerte sich auch daran, wie Chelsea an diesem Morgen ausgesehen hatte: wie eine Hollywooddiva im alten Stil. Ein Vollweib – nicht vergleichbar mit ihrer dünnen Schwester. Er erinnerte sich, dass er darüber nachgedacht hatte, wie scharf es war, dass diese beiden, zwei der berühmtesten und begehrtesten Frauen dieser Welt, sich gleichzeitig um ihn rissen. Leo Russell war vielleicht ein Multimillionär, aber er war auch ein Mann. Und als Chelsea sich dann auch noch vorgebeugt und ihre Hand auf seinen schlaffen Penis gelegt hatte, war er sofort hart geworden.
Fünf Minuten waren sie an diesem verfluchten Strand gewesen, bevor sie in zwei Autos gestiegen und zurück zu Chelseas neuer Adresse gefahren waren, um dort übereinander herzufallen. Fünf Minuten nur, aber es hatte gereicht, um ihn und Chelsea in die Öffentlichkeit zu zerren. Wieder fragte er sich, woher die Reporter gewusst hatten, dass sie dort auftauchen würden.
Amber holte ihn unsanft in die Gegenwart zurück. »Du hörst mir nicht einmal zu, richtig? Wo ist sie?«
»Wo ist wer?«
»Chelsea, du Bastard«, sagte sie schlicht.
»Oh.« Leo kratzte sich am Hinterkopf. »Sie ist … ich weiß nicht, wo sie ist. Aber wir … wir müssen darüber reden, Amber. Es ist besser, wenn zwischen uns …«
»Es gibt nichts zu bereden, also tu nicht so, als ob.« Sie stand auf und ging auf ihn zu. »Ich habe ihren Wagen in der Auffahrt gesehen. Entweder bist du extrem dämlich, oder es kümmert euch einfach nicht. Hol sie her!«
»Was?«
Amber stand nur wenige Zentimeter vor ihm. Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht. Er bemühte sich, nicht auf ihre Brüste zu starren. Gott, sie trug keinen BH. Jetzt krieg bloß keine Erektion, Leo.
»Du bist ein Stück Dreck«, sagte sie freundlich. »Mein Gott. Ihr beide passt wirklich gut zusammen. Jetzt hol sie her.«
Leo zögerte nicht. Er floh ins Haus.
Als er ein oder zwei Minuten später zurückkehrte, folgte Chelsea ihm.
Die Wolken hatten sich verzogen, und es würde ein klarer, smogfreier Abend werden. Der Pool leuchtete türkisfarben, und die Abendsonne malte Reflexe auf die Terrasse, auf der sie standen.
Chelsea trug Jeans und eine ärmellose Bluse, kein Make-up, und ihr Haar war zerzaust. Sie sah jünger aus als auf den Bildern, und einen Moment lang verspürte Amber einen scharfen Schmerz. Das war doch ihre Familie, ihre Schwester, die noch genauso aussah wie der lustige Teenager, der sie einst gewesen war.
Und einen Moment lang erwog sie, doch nicht das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte. Für ihre Mum. Und für ihren Dad.
Aber dann sagte Chelsea: »Hör zu, Amber, ich weiß, dass du sauer bist. Aber das hier ist größer als wir alle.« Sie lächelte Leo an und sah ihrer Schwester trotzig in die Augen – typisch Chelsea, typisch, ihr zu verstehen zu geben, dass sie nur eine lästige Nervensäge war, die ihr im Weg stand. Und Amber begriff, dass es Zeit war.
»Ich gehe fort«, sagte sie. »Ich verschwinde für ein paar Monate von hier.«
»Aber wir fangen am Mittwoch mit den ersten Aufnahmen zu Secret Sisters an«, sagte Leo.
»Vergiss es. Ich steige aus.«
Leo sah sie an und lachte, als sei sie ein dummes Kind. »Tust du nicht.«
»Verklag mich doch«, sagte Amber. Sie sah ihn mit funkelnden Augen an. »Das wird bestimmt gut aussehen, denkst du nicht? Erst vögelst du meine Schwester, dann verklagst du mich, weil ich aus einem Film aussteige, den du produzierst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeine Jury auf dieser Welt dir Schadenersatz zusprechen würde.«
Sie wandte sich ihrer Schwester zu.
»Und was dich angeht, Chelsea, du sollst wissen, dass es mit uns vorbei ist. Und ich bin froh, dass ich es dir ins Gesicht sagen kann.«
»Was?« Chelsea legte sich eine Hand aufs Schlüsselbein. »Amber, bitte, hör mir zu …«
Amber trat einen Schritt zurück und warf die Autoschlüssel in die Luft. »Zu spät, Schwesterchen. Du bist mir das letzte Mal auf die Zehen getreten. Ihr beide. Ich verschwinde jetzt, und wenn ich wiederkomme, dann freut euch.«
»Worauf?«, fragte Chelsea nervös.
»Auf meine Rache.« Sie nickte und war sich plötzlich sehr sicher. »Meine Rache. Bis dann.«
Chelsea ließ Leo stehen und lief ihrer Schwester nach in die große Eingangshalle.
»Also los, Amber«, sagte sie und ging auf sie zu. »Sag, was du zu sagen hast, damit wir es endlich hinter uns bringen können.«
Und das war der Augenblick, in dem Amber sie ohrfeigte, fester zuschlug, als sie es je zuvor in ihrem Leben getan hatte. Und es fühlte sich absolut großartig an.
Sie wandte sich um und ging hinaus auf die Auffahrt, stieg in ihren Bentley und fuhr davon. Zum ersten Mal, seit sie den Wagen hatte, öffnete sie das Dach, so dass ihr Haar im Wind wehte. Sie dachte an den Ausdruck in den Gesichtern ihrer Schwester und ihres Ex-Freunds.
Oh ja, das würde Spaß machen.