12
Sag Weybridge.«
»Weijbritsch!«
»Mein Mädchen! Gut gemacht!« George klatschte begeistert in die Hände. In seinen Augen war seine geliebte Tochter ein Genie, und das sagte er ihr auch bei jeder Gelegenheit. Margaret sah ihnen nachsichtig zu.
George hob Chelsea auf. »Siehst du das Haus da?« Er deutete auf ein frei stehendes Haus aus roten Ziegeln. Es befand sich auf einem großen Grundstück, hatte eine kleine Auffahrt, eine eigene Garage, ein Giebeldach und hübsche Buntglasfenster.
»Ja.« Chelsea nickte ernst. Ihre dunklen Locken tanzten um ihr rundes Gesicht.
»Gefällt es dir?«
»Ja!«, rief Chelsea aufgeregt, und ihre Stimme hallte in der stillen Straße. Margaret klopfte ihr beschwichtigend auf die Schulter. Manchmal war Chelsea furchtbar überschwänglich.
»Tja, dann«, sagte George, ging vor ihr in die Hocke und blickte sie ernst an. »Da wollen wir nämlich wohnen, Chelsea!«
»Wir«, sagte Chelsea feierlich und blickte von George zu Margaret. George nahm die Hand seiner Frau.
»Ja«, sagte er. »Du und ich und« – er strich über Margarets sich rundenden Bauch – »und dein Bruder oder deine Schwester, was immer es wird. Deine Mum wird noch ein Baby bekommen. Dann sind wir eine richtige Familie.«
»Und wie geht das?«
Tja, wie geht das?, dachte Margaret kühl. Sie lächelte schwach und blickte wieder zu dem riesigen Haus hinauf.
»Da sind wir bestimmt sehr glücklich«, sagte George. Seine Hand stahl sich zu ihrer, und er nahm sie und drückte sie leicht.
Anfangs war es so. Für Margaret und George waren die nächsten Jahre als Familie tatsächlich glücklich. Sie bezogen das Bay Tree House, wie ihr beeindruckendes Heim auf dem Princess Drive genannt wurde, und ein paar Monate später brachte Margaret ein ruhiges Mädchen namens Amber zur Welt.
Margaret liebte Amber von Anfang an mit einer Inbrunst, die sie selbst überraschte. Chelsea hatte vor nichts Angst; sie konnte früh laufen und tat es ausgiebig, sie brüllte das ganze Haus zusammen, wenn ihr danach war. Sie war wie ihr Vater: Sie wollte immer die Nummer eins sein, und sobald sie im Mittelpunkt stand, war alles gut.
Amber war anders, das erkannte Margaret schon sehr früh. Sie war klein und zart und hatte goldblondes Haar und grüne Augen. Sie lächelte viel, war aber meistens still, als habe sie Angst, Unannehmlichkeiten zu verursachen. Mit Sorge beobachtete Margaret, wie Chelsea ihre kleine Schwester drangsalierte. Oft musste sie eingreifen, weil Chelsea sich auf Amber setzte, ihr Würmer zu essen gab oder versuchte, ihr mit Wasser aus der Toilette die Zähne zu putzen.
Arme kleine Amber. Chelsea schlug sich durch, sie würde immer zurechtkommen. Derek kam schließlich auch immer zurecht, nicht wahr? Aber Amber brauchte von Anfang an jemanden, der auf sie aufpasste, jemanden, der ihr durchs Leben half, und Margaret war entschlossen, ihre kleine Tochter niemals im Stich zu lassen.
Georges Karriere war nicht aufzuhalten. Während das Land unter Arbeitslosigkeit litt und durch Streiks gelähmt wurde, ging es George und Margaret besser denn je. Alles, was George – auf Rat seiner Frau – anfasste, schien sich in Gold zu verwandeln. Inzwischen belegten er und sein Team eine komplette Etage in dem Bürogebäude in der Regent Street, in der sich eine neue Tochterfirma von Davidson and Davidson niedergelassen hatte: Hier kümmerte man sich um das Management der Bands, beriet sie finanziell, verwaltete das anwachsende Vermögen. Und zu Hause hätte er auch nicht glücklicher sein können. Er liebte seine beiden Töchter hingebungsvoll und war ein freundlicher, rücksichtsvoller Partner. Die anderen Hausfrauen in Weybridge versicherten Margaret immer wieder, dass sie sich glücklich schätzen konnte: Ihr George sei der ideale Ehemann.
Ich weiß, hätte sie gerne gesagt. Er ist freundlich und gut und fürsorglich. Er steigt immer weiter auf. Wir lieben unsere Töchter. Er ist intelligent, hält sich fit, kleidet sich gut und ist immer eine rundum gepflegte Erscheinung. Alles ist perfekt. Nur ein paar Kleinigkeiten stimmen leider nicht. Zum Beispiel, dass Chelsea die Tochter seines Bruders ist. Dass wir erst ein einziges Mal miteinander geschlafen haben und das erst, nachdem ich ihn verprügelt habe. Ja, meine Damen. Leider kriegt er keinen hoch. Oder vielleicht schon – nur nicht bei mir.
Irgendwann musste es also geschehen. Und es geschah ausgerechnet, als alles so perfekt schien. Es war an einem Tag Anfang April im Jahr 1983. Margaret war mit dem Frühjahrsputz beschäftigt, Hausarbeit war für sie immer ein Trost. Sie war die Einzige in ihrer Straße, die keine Putzfrau hatte. Wie sie George erklärte, war sie nicht zu stolz, die Arbeit selbst zu machen.
Sie wohnten nun seit vier Jahren im Bay Tree House, und noch immer betrachteten sie es zufrieden als ein Symbol ihres Aufstiegs: Es war ein langer Weg vom Black Horse und der Hopkin Road bis in diese reiche Gegend. Ihre Töchter spielten draußen im Garten, sie konnte hören, wie Chelsea ihrer kleinen Schwester Befehle zubrüllte. Margaret stand in der geräumigen Küche und blickte durchs Fenster hinaus, wo die beiden gerade die Köpfe – der eine goldblond, der andere dunkel – zusammensteckten und etwas im Gras betrachteten.
Es klopfte am Fenster vor dem Spülbecken. Margaret fuhr zusammen und blickte auf.
»Hallo, Engel«, sagte Derek Stone. Seine Stimme drang gedämpft durch das Glas.
Mit offenem Mund starrte sie ihn an. Er sah noch genauso aus wie vor Jahren. Ihr Herz begann zu rasen, und sie brachte kein Wort hervor. Margaret Stone, die inzwischen stets kühl, gefasst und beherrscht war, war sprachlos.
»Hast du mich vergessen?«, fragte er und lächelte. Oh, dieses Lächeln!
Margaret rang um Fassung. Sie räusperte sich und strich sich die Haare zurück. »Na, wenn das keine Überraschung ist. Komm doch rein!«
Sie ging zur Seitentür und ließ ihn herein. Er betrat die Küche mit der für ihn typischen Zuversicht, als ob er hier wohnte, und beugte sich vor, um sie zu küssen, aber sie wich zurück.
»Ich dachte, du seist noch im Gefängnis«, sagte sie. Sie musste unbedingt die Oberhand behalten. Bei genauerer Betrachtung sah sie, dass er dunkle Schatten unter den Augen hatte und sein Haar kürzer war als früher. Er duftete nach einer Mischung aus Aftershave und einem Hauch Schweiß, und sie betrachtete die starken Arme, die Hände, die Haut, die sie auf ihrer gefühlt hatte, dachte daran, wie er sie zum Lachen gebracht hatte, wie sie in unbeherrschter Lust unter ihm geschrien hatte …
Der totale Kontrollverlust. Das war es, was Derek Stone für sie bedeutete.
Und das würde ihr nie wieder passieren.
»Wegen guter Führung frühzeitig entlassen.« Er nickte. »Ernsthaft. Ich bin ein geläuterter Mann, Maggie.«
»Na, sicher.«
Er ignorierte die Ironie. »Letzte Woche hat man mich gehen lassen. Es war nicht leicht, dich zu finden, aber ich wollte dir unbedingt einen Besuch abstatten.« Er lächelte, dann zog er den Kopf ein. »Euch natürlich. Dir und deinem Mann – man munkelt, er hieße George, richtig?« Er grinste über seinen Scherz, aber sie verzog keine Miene. »Wo ist denn dein Herr und Meister?«
»George ist bei der Arbeit«, sagte sie. »Es ist drei Uhr nachmittags – wo soll er sonst sein? Aber ich rufe ihn an und sag ihm, dass du hier bist. Er will dich bestimmt auch sehen.«
»Bestimmt«, sagte Derek bemüht jovial. »Ja … du wirst deinen Mann ja kennen, nicht wahr, Maggie? Schon merkwürdig, wie sich die Dinge manchmal entwickeln.«
»Ja«, gab sie zurück. Noch immer sah sie ihn mit unbewegter Miene an. »In der Tat.«
»Du hast dich überhaupt nicht verändert.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du bist noch genauso schön wie früher.«
Sie schob seine Hand weg. »Fass mich nicht an.«
»Es tut mir leid«, sagte Derek. »Ich bin nur gekommen, um … genau das zu sagen. Es tut mir leid. Wirklich. Ich war ein Schwein. Ich kann verstehen, wenn du mich hasst, Maggie. Aber ich habe meine Lektion gelernt, glaub’s mir.«
»Ich nenne mich jetzt Margaret«, sagte sie. »Margaret, bitte.« Sie wandte sich dem Spülbecken zu und schloss einen kurzen Moment die Augen. »Das alles ist schon lange, lange her, Derek. Vieles hat sich geändert, okay?«
»Ich weiß«, sagte er. Er schob die Hände in die Taschen. »Und so ist es auch gut. Ich wollte nur … als ich damals abgehauen bin, hat Camilla mir erzählt, dass du schwanger warst. Ich habe angenommen, dass du …«
An der Tür ertönte ein Geräusch, ein Klappern, als jemand die Tür aufstieß, dann das Trappeln kleiner Füße auf Linoleum. Chelsea kam in die Küche gestürmt. Die dicken schwarzen Locken fielen ihr wirr in das erhitzte Gesicht, in dem Schmutzflecken prangten, und die Knie der Hose waren grün von Gras. Als sie die Erwachsenen sah, blieb sie stehen.
»Mum!«, brüllte sie. Ihre blauen Augen glühten vor Zorn. »Amber hat meine Barbiepuppe kaputt gemacht. Der Arm ist ab.« Dann wandte sie sich flüchtig Derek zu. »Hallo.«
»Hallo«, erwiderte Derek. »Wer bist du denn?«
»Chelsea«, sagte Chelsea und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. Margaret zuckte innerlich zusammen, konnte sich jedoch nicht rühren.
»Und wie alt bist du?«, fragte Derek leise.
»Fünf«, sagte Chelsea und fügte stolz hinzu: »Fünf Jahre und drei Monate.«
Derek starrte das Mädchen einen Moment lang schweigend an. Und schluckte. »Okay.«
Margaret streifte sich die Gummihandschuhe ab. Sie holte tief Luft und sah sich in ihrer makellos sauberen und ordentlichen Küche um, bis ihr Blick bei ihrer Tochter verweilte. »Chelsea«, sagte sie ruhig, »das ist dein Onkel Derek.«