55
Chelsea machte die Tür selbst auf.
»Treten Sie ein«, sagte sie.
»Hi.« Sally Miller lächelte sie mechanisch an. Sie hatte Ringe unter den Augen und trug Jeans und T-Shirt. In den zwei Jahren, die Chelsea nun hier war, hatte sie Sally Miller noch nie in Jeans gesehen. »Und danke.«
Sie betrat den Flur, und ihre Schritte waren schleppend. Chelsea fragte sich unwillkürlich, ob sie getrunken hatte. »Sollen wir hier hineingehen?«, fragte sie und deutete auf das Wohnzimmer. Bevor alles schiefzulaufen begonnen hatte, war sie kaum hier drin gewesen; sie hatte sich am Pool aufgehalten oder war an Drehorten, auf Reisen oder bei Besprechungen gewesen. Doch nun, da ihre Welt quasi zusammengestürzt war, gab es nicht mehr viel zu tun. Sie verbrachte viel Zeit vor dem Fernseher und gab sich Mühe, nicht gar so viel Junkfood in sich hineinzustopfen.
Dementsprechend chaotisch sah es in dem Wohnzimmer auch aus: Überall lagen Klatschblätter, leere Dosen Cola light, leere Chipstüten herum. Auf dem Rodeo Drive draußen waren alle edlen Boutiquen mit eleganten Schleifen, Stechpalmen- und Tannenzweigen und blinkenden Lichterketten geschmückt, und die Straßen wurden von leuchtenden Weihnachtsmännern gesäumt. Hier drinnen war es, als gäbe es kein Weihnachten. Sally stieg über den Müll und ließ sich aufs Sofa sinken, in dem ihre zarte Gestalt fast verschwand. Chelsea konnte den Blick kaum abwenden. Sie und Leo waren an dem Tag, als dieses Sofa geliefert wurde, darauf übereinander hergefallen – einmal, als es noch in der Plastikhülle steckte, ein zweites Mal ohne Hülle …
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Wodka Tonic, sehr gerne«, sagte Sally. »Danke.« Sie lächelte wieder automatisch und fuhr sich mit der Hand durch das schlaffe Haar.
Chelsea zog eine Augenbraue hoch, während sie sich umwandte. Wow, die Lady war wirklich in keinem guten Zustand. Sie mixte den Drink, schenkte sich auch einen ein, dann reichte sie Sally ein Glas. Noch bevor sie saß, ergriff Sally das Wort.
»Also, ich denke, dass wir beide mit Leo eine Rechnung zu begleichen haben.«
»Was ist denn zwischen Ihnen und ihm passiert?«, wollte Chelsea wissen.
»Nichts Wichtiges.« Sally lächelte geschmeidig. »Mir ist nur endlich aufgefallen, dass er ein Mistkerl ist.« Sie machte eine Pause und fuhr dann fort, als rede sie über einen Liebhaber: »Ich habe ihn gestern verlassen.«
»Wow«, sagte Chelsea. »Aber wieso …«
»Wir hatten einen Riesenkrach.« Sie sprach ruhig. »Ich habe ihm ein paar Wahrheiten gesagt. Dinge, die ich schon viel früher hätte sagen müssen. Und er meinte …«
Ihre Gesichtszüge schienen ein wenig in sich zusammenzufallen, und sie senkte den Kopf.
Chelsea zögerte; sie war nicht der Typ, der andere in den Arm nahm und Händchen hielt, schon gar nicht bei einer menschlichen Maschine wie Sally. »Was denn? Was hat er gesagt?«, fragte sie stattdessen mit einer Stimme, die, wie sie hoffte, interessiert und mitfühlend klang.
Sally stieß einen kleinen Schluchzer aus; sie klang wie ein Tier, das Schmerzen litt, und Chelsea konnte sie kaum ansehen. Doch dann blickte Sally wieder auf und bleckte ihre weißen Zähne. »Er hat ein paar wirklich hässliche Dinge zu mir gesagt.«
Du traurige, ausgetrocknete, alte Schlampe. So redest du nicht mit mir. Ich habe dich eingestellt, und wenn du jetzt gehst, dann wird niemand anderes dich mehr haben wollen, egal, in welcher Hinsicht. Wer sollte dich denn noch vögeln, meine Liebe? Du bist wie ein Stück Leder, das man geliftet hat. Du bist jämmerlich. Jämmerlich …
»Zum Beispiel?«, fragte Chelsea.
»Das tut jetzt nichts zur Sache«, antwortete Sally scharf, und Chelsea begriff, dass sie besser nicht insistierte. »Jedenfalls habe ich das Gefühl, als sei ich endlich wieder bei Verstand. Zum ersten Mal seit Jahren«, fügte sie aufrichtig hinzu. »Leo weiß es nicht, aber ich habe etwas gegen ihn in der Hand. Und ich will Rache. Ich will, dass er zahlt und dass jeder erfährt, was für ein Schwein er ist.« Sie rang die Hände im Schoß, bemerkte es, verschränkte sie und erhob sich. »Aber ich brauche Ihre Hilfe.« Sie sah sich um. »Haben Sie irgendwo noch einen VHS-Player?«
Chelsea nickte, leicht beschämt, in Richtung Entertainment-Schrankwand. »Da drin ist einer.« Sie wollte Sally lieber nicht sagen, dass sie ihn gekauft hatte, um sich die Bänder anzusehen, auf die ihre Mutter damals pflichtbewusst jede Folge von Roxys neun Leben aufgenommen hatte. Wenn sie nicht schlafen konnte, was momentan fast jede Nacht der Fall war, wenn es ihr einmal mehr so vorkam, als lebte sie in einem Alptraum, oder wenn sie nicht mehr wusste, wer sie war und wie sie hierhergelangt war, dann kuschelte sie sich aufs Sofa, schob eine der zahlreichen Kassetten in den Rekorder und sah sich an, wie Roxy einem Lehrer die Meinung sagte, einem Schläger eine Falle stellte oder etwas anderes herrlich Unkorrektes tat. Die Titelmelodie tröstete sie genauso wie der fast amateurhafte Aufbau der Kulissen. Und, ach ja, das Sofa am Set von Roxys Zuhause, auf dem sie sich mit ihrem Filmbruder Gary stundenlang gestritten hatte … Es war, als sähe sie eine Version ihrer wahren Vergangenheit. Toxic Roxy. Die Zeiten waren elend lange vorbei.
Das aber konnte sie Sally nicht erklären. Und wollte es auch nicht.
»Das ist gut«, sagte Sally. »Ich habe nämlich ein paar Bänder, die wir uns ansehen sollten. Wir müssen sie allerdings erst holen.«
»Was? Was für Bänder?«
»Wussten Sie, dass Leo in jedem Zimmer seines Hauses eine Kamera hat?« Sie setzte sich wieder zurück und wirkte nun ganz professionell.
»Ja, das hat er mir vor kurzem mitgeteilt«, erwiderte Chelsea.
»Sie werden nach vierundzwanzig Stunden gelöscht«, erklärte Sally. »Ursprünglich hat die Versicherung es verlangt – wir hatten drei oder vier Einbrüche pro Jahr, und dabei ging es um eine Menge Geld.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Ja.« Sally nickte, dann huschte ein seltsamer Ausdruck über ihr Gesicht. »Wie ich schon sagte, die Bänder werden gelöscht. Normalerweise. Aber Leo ist nun einmal abartig. Manche Bänder behält er. Und manche Bänder sieht er sich immer wieder an.«
Chelsea ließ den Kopf in die Hände sinken. »Dieser verdammte Mistkerl. Das hätte ich mir denken können.«
»Ja, eigentlich schon.« Sallys Stimme klang weder hämisch noch anklagend, sie stellte einfach nur fest. »Gerade Sie hätten es ahnen müssen, denn Sie sind schlauer als die meisten.« Sie beugte sich vor. »Aber auch Leo hätte es besser wissen müssen. Er hält sich nämlich für enorm clever. Aber wenn wir uns einige Kassetten, die ich aufbewahrt habe, beschaffen können, dann ist er erledigt, glauben Sie mir.«
»Was … was ist auf diesen Bändern?« Chelsea traute sich fast nicht zu fragen.
»Hat Amber Ihnen irgendwann einmal von Tina erzählt? Oder Maria?«
»Von wem?« Chelsea sah sie verständnislos an.
»Tina war Leos Haushälterin. Jahrelang. Sie hatte eine Tochter, Maria. Hat Amber sie nie erwähnt? Sie hatte sich mit ihnen angefreundet, als sie nach L. A. kam. Im Grunde genommen waren sie ihre einzigen Freunde hier, nachdem Leo diesen Tänzer, diesen Choreograph, losgeworden war.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Chelsea. »Wir haben damals nicht besonders oft miteinander gesprochen.«
Vage erinnerte sie sich an Ambers erste Zeit in den USA, als sie mit fast kindlichem Enthusiasmus von Leo, seinem Haus, von all den Leuten erzählt hatte, und, ja, jetzt erinnerte sie sich, dass Amber auch von einem Mädchen gesprochen hatte, mit dem sie schwimmen und wandern war … »Aber diese Tochter … war die nicht noch ein Kind?«
»Ja. Sie war fünfzehn.« Sally klang grimmig. »Hören Sie zu. Hören Sie einfach zu, was er getan hat.«
Und dann begann Sally zu erzählen.
Ja, Leo hatte ein Geheimnis. Ein dunkles Geheimnis.
Vor sieben Jahren hatte es eine Phase gegeben, in der er sehr frustriert gewesen war. Amber war soeben nach L. A. gekommen und mit ihrer Mutter vorübergehend bei ihm eingezogen, während sie ein Haus zur Miete suchten. Er begehrte Amber – er begehrte immer das, was er nicht haben konnte. Sie war jung, sah noch jünger aus, sie war knackig und in jeder Hinsicht heiß.
Nur Sally wusste, wie schlimm es wurde, wenn Leo sich etwas verkneifen musste.
Leo war es klar, dass er Amber nicht haben konnte – noch nicht jedenfalls. Sie war außerhalb seiner Reichweite; Margaret ließ sich zwar von ihm bezaubern, war aber nicht dumm. Sie hatte schon einiges erlebt und kannte sich mit Männern wie Leo aus. Aber wie auch immer – Amber war für Leos Karriere zu wertvoll, als dass er sich diese Chance auf den Hauptgewinn zerstört hätte.
Aber Personal … das Personal war eine ganz andere Sache.
Eines Abends, als Amber und Margaret unterwegs waren, geschah es. Leo war sexuell frustriert, einsam und schlecht gelaunt. Marias Mutter, Tina, war im Kino, und Maria ließ sich leicht überreden, sich am Pool zu ihm zu setzen und etwas zu trinken. Maria fühlte sich enorm geschmeichelt. Leo war immerhin eine wichtige Persönlichkeit, dazu sehr attraktiv und witzig. Maria träumte davon, ein Star zu sein wie ihre neue Freundin Amber. Und Leo riss sich zusammen, beobachtete und machte sich an die Arbeit.
Erst ein Drink, dann ein weiterer. Und noch einer.
Und dann gerieten die Dinge außer Kontrolle.
Als Tina in der Nacht zurückkehrte, fand sie Maria bewusstlos am Pool, wo sie gestürzt war. Sie blutete aus einer Kopfwunde, Blut auch unter den Fingernägeln, und ihre Kleider waren zerrissen.
Leo rief seinen privaten Arzt. Man brachte sie ins Krankenhaus, und Leo zahlte stattliche Summen an die Leute in den richtigen Positionen. Ein Aneurysma, lautete die Diagnose anschließend. Maria war fünfzehn Jahre alt und würde nie wieder aufwachen. Sie hing an Maschinen, die sie am Leben hielten und jeden Monat Tausende von Dollar kosten würden.
Tina war nicht dumm. Bei allem Kummer ahnte sie, was wirklich geschehen war. Sie kannte Leo und wusste, dass er ein Auge auf Maria geworfen hatte. Und nun würde ihre Tochter nie wieder erwachen, und dafür musste Leo bezahlen!
Aber was konnte sie tun? Sie war illegal in den Staaten, und wenn sie zur Polizei ginge, würde man sie ausweisen. Tina hatte also keine Wahl, als sich auf Leos Bedingungen einzulassen.
Leo zahlte alle Krankenhausrechnungen und richtete einen Treuhandfonds für die Familie ein. Dazu musste er Sally einweihen.
Allerdings erzählte Leo ihr nicht alles, und Sally hätte nicht sagen können, warum sie die Bänder der Sicherheitskameras an sich nahm, als sie an jenem Morgen ins Büro kam, und neue einlegte. Leo hatte keine Ahnung, dass sie noch existierten. Und Sally hatte keine Ahnung, warum sie sie die vielen Jahre über behalten hatte …
»Eine Art Versicherung, nehme ich an«, erklärte sie Chelsea und verzog das Gesicht. »Vielleicht habe ich immer geahnt, dass es so kommen würde.«
Chelsea lächelte. »Und ich denke, damit kriegen wir ihn.«
»Aber nur, wenn wir die Bänder bekommen«, sagte Sally nüchtern. »Die sind nämlich noch im Büro.«
»Dann holen Sie sie doch.«
Sally presste die Lippen zusammen. »Ist nicht so einfach. Er hat nämlich die Schlösser ausgetauscht. Und niemand lässt mich mehr hinein.«
»Ernsthaft?«
»Ja, leider. Ich war heute Morgen da und habe behauptet, ich hätte eine seiner dämlichen Broschen vergessen, aber die Security lässt mich nicht einmal durchs Tor.«
Chelsea ballte die Faust. »Mist«, sagte sie. »Mist. Gibt es jemanden, der …«
Sally schüttelte den Kopf. »Ähm … nicht wirklich. Ich habe nicht so viele Freunde dort, müssen Sie wissen. Das war mir bei dieser Stelle nie wichtig.« Sie starrte vor sich hin. »Es ging immer nur um ihn. Die anderen haben mich nicht interessiert.« Als sie hochblickte, hatte sie Tränen in den Augen. »Ich muss es ihm einfach heimzahlen«, sagte sie. »Und Sie auch. Und wenn schon nicht für Sie oder mich, dann für dieses arme Mädchen. Tina war wirklich dumm. Sie hätte ihn vor Gericht zerren und Millionen an Schmerzensgeld einklagen müssen.«
»Was machen wir jetzt also?«, fragte Chelsea.
»Wir? Sie helfen mir also?«
»Natürlich«, sagte Chelsea, und Sally löste die Finger und reichte Chelsea die Hand. Keine von beiden lächelte.
»Wir brauchen jemanden, dem er vertraut. Eine Person, die ins Büro kommt und die Bänder holen kann.«
»Mich können Sie ja wohl nicht meinen.« Chelsea musste beinahe lachen. »Ich habe ihm Pieces of Heaven praktisch unter der Nase weggeklaut. Und dafür will er mich vernichten.« Sie konnte sich noch gut an den fast irren Ausdruck in seinen Augen erinnern, an den Schmerz, als er ihr in die Brustwarze gebissen hatte … Sie schauderte. »Ich bin wahrscheinlich die einzige Person, die er noch schneller vor die Tür setzen würde als Sie.«
»Sie haben recht, Sie meine ich auch nicht«, sagte Sally. »Chelsea … wir brauchen Amber.«
»Aber ich weiß nicht einmal, wo sie ist. Sie hat ihre Nummer geändert. Ich denke, sie ist in New York, aber ich bin mir nicht sicher.«
»Dann müssen wir sie eben suchen. Ein bisschen Zeit haben wir noch, wenn auch nicht besonders viel.« Sally atmete tief durch. »Wir müssen an den Safe, bevor jemand anderes herausfindet, was ich da versteckt habe. Sie suchen nach Amber, okay?«
Chelsea nickte. »Okay.«