Erster Teil

KILLER QUEEN

1

London, 1976

Sie hatte es geschafft. Sie war endlich und tatsächlich angekommen.

»Und ich werde ein Star«, flüsterte Margaret Michaels, als sie zu den Lichtern von Piccadilly Circus emporblickte. »Oh ja. Und niemand wird mich daran hindern.«

Sie schauderte in der kühlen Septemberluft und verzog beim Klang ihres nordenglischen Akzents angewidert das Gesicht. Obwohl Margaret erst sechzehn Jahre alt war, nahm sie schon seit einem Jahr Sprechunterricht, um wie ihr Idol Julie Christie zu klingen. Und nun war sie endlich hier, in London, ganz allein und wild entschlossen, ihren Traum wahr zu machen.

Denn seit sie klein war, hatte sie immer nur das eine sein wollen: ein Star.


Im Alter von zwölf Jahren teilte Margaret ihren Eltern mit, dass sie von nun an nur noch auf den Namen Maggie hören würde. Mit dreizehn begann sie, ihr Taschengeld zu sparen. Als sie vierzehn geworden war, verschaffte sie sich einen Job bei Toni’s, dem Friseur, der sich nicht weit von der schäbigen Nebenstraße Sheffields befand, in der das kleine Reihenhaus ihrer Eltern stand. Der Fußweg dorthin dauerte nur zehn Minuten, doch es war, als beträte man eine ganz andere Welt – eine magische Welt, die nichts mit rostigen Stahlwerken, müden Männern und Frauen, Streiks und Depressionen zu tun hatte. Toni’s bedeutete Glitzer und Glamour, bedeutete magere Mädchen, die wie Glenda Jackson aussahen, köstliche Düfte nach Haarspray und Parfums, bedeutete das Versprechen auf Starruhm und Flucht aus dem Mief und der Enge der Kleinstadt.

Maggie fegte den Boden, kochte Tee und Kaffee, wusch Haare und beobachtete, wie mausgraue, scheue Hausfrauen mit mattem, farblosem Haar den Salon betraten und ihn mit strahlendem Gesicht, leuchtenden Augen und nach Elnett duftend wieder verließen. Maggie sah zu, hörte zu und lernte. Sie hätte umsonst gearbeitet, nur um sich in dieser Zauberwelt bewegen zu dürfen, aber der Wochenlohn von einem Pfund war auch nicht zu verachten. Damit war es ihr möglich, Sprechunterricht zu nehmen und sich bei Castle House, dem schicken Kaufhaus in der Innenstadt, die neue Handtasche, Lidschatten und Parfum zu kaufen.

»Komm mir ja nicht auf dumme Ideen, junge Dame«, sagte Ron Michaels nicht nur ein Mal. »Schämst du dich deines Vaters, Margaret? Ist es das? Ist Sheffield nicht mehr gut genug für dich?«

»Nein, Dad, natürlich nicht«, antwortete Maggie jedes Mal brav. Aber sie log. Sheffield war alles andere als gut genug für sie. Sie war etwas Besonderes, und sie würde etwas daraus machen, auch wenn sie nicht wusste, was und wie. Ihr Vater war Stahlarbeiter und ihre Mum … na ja, mit ihrer Mum stimmte irgendetwas nicht, aber keiner wusste so genau, was. Sie lag die meiste Zeit im Bett und fürchtete sich vor ihrem Mann, ihrem eigenen Spiegelbild und zunehmend auch vor ihrer eigensinnigen, wunderschönen, einzigen Tochter, die, zumindest was Maureen Michaels betraf, von einem fremden Planeten zu stammen schien. Es war, als habe ein außerirdisches Volk sie auf ihrer Schwelle ausgesetzt, auf dass sie im Laufe der Jahre zu diesem befremdlichen, ätherischen Wesen mit endlos langen Beinen, rotblonder Mähne, makelloser Haut und riesigen grünen Augen heranwuchs, die vor Zorn blitzen und vor Freude funkeln konnten.

Nein, Sheffield war nicht groß genug für Maggie, und als sie in die Pubertät kam, wuchs ihre Gewissheit, dass sie nicht hierhergehörte: Maggie war entschlossen, nach London zu gehen, um ihre Träume wahr zu machen. Die Mädchen in der Schule hassten sie. Sie waren überzeugt, dass Maggie sich mit ihrer gestelzten Sprache, ihrem hochnäsigen Tonfall und den piekfeinen Manieren für etwas Besseres hielt, und Maggie war es nur recht, denn sie konnte mit den anderen ohnehin nichts anfangen. Es waren pickelige ungepflegte Bauerntrampel, die heimlich auf dem Schulklo rauchten und für dumme Jungen wie Showaddywaddy oder Bay City Rollers schwärmten – jämmerlich!

Sie dagegen stand auf erwachsene Musik. Gereifte Musik. Die Stones, Dusty, Jimi. Sie liebte die kluge Eingängigkeit von Queen, die Coolness von Bad Company, den schmutzigen Touch und die rohe Energie von Led Zeppelin. Das war Musik. Musik, die ins Blut ging. Wenn sie »Can’t get enough«, »Jumpin’ Jack Flash« oder »Killer Queen« hörte, fühlte sie sich wie eine Frau. Wer, zum Teufel, wollte schon ein paar Milchbärte hören, die »Bye Bye Baby« trällerten?

Das waren Jungs. Maggie wollte Männer.

Auch die Jungen aus dem Ort interessierten sie nicht. Natürlich waren sie scharf auf dieses Mädchen mit der Haut wie Sahne, den knospenden, festen Brüsten und den vollen dunkelroten Lippen, über die sie sich unbewusst immer wieder mit der Zungenspitze fuhr. Aber Maggie hatte nichts als Verachtung für sie übrig: die Mitesser, die linkischen Gesten, die hüpfenden Adamsäpfel und ihre glotzäugigen Blicke, die sie an Kaninchen im Scheinwerferlicht erinnerten.

Von der Schule ging Maggie meistens allein nach Hause und kümmerte sich weder um die Mädchen, die vor ihr herhüpften, noch um die Jungen, die in ihrer Nähe herumlungerten, Dosen über die Straße traten und ihr begehrliche Blicke zuwarfen. War sie einsam, wenn sie an ihnen vorbeischwebte und ihr Haar nach hinten warf? Oh nein, das war sie nicht. Maggie bewegte sich nach ihrem eigenen Soundtrack. Wenn sie durch den Park nach Hause ging, war sie Julie Christie, die zu einer Verabredung mit Terence Stamp unterwegs war, Faye Dunaway an der Seite von Warren Beatty, Anita Pallenberg mit der Zigarette zwischen den Lippen. Dies war die Musik, die in ihrem Kopf spielte, die Begleitmusik für den Film ihres Lebens, der bald zur Realität werden würde, dessen war sie sich ganz sicher …

Im September 1976, zwei Monate nach ihrem sechzehnten Geburtstag, erkannte Maggie, dass es in Sheffield für sie endgültig nichts mehr zu holen gab. Sie erklärte den Mädchen bei Toni’s, dass sie nach London gehen würde. »Um berühmt zu werden«, fügte sie hinzu, und dort war man so beeindruckt, so fasziniert von der ruhigen, kleinen Maggie Michaels, dass die Friseurmeisterin ihr am letzten Tag kostenlos Strähnchen ins Haar machte. »Sieh es als Abschiedsgeschenk«, sagte sie, während sie Maggie die badekappenähnliche Haube über den Kopf stülpte und Strähne um Strähne durch die Löcher zog. »Als etwas, das dir ein Stückchen weiterhilft.« Maggie lächelte ihrem Spiegelbild verunsichert zu. »Nicht, dass du es nötig hättest«, fügte Janine hinzu. »Wirklich nicht.«

Und so winkten sie ihr, als sie nach Feierabend davonzog und ihr rotblondes, nun mit karamellfarbenen Strähnen durchzogenes Haar im Abendwind flatterte. Danielle, die Salonbesitzerin, hatte ihr eine Flasche Quiktan in die Hand gedrückt. »Das Zeug stinkt erbärmlich«, hatte sie gesagt, »und macht Streifen, wenn du es nicht sorgfältig aufträgst. Aber es lohnt sich. Verschafft dir die typische Kalifornien-Bräune und hebt dich von den anderen Mädels ab. Viel Glück, Schätzchen. Melde dich mal. Und denk an uns, wenn du ein Star bist.«


Fast sehnsüchtig dachte Maggie nun, da sie sich fröstelnd die Arme um den Oberkörper schlang, an sie zurück. Sie war müde und hungrig, hatte aber keine große Lust, wieder in die Herberge um die Ecke von der Victoria Coach Station, dem zentralen Busbahnhof, zu gehen, wo sie sich ein Zimmer genommen hatte. Komisch – die ganze Gegend hier um die Buckingham Palace Road klang so sehr nach Ruhm und Adel, doch hier war nichts königlich. Im Gegenteil: Die Gegend war dreckig, die Herberge feucht und schimmelig, und sie war sicher, dass es in dem Haus Mäuse gab. Maggie mochte Sauberkeit und Ordnung, und einen Moment lang wünschte sie sich sehnlichst zurück nach Hause in die warme Vertrautheit der Küche, wo ihr Vater in seinen Arbeitskleidern am Tisch sitzen und Zeitung lesen würde, während ihre Mutter Tee machte. Das tat sie jeden Nachmittag, dafür stand sie sogar auf, aber das war auch alles, was sie tat, soweit Maggie es beurteilen konnte. Was würden ihre Eltern wohl sagen, wenn sie ihren Brief fanden und sich klarmachten, dass Maggie nicht zurückkommen würde?


Liebe Mom, lieber Dad,

ich bin nach London gefahren. Ihr wisst, dass ich nicht nach Sheffield passe. Ich will mehr aus meinem Leben machen. Ich will berühmt werden. Macht Euch keine Sorgen um mich. Ich schaffe das schon.
Ich melde mich bald.

Eure Euch liebende Tochter Maggie

Würden sie entsetzt sein? Traurig? Wütend? Plötzlich erschrak sie bei dem Gedanken, wie zornig ihr Vater werden konnte. Was hatte sie getan? Aber … nein! Sie hatte einen Grund gehabt, Sheffield zu verlassen, und sie würde unter keinen Umständen zurückkehren.

Es war nun fast dunkel. Die Lichter am Piccadilly schienen heller denn je. Maggie zog ihren dünnen camelfarbenen Mantel enger um sich und machte sich auf den Weg zur U-Bahn-Station, um nach Victoria zurückzukehren. Hoffentlich würde sie nicht wieder die falsche Bahn nehmen wie auf dem Hinweg. Während sie die Treppe hinabging, warf sie einen letzten Blick durch das Geländer hinauf zu dem berühmten Platz, sah das leuchtende Rot der Coca-Cola-Reklame, das Gelb des SKOL-Banners und das Max-Faktor-Logo. Die Lichter Piccadillys besaßen hypnotische Kraft, die Atmosphäre berauschte. Maggie wusste, dass sie hierhergehörte. Und niemand würde sie daran hindern, ihren Platz zu behaupten.

Rache: Zwei Schwestern. Ein Traum. Die Stärkere gewinnt
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