28
Derek Stone hatte sich sehr gut gehalten. Er war in diesem Jahr fünfzig Jahre alt geworden, hatte eine Bestandsaufnahme gemacht und war mit dem Ergebnis größtenteils zufrieden gewesen. Kaum Grau im dichten, dunklen Haar, Augen so blau wie eh und je, und eine gute Figur, denn er lief jedes Wochenende und ernährte sich ausgewogen, um nicht aus dem Leim zu gehen. Außerdem besaß er genug Geld, um sich schicke Anzüge, Seidenkrawatten und goldene Manschettenknöpfe leisten zu können. Ja, Derek wusste, dass es ihm, verglichen mit vielen anderen, recht gutging. Verglichen mit den Kerlen, mit denen er gesessen hatte, und mit den meisten Gefängniswärtern. Und verglichen mit den alten Kumpels in Soho – die Standbesitzer auf den Märkten waren rotgesichtige, wettergegerbte Gestalten mit chronischer Bronchitis, die Nutten entweder tot oder weiß Gott wo, die Clubbesitzer und Geschäftsleute waren weitergezogen oder im Knast gelandet wie er. Er hatte seine Zeit abgesessen, war relativ unbeschadet wieder rausgekommen und hatte weitergemacht. Seine Rastlosigkeit war in diesem Fall von Nutzen gewesen.
Derek hatte aus prekären Lagen immer schon das Beste machen können und stets gewusst, wie er alles zu seinem Vorteil nutzte. Kontakte aus dem Gefängnis, Bekanntschaften in Pubs und seine blitzenden blauen Augen, die er immer dann einsetzte, wenn der Widerstand eines Mädchens (oder auch eines Kerls) gebrochen werden musste – auf diese Art war Derek wieder aufgestiegen, hatte klug investiert, ein paar Mal vielleicht auch einfach Glück gehabt. Doch die ganzen Jahre über war niemand da gewesen, mit dem er all das hätte teilen mögen. Er redete sich ein, dass es gut so war, weil er immerhin tun und lassen konnte, was er wollte. Derek war kein Mensch, der Reue empfand. Aber dennoch konnte er manchmal nicht umhin, sich zu fragen, wie die Dinge wohl gekommen wären, wenn …
Er freute sich, dass Chelsea sich an ihn gewandt hatte. Doch er war nicht dumm und dachte nicht daran, ihr unter die Arme zu greifen, ohne zu hinterfragen.
»Und was denkt Maggie darüber?« Chelsea sah ihn verständnislos an, und er beeilte sich, sich zu korrigieren: »Deine Mum. Margaret.«
»Margaret kann meinetwegen zur Hölle fahren«, fauchte Chelsea. Derek schüttelte den Kopf, aber Chelsea fuhr fort: »Ernsthaft, es kümmert mich nicht mehr, was sie denkt. Sie oder die dumme Kuh von meiner Schwester. Von jetzt an verdiene ich mein eigenes Geld, stehe auf eigenen Füßen. Ich brauche einfach nur einen Einstieg.« Fast flehend fügte sie hinzu: »Ich schufte wie ein Bauarbeiter, ich tue alles. Bitte!«
Derek betrachtete sie misstrauisch. »Du meinst es ernst, was?«
»O ja«, sagte Chelsea leise.
Diesen Ausdruck in ihren funkelnden blauen Augen hatte er lange, lange vermisst. Derek hatte Chelsea in den vergangenen Jahren nicht oft gesehen, aber wenn, dann hatte es ihn meist deprimiert. Sie war immer betrunken, selbstbezogen, peinlich gewesen. Und plötzlich machte er sich Vorwürfe, dass er es so weit hatte kommen lassen. Hatte er nicht auch eine Verantwortung ihr gegenüber? Am liebsten hätte er sich getreten. Wieder hatte er sich gedrückt, wieder war er seinen Pflichten aus dem Weg gegangen, obwohl er etwas hätte tun müssen. Und er war heilfroh, endlich wieder den Funken in ihren Augen zu sehen – sie hatte von allein begriffen, dass es Zeit war, neu zu starten. Er schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Also gut, Liebes. Du kannst bei mir wohnen, bis du dich einigermaßen sortiert hast. Und jetzt schauen wir mal, was wir für dich finden, okay?«
Ja, allen Widrigkeiten zum Trotz – oder vielleicht, weil er die Widrigkeiten so lange zurechtgebogen hatte, bis sie passten – war Derek Stone erfolgreich. Und zwar enorm, unglaublich und unanständig erfolgreich.
Manchmal musste er darüber lachen. Er hatte seine Lektion gelernt: Er wusste, wo man die Grenze zog. Er war kein Idiot mehr, der keine Ahnung hatte, dass man Miete zahlen und den äußeren Schein wahren musste.
Die Zeit im Knast hatte ihn einiges gelehrt. Er hatte sich mit einigen schwulen Bullen zusammengetan, die ebenfalls einsaßen, und schnell herausgefunden, wem man um den Bart, wem aus dem Weg gehen musste und wer Geld hatte. Anfang der Achtziger, noch vor dem Boom, hatte er in Soho billig ganze Gebäudekomplexe gekauft. Nun waren die Preise in die Höhe geschossen, und er saß auf einem dicken Vermögen.
Die Theater gehörten ihm auch noch. Zumindest einige. Amours du Derek war allerdings längst Vergangenheit. Seine heutigen Shows hatten mehr Klasse, davon war Derek überzeugt. Er war der King der Lapdance- und Poledance-Shows, und er hatte überall in Soho und West End Läden, die bei jedem Wetter und Nacht für Nacht voll waren.
Es war schon komisch, wie sich alles entwickelt hatte, aber auf dem Weg dorthin waren Menschen zu Schaden gekommen, und Derek wusste nicht, wie er dies wiedergutmachen sollte.
Er war ein echter Mistkerl gewesen, dessen war er sich bewusst. Es war jämmerlich gewesen, mit dieser blöden Schlampe Camilla wegzulaufen – und zwar nicht, weil er sie besonders gemocht hatte, sondern vor allem aus Angst vor einer Bindung durch das Baby, das in Maggies Bauch herangewachsen war. Maggie war so ernsthaft gewesen, so unschuldig. Wann immer er in ihre schönen, grünen Augen geblickt hatte, hatte er sich wertlos gefühlt, nicht gut genug für sie. Außerdem hatte er das Geld von Camillas Vater gewollt. Doch Camilla hatte ihn wie Dreck behandelt, nur weil sie aus einer reichen Familie stammte und er zu gewöhnlich für sie war.
Maggie dagegen behandelte ihn wie Dreck, weil sie ihn noch immer hasste, nicht, weil sie ihn für gewöhnlich hielt. Und so verrückt es war – Derek gefiel das.
Und sie gefiel ihm auch immer noch, was das betraf.
Und er liebte ihre Tochter. Amber natürlich auch, obwohl sie ihn an George erinnerte und Derek ganz tief im Inneren Trauer verspürte, wann immer er an seinen Bruder dachte. Er vermisste diese dumme kleine Schwuchtel – jeden Tag ein bisschen mehr –, und Amber bereitete ihm Unbehagen. Sie lächelte genauso wie George – scheu, zaghaft, lieb. Es war jedes Mal wie ein Stich ins Herz.
Nicht Chelsea. Nein, sie nicht.
Sie war sein Mädchen.
Und jetzt war es an der Zeit herauszufinden, aus was sie gemacht war.
»Hier ist es.« Derek stieß die Tür auf und bedeutete Chelsea, vor ihm einzutreten. Sie blinzelte, während ihre Augen sich langsam an die Dunkelheit anpassten. »Willkommen im Safari Sammy’s, deinem neuen Arbeitsplatz.«
Er strahlte, während Chelsea langsam hineinging.
Chelsea war kein Snob. Sie hielt sich für ein echtes Kneipenmädchen, nicht für eine Cocktail-Mieze. Sie war auch lieber mit Männern als mit Frauen zusammen. Aber das hier … nein, danke. Das ging nicht.
Nun, sicher, um drei Uhr nachmittags zeigte sich wohl kein Poledance-Club von seiner glorreichsten Seite, aber Safari Sammy’s konnte zu keiner Zeit gut aussehen. Das Safari-Thema war auf die Spitze getrieben worden. Scheußliche grüne Tentakel rankten sich die Wände hoch, und Bänke und Stühle waren bezogen mit Fellimitationen in einem derart grellen Pink, dass sogar Chelsea, die ein Faible für Leoprints hatte, flau wurde. Oben auf der schmutzigen Bühne befanden sich zwei Stangen. Ein einsames Mädchen, schrecklich dürr, schlaffes, blondes Haar, schwang sich halbherzig um eine Stange. Ihre falschen Brüste bewegten sich nicht: Sie sahen aus wie Halbkugeln, die man an einen kindlichen, knochigen Oberkörper geklebt hatte. Chelsea blickte an ihrer üppigen Gestalt herab und seufzte. Der Laden stank nach Zigaretten und billigem Rasierwasser. Es war kein shabby-chic, es war einfach nur deprimierend.
»Safari Sammy’s müsste eigentlich gut laufen«, sagte Derek, als sie sich an der Bar niedergelassen hatten und vor Chelsea ein Glas Cola-Rum stand. »Charing Cross ist nah, der Standort ist gut, und wir haben um uns herum einen Haufen anderer Läden wie diesen, die bombig laufen. Aber irgendwie kriege ich den hier nicht in Gang.«
»Die Dekoration ist grauenhaft, Derek«, sagte Chelsea unumwunden und versuchte, das bemitleidenswerte Mädchen auf der Bühne zu ignorieren. »Hier sieht es aus, als hätte jemand einen Dschungel ausgekotzt.«
Amüsiert wedelte er mit seinem Glas statt mit dem Finger. »Du befindest dich nicht in der Position, mich zu kritisieren, meine Liebe. Aber hör mir zu. Ich habe nicht behauptet, dass es ein Nobelschuppen ist, doch wie gesagt: Der Standort ist gut, und eigentlich müsste ich Geld scheffeln. Ich bin nicht darauf angewiesen und habe nicht die Zeit hierfür, weil ich mich um andere Dinge kümmern muss, also dachte ich, ich gebe den Laden für das nächste halbe Jahr dir. Mal sehen, was du daraus machst.«
»Was?« Chelsea starrte ihn ungläubig an. Sie hatte geglaubt, sie sollte hinter der Bar arbeiten. »Ich habe noch nie … aber ich kann doch keinen Club leiten, Derek!«
Derek wies mit dem Kopf in Richtung Tür, die sich neben der Bühne befand. »Da ist das Büro«, sagte er. »Ich stelle dich als Managerin ein. Wenn es nichts wird, mache ich den Laden im kommenden März dicht. Also? Willst du den Job oder nicht?«
Chelsea blickte erneut zur großen, luftigen Bühne und der sehr gut ausgestatteten Bar und erkannte das Potenzial. Der Laden war intim, aber geräumig, ein guter Club, nur mies eingerichtet. Sie mochte nichts über Nachtclubmanagement wissen, aber wohl darüber, woran es lag, dass die Gäste fernblieben. Warum wusste es Derek nicht? Nun, er konnte nicht alles wissen. Er war ein Mann, der sich lieber mit handfesten Tatsachen auseinandersetzte.
Sie dagegen war immer dann besonders gut, wenn es kompliziert wurde, alles den Bach hinunterging. Sie nickte und lächelte.
»Du spinnst. Ich habe doch keine Ahnung.«
»Das macht nichts, Chels«, sagte er. »Ich vertraue dir. Versuch es einfach.«
Ich vertraue dir. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Danke, Onkel Derek. Ich bin dir was schuldig.«
Derek begegnete über den Rand seines Glases hinweg ihrem Blick. »Liebes, es ist mir ein Vergnügen, dir helfen zu können«, sagte er sanft. »Vergiss das nie.«
Derek erwartete keine großen Erfolge, was Chelsea und Safari Sammy’s anging. Er hatte eigentlich vorgehabt, den Laden dichtzumachen – was also konnte es schaden, wenn sie es probierte und ein bisschen lernte?
Er hatte ja keine Ahnung, was aus der Bar noch werden würde.
Am ersten Tag schloss Chelsea vorübergehend das Etablissement. Mit Personal und Türsteher riss sie die Inneneinrichtung heraus. Sie überredete Derek, ihr Geld für neues Material zu geben, und in der Rekordzeit von drei Wochen ließ sie den Laden komplett renovieren. Chelsea war daran gewöhnt, ihren Willen durchzusetzen, und sie konnte mit Malern und Dekorateuren umgehen. Derek beobachtete sie vergnügt. Das Mädchen ließ sich die Butter wahrlich nicht vom Brot nehmen.
Nachdem sie den Club geschlossen hatte, zahlte Chelsea allen Tänzerinnen zwei weitere Monatsgehälter und entließ sie. Sie warb den Barmixer eines Trendhotels ab, machte ihn zum Chef und feuerte den miesgelaunten alten Lüstling, der nur zur Arbeit erschienen war, um sich mit Blick auf die Mädchen einen runterzuholen. Sie verabschiedete auch den stellvertretenden Manager und holte sich jemanden, der den Cabaret-Club am anderen Ende von Soho, in dem sie oft zu Gast gewesen war, gerade verlassen hatte. Dann stellte sie neue Tänzerinnen ein, gutgebaute, üppige Mädchen, die Spaß an ihrer Arbeit hatten und sie mit Humor, Augenzwinkern und einem Touch Burleske versahen. Sie wussten, wie man die Kunden bezirzte und sie dazu brachte, für Privattänzchen zu zahlen, und die Mädchen taten es mit Stil und nicht, weil sie brutale Zuhälter im Nacken hatten, denn Chelsea zahlte gut.
Und sie taufte das Lokal um. Safari Sammy’s war vorbei. Der neue Laden hieß Roxy’s. Ihr fiel nichts anderes ein, und sie sah es als kleinen privaten Scherz, der den meisten Gästen wahrscheinlich entgehen würde.
Drei Monate lang machte Roxy’s enorme Verluste, da die alten Stammkunden nach der Wiedereröffnung den Laden mieden.
Im vierten Monat jedoch probierten neue Nachtschwärmer den Club aus … und kamen wieder.
Als der Club fünf Monate lang geöffnet war und Weihnachten vor der Tür stand, verteilte Chelsea in jedem Pub in Soho Flyer, in denen sie bei Gruppenbuchungen Rabatte versprach – auch Frauen mochten das Roxy’s, weil es nicht düster und schmierig war, sondern lustig und erotisch –, und die betrieblichen Weihnachtsfeiern und Männerabende verschafften ihnen bis zum neuen Jahr einen satten Gewinn.
Sechs Monate nachdem Chelsea in Tränen aufgelöst in Dereks Büro aufgetaucht war, lief der Club wie geschmiert. Es war ein derart großer Erfolg, dass Derek ihr eine Gehaltserhöhung und einen Bonus zahlte.
»Den hast du dir verdient«, sagte er. »Du hast ein echtes Händchen fürs Geschäft.«
Chelsea saß in ihrem Büro, in dem es kein Tageslicht gab, und nahm lächelnd den Scheck entgegen. Sie hätte sich jetzt gerne einen Drink genehmigt, aber sie hatte sich selbst ein Versprechen gegeben: Nie wieder Drogen und kein Alkohol, bevor sie nicht mindestens zwölf Stunden wach war. Erstaunlicherweise klappte es – oder vielleicht lag es daran, dass sie es unbedingt so wollte. Sie hatte einen eisernen Willen, und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte …
»Danke, Onkel Derek.« Sie erhob sich und strich sich den engen Rock des gutgeschnittenen Kostüms glatt. Sie trug es stets mit einem dunkelroten Spitzentop und Netzstrümpfen, so dass die Leute auf einen Blick sahen, womit sie es zu tun hatten. Sie wusste genug, um zu begreifen, dass man zu dem passen musste, was man verkaufte, und sie verkaufte Sex mit Humor. »Du hast, verdammt noch mal, recht – ich hab’s mir verdient. Und es fühlt sich richtig, richtig gut an.«