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Oh, mein Gott. Mein kleines Mädchen ist zurück!«
Margaret sprang vom Stuhl auf und drückte ihre jüngste Tochter fest an sich. »Es ist so schön, dich wiederzusehen.« Dann verstummte sie, da sie nicht wusste, was sie als Nächstes sagen sollte. Sie hatte keine Ahnung, wo ihre Tochter in den vergangenen zwei Monaten gesteckt, geschweige denn, was sie getan hatte. Etwas verlegen packte sie sie an den Schultern. »Ist alles in Ordnung mit dir, Liebes?«
Amber stellte ihre Louis-Vuitton-Reisetasche auf dem Boden ab. Als sie sich wieder aufrichtete, warf sie das Haar zurück und strahlte ihre Mutter an. »Mir geht’s blendend, Mum. Wirklich.«
»Du siehst großartig aus.« Margaret sah sie anerkennend an. »Wirklich ganz großartig. Vielleicht …« Sie biss sich auf die Lippe. »Meine Güte, wie schön du bist, Liebes.«
Vielleicht musst du vor dem nächsten Film noch ein oder zwei Kilo abnehmen, hatte sie eigentlich sagen wollen, wie Amber sehr wohl wusste. Aber sie wusste ironischerweise auch, dass sie tatsächlich nie besser ausgesehen hatte. Die Sonne hatte ihr goldene Strähnen ins bernsteinfarbene Haar gezaubert. Sie war fast den ganzen Tag draußen gewesen, war am Strand gelaufen, hatte dort gepicknickt oder Krimis gelesen. Sie war stärker gebräunt als üblich und hatte viel geschlafen, ohne eine einzige Schlaftablette zu nehmen, denn sie hatte auf ihren Körper hören dürfen, während sie sich sonst nach dem rigiden Drehplan richten musste.
Und sie sah zum ersten Mal seit Jahren wirklich klar. Sie stand auf ihren eigenen Füßen, sie hatte einen Plan, sie wusste, was sie mit ihrem Leben anstellen wollte. Kurz gesagt: Sie hatte ihre Schwester und Leo genau da, wo sie sie haben wollte. Und keiner von beiden hatte auch nur den Hauch einer Ahnung …
»Mir geht es prächtig, Mum. Es war einfach gut, eine Weile zu verschwinden. Ich habe viel nachgedacht, habe mir den Kopf durchpusten lassen und überlegt, was ich als Nächstes tun werde.«
Margaret hatte keinen Grund, davon auszugehen, dass Amber nicht mehr das brave Ding war, das ihre Mutter und Leo und alle anderen gekannt hatten. »Wann gehen die Dreharbeiten weiter?«
»Zu was?«
»Zu Secret Sisters«, sagte Margaret. »Hat Leo das Projekt nicht eingefroren, bis du wieder zurück bist?«
»Hoffentlich nicht«, sagte Amber. »Ich hatte ihm gesagt, dass ich den Film nicht mache.«
»Du willst den Film nicht …? Aber Amber.« Ihre Mutter war eindeutig entsetzt. »Du kannst doch nicht …«
»Doch, kann ich.« Amber lächelte. »Ich habe diese Filme satt. Ich will überhaupt nicht mehr drehen, und wenn ich ehrlich bin, hat es mir noch nie besonders viel Spaß gemacht. Ich will wieder singen.«
»Was?« Margaret umklammerte die Stuhllehne und blinzelte nervös. »Singen? Amber, du musst verrückt geworden sein! Du bist ein Star – ein Superstar sogar. Du kannst doch deine Filmkarriere nicht einfach wegwerfen!«
Sie sah so erschüttert aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Amber trat zu ihr und tätschelte ihre Schulter. »Mum, es ist nicht deine Schuld. Ich habe mich selbst dazu entschieden. Mein ganzes Leben lang hast du mich immer … unterstützt« – wenn man es nett ausdrücken wollte –, »aber nun ist es an der Zeit, dass ich mein eigenes Ding mache. Außerdem …«
Plötzlich erklang eine männliche Stimme hinter ihr. »Was ist denn hier los, hm? Zwei meiner Lieblingsfrauen zanken sich?«
Amber fuhr herum. Ein stämmiger, gutaussehender Mann um die fünfzig mit schwarzgrauem Haar und dunkelblauen Augen stand im Türrahmen zur Küche. Hosenbeine und Ärmel waren aufgekrempelt, so dass er aussah wie jemand aus EastEnders, der einen Tagesausflug ans Meer gemacht hatte. Amber riss die Augen auf.
»Ach, du lieber Himmel«, sagte sie staunend. »Onkel Derek?«
»Oje«, murmelte Margaret. »Hör zu, Amber, es tut mir leid. Er ist letzte Woche einfach aufgetaucht. Ich wollte dir Bescheid geben und habe dich anrufen, aber du bist nie drangegangen …«
»Das macht doch nichts.« Ein breites Lächeln erschien auf Ambers Gesicht, und sie ging auf ihren Onkel zu. »Das ist doch toll.« Sie schlang die Arme um ihn. »Onkel Derek! Wie lange ist es her? Jahre, nicht wahr?«
Derek drückte sie an sich. »Oh ja, Amber-Schätzchen. Lass dich anschauen. Du siehst rattenscharf aus.«
»Derek! Wie drückst du dich aus!«, schimpfte Margaret.
Er grinste. »Und deine Mum hat sich auch nicht verändert, nicht wahr? Immer noch das gleiche kleine, strenge Ding, das ich sechsundsiebzig, als sie Bardame war, kennengelernt habe.«
»Das reicht jetzt«, sagte Margaret scharf. »Er ist nur auf Urlaub, Amber. Es ist also in Ordnung, wenn er bleibt? Ich konnte ihn schlecht einfach auf die Straße setzen.«
»Natürlich ist das in Ordnung, sogar wunderbar. Ich habe Platz genug, und er kann bei dir im Gästehaus bleiben oder zu mir ins Haus kommen.« Amber packte seinen Arm. »Derek, ich freu mich so. Es ist toll, dass du hier bist.«
»Ich freu mich auch«, sagte er. »Ich wollte euch unbedingt wiedersehen, und ihr seid alle hier, ihr zwei und Chelsea auch. Ich bin so verdammt stolz auf euch.« Er warf Margaret einen Blick zu. »Ich dachte, es ist Zeit, ein paar Dinge richtig zu machen. Ich wollte eure Mum dazu überreden, wieder mit mir nach London zu kommen und ein eigenes Leben zu führen. Ihr zwei seid ja nun groß genug und braucht sie nicht mehr.«
Margaret sah ihn fast entsetzt an. »Bist du verrückt geworden, Derek, Amber braucht mich hier. Sie …«
»Ich finde die Idee großartig«, unterbrach Amber sie. Sie hängte sich die Tasche über die Schulter und strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich werde wahrscheinlich ohnehin eine Karrierepause einlegen, sobald ich hier ein paar Kleinigkeiten erledigt habe.« Sie nickte Margaret aufmunternd zu. »Mum, du solltest wirklich zurückkehren. Du könntest deine eigene Agentur aufmachen. Sie nach Dad benennen oder so ähnlich. Du wärst bestimmt absolut brillant, oder, Onkel Derek? Was meinst du?«
Derek sah erst seine Nichte, dann Margaret an.
»Komm mit mir zurück nach Soho, Maggie May«, sagte er leise.
»Nie und nimmer«, antwortete Margaret heftig. »Ich bin hier, und ich gehe nicht wieder nach London. Ich … ich …« Sie brach ab und sah ihn hilflos an.
Derek seufzte. »Jedenfalls musste ich es versuchen! Schließlich sind wir eine Familie, und das kann niemand abstreiten.« Er seufzte erneut. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wie dein Vater aussiehst, Amber?«
Amber umarmte ihn wieder. Tränen traten in ihre Augen. Der liebe alte Onkel Derek. Amber war sicher, dass er gekommen war, weil er insgeheim in ihre Mutter verliebt war. Chelsea und sie hatten schon oft Witze darüber gerissen. Sie schniefte und wandte sich von ihm ab, damit er nicht sah, dass sie weinen musste. »Ich sage Rosita, dass ich da bin. Und dann packe ich aus. Essen wir zusammen?«
Derek zögerte. Er warf Margaret einen Blick zu. »Sehr gerne, Amber. Übrigens …« Er räusperte sich. »Übermorgen sind wir mit Chelsea und Leo zum Essen verabredet. Ich dachte, du solltest das vielleicht wissen.«
»Die beiden schuften wie verrückt, Derek hat Chelsea bisher noch gar nicht treffen können«, sagte Margaret. »Wir verstehen natürlich, wenn du nicht mitkommen willst. Es ist bestimmt eigenartig für dich …«
»Nein«, sagte Amber und schüttelte lächelnd den Kopf, »schon okay. Tatsächlich würde ich wirklich gerne mitkommen. Immerhin ist es zwei Monate her, und wir müssen ein paar Dinge bereinigen. Also, mach dir keine Gedanken. Ich werde keinen Streit vom Zaun brechen oder eine Szene machen.«
»Das hätte ich auch nicht gedacht.« Margaret tätschelte Ambers Hand. »Du warst immer mein liebes Mädchen.«
Na klar, dachte Amber und lächelte Mutter und Onkel an. Träumt weiter, ihr zwei.
Amber packte ihre Sachen aus und richtete sich wieder in ihrem Haus ein. Es war schön, daheim zu sein und den Luxus genießen zu können, an den sie gewöhnt war. Sie plauderte mit Rosita, rief ihren Agenten an und meldete sich bei ein paar Freunden zurück. Obwohl sie nichts Besonderes, nichts Weltbewegendes tat, fühlte sie sich verändert. Und die diffuse Ängstlichkeit, die ihr ständiger Begleiter gewesen war, verschwand mehr und mehr.
Später am Nachmittag ging sie zum Pool, um eine Runde zu schwimmen, als sie Derek unterhalb der Wendeltreppe reden hörte.
»Wir müssen uns entscheiden, Maggie. Bleibe ich in dem hübschen Zimmer hier, oder komme ich zu dir ins Gästehaus?«
»Margaret«, korrigierte ihre Mutter. »Derek, lass es. Bitte.« In ihrer Stimme lag ein Tonfall, den Amber noch nie gehört hatte – was war es? Mit plötzlich wild hämmerndem Herzen presste Amber sich an die Wand und lauschte.
»Maggie, langsam ist doch genug Wasser den Bach hinabgeflossen, oder?« Derek sprach sanft, eindringlich. »Gib mir noch eine Chance. Komm mit mir zurück nach London, und wir starten neu.«
Sie hatte es gewusst! Amber hatte immer vermutet, dass zwischen ihrer Mutter und Derek etwas gewesen war, bevor ihr Vater sie sich geschnappt hatte. Wow! Ihre Mum!
Eine lange Stille folgte. Amber hielt den Atem an. Sie hätte die beiden jetzt gerne gesehen.
»Ich kann nicht«, sagte Margaret. »Nicht noch einmal. Du hast mich damals zu sehr verletzt.«
»Ich weiß, und es tut mir sehr leid.« Er klang verzweifelt. »Das weißt du. Es war der schlimmste Fehler meines Lebens, einfach so abzuhauen.«
»Ja«, erwiderte Margaret verbittert, »du bist abgehauen, obwohl du mich geschwängert hast. Und ich habe dich geliebt.« Ihre Stimme brach.
Amber war erstarrt. Sie hätte sich nicht bewegen können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie hatte ihre Mutter noch nie weinen hören, niemals erlebt, dass sie die Fassung verlor.
»Aber sieh dir Chelsea doch an«, sagte Derek, und sie hörte, dass er ihre Mutter in den Arm nahm. »Sieh dir unsere Tochter an, Maggie. Sie ist wunderschön, und sie hat ihren Weg gemacht. Alles ist doch gut ausgegangen, oder?«
»Ich weiß nicht«, sagte Margaret schniefend. »Ich weiß es einfach nicht mehr.«
Noch immer konnte Amber sich nicht bewegen. Es war, als hätte sie der Schlag getroffen. Aber nun wusste sie endlich, was sie aus der Stimme ihrer Mutter heraushörte. Alles ergab Sinn. Es war Zuneigung. Leidenschaft. Es war … Liebe. Ambers Blick ging ins Leere. Hatte ihr Vater es gewusst? Wusste Chelsea es? Was, zum Teufel, war damals geschehen? In ihrem Kopf entstanden wirre Gedanken, obwohl ein weiteres Puzzleteil an seinen Platz gefallen war.
Dinner mit Chelsea und Leo? Dieser Abend würde denkwürdig werden.