EPILOG

An meiner Wand hängen vier kleine Bilder, die ich einmal in einer Mülltonne gefunden habe. Jemand hat sie weggeworfen, aber ich finde sie wunderschön. Es sind ganz kleine Ölgemälde, und wenn sie auch alle völlig verschieden sind, zeigen sie doch dasselbe Motiv – ein Haus unter einem blauen Himmel, eine grüne Wiese und Blumen an einem Bach. Eines Tages werde ich mit meinen Kindern in solch einem Haus leben.

Vier Jahre ist es nun her, dass ich Sascha und Luda dieses Versprechen gab, und manchmal fühlt es sich an wie hundert Jahre. Die Zeit hat die Eigenart, sich zu verlangsamen, wenn man auf etwas wartet, das man mehr als alles sonst auf der Welt will.

Ich habe mir Mühe gegeben, die Zeit vergehen zu lassen, indem ich sie gut nutzte. Mit Hilfe der Leute vom Poppy Project bin ich wieder zur Schule gegangen. Da ich hart gearbeitet habe, konnte ich nach sechs Monaten Prüfungen ablegen, für die andere ein ganzes Jahr brauchten. Genau wie früher war ich wieder die gute, brave Schülerin! Verzweifelt wünschte ich mir, arbeiten zu können, meinen Lebensunterhalt zu verdienen und etwas aus mir zu machen, damit meine Kinder stolz auf mich wären. Zusätzlich zu Englisch belegte ich Computer- und Betriebswirtschaftskurse und fand so eine Anstellung in einem Catering-Unternehmen. Endlich war ich unabhängig und verdiente eigenes Geld, das ich niemandem abgeben musste.

Doch alle Fortschritte konnten den Schmerz nicht betäuben, und diese Jahre waren nicht leicht für mich – obwohl sich vieles in meinem Leben zum Besseren veränderte, empfand ich nach wie vor Traurigkeit und Einsamkeit, und immer wieder ergriffen die Dämonen der Wut und Verzweiflung Besitz von mir – und das trotz all meiner Bemühungen, stark zu bleiben. Ich litt unter dem, was mit mir geschehen war, und natürlich litt ich auch unter der Trennung von meinen Kindern. Ich versuchte, den Schmerz mithilfe von Alkohol zu vergessen und in kurzen Beziehungen zu Männern, die mich jedoch nicht so lieben und trösten konnten, wie ich es brauchte. Ich trauerte Murat nach, dem einzigen Mann, der mich geliebt hatte, und ich litt bald unter chronischer Schlaflosigkeit und fand nur wenige Stunden in der Nacht Ruhe. Stattdessen lag ich auf dem Sofa und starrte auf den Fernseher, und ich schob den Moment hinaus, in dem ich ins Bett gehen und dem Teufel erlauben würde, in der Dunkelheit zu mir zu finden.

Nachts musste ich unaufhörlich an meine Vergangenheit denken – an die albtraumhafte Fahrt in einer Kiste auf einem Lkw, an eine Welt der Sklaverei und Erniedrigung, in der mir die Entscheidungen über mein Geschick aus der Hand genommen worden waren. Tagsüber ging ich durch die Straßen und überlegte, ob wohl einige der Frauen, die mir begegneten, in diesem Augenblick in solch einer Existenz steckten. Ich hoffte, nicht. Ich musterte Gesichter, um zu sehen, ob ich den vertrauten leblosen Ausdruck in den Augen wiedererkannte, den ich so oft bei mir selbst gesehen hatte.

Die schlimmste Phase kam im Juni 2004, als ich furchtbare Neuigkeiten erhielt: Die ukrainischen Gerichte hatten mir das Sorgerecht aberkannt, weil ich als Mutter abwesend war. In diesen Dingen kannte ich mich nicht aus; ich bekam keine Gelegenheit, mich zu verteidigen, und auf einmal gehörten meine Kinder nicht mehr mir. Nachdem ich das erfahren hatte, lag ich drei Tage im Bett, in der festen Überzeugung, dass ich nun keinen Grund mehr hatte, am Leben zu bleiben. Wie sollte ich je die Kinder zurückbekommen? Ich wusste nur zu gut, wie es in meinem Land ablief. Es gab einen endlosen Papierkrieg, und alles ging nur im Schneckentempo voran, es sei denn, man hatte Beziehungen oder bündelweise Geld, um den zuständigen Leuten einen Anreiz zu bieten. Organisationen, die Frauen wie mir dabei helfen konnten, ihre Kinder zurückzubekommen, gab es nicht.

Aber ich wusste, ich musste kämpfen. Ich war so weit gekommen und durfte mich nicht geschlagen geben. Außerdem musste ich ja mein Versprechen halten. Ich raffte mich auf, fand einen Anwalt und begab mich auf den langwierigen Weg, meine Kinder zurückzugewinnen. Manchmal stellten sich mir die zuständigen Behörden in den Weg, Leute weigerten sich, mir zu helfen, und es dauerte ewig, bis ich die Unterschrift auf nur einem einzigen Stück Papier erhielt. Ich fragte mich, ob ich je wieder eine Mutter sein würde. Aber ich kämpfte weiter, und vor Kurzem teilte mir mein ukrainischer Anwalt mit, dass das Ende in Sicht sei. Ich hoffe, dass ich innerhalb der nächsten Monate mit meinen Kindern wieder vereint sein werde.

Im Jahr 2005 passierten zwei wunderbare Dinge. An dem für mich schönsten Tag seit vielen Jahren gewährte man mir Asyl in Großbritannien. Endlich war ich wirklich in Sicherheit, und sobald man mir meine Kinder zurückgeben würde, würden sie zu mir nach England in eine freundlichere, bessere Zukunft kommen.

Doch mein glücklichster Augenblick war der, als ich Pascha wiederfand. Er war in einer Taubstummenschule für ältere Kinder in Simferopol untergebracht. Ich hatte solche Angst, wieder mit ihm in Kontakt zu treten, aber ich wusste, dass mein Herz mir nie gestattet hätte, meinen Sohn zu vergessen, und ich hoffte, bei ihm wäre es genauso. Das erste Mal seit etlichen Jahren konnte ich ihm schreiben, und bald bekam ich einen Antwortbrief von ihm.

»Hallo, meine liebe Mama«, schrieb er. »Ich lerne in vier verschiedenen Kursen, meine Lehrerin heißt Larissa, und meine Betreuerinnen sind Nadia und Ludmilla. Ich lerne sprechen, lesen und schreiben. Ich mag meine Schule sehr gern, aber ich wünsche mir so sehr, zu dir nach Hause zu können. Ich liebe dich, ich küsse dich, dein dich liebender Sohn Pascha.«

Seine Handschrift war klar und stark, und seine Lehrerin hatte etwas hinzugefügt.

»Hallo, liebe Oxana«, schrieb sie. »Als Ihr Brief eintraf, war Pascha wirklich sehr, sehr glücklich. Er hat sich die Fotos angesehen, die Sie mitgeschickt haben, und dann hat er allen gezeigt, dass er Ihnen ähnlich sieht. Jetzt fragt er andauernd, wann er endlich nach Hause kann. Wir haben ihm erklärt, dass er noch ein kleines Weilchen warten muss. Er hat sich so sehr zum Besseren verändert – er lernt gut, und auch im Lesen und Schreiben ist er sicherer geworden. Er hat sehr darauf geachtet, in seinem Brief an Sie keine Fehler zu machen. Pascha ist ein sehr mitteilungsfreudiges und interessiertes Kind. Er kann gut zeichnen, bastelt gern mit Papier und ist sehr brav im Unterricht. Außerdem hat er viele Freunde, und alle wissen, wann er Geburtstag hat und feiern jedes Jahr mit ihm. Wir trinken dann Tee, essen Kuchen und basteln Karten für ihn. Ich wünsche Ihnen, Oxana, alles erdenklich Gute und hoffe, Sie können alles tun, was nötig ist, um Ihren Sohn zu sich zu holen. Aber fürs Erste wird Pascha stündlich auf Ihre Briefe warten.«

Ich weinte, als ich das las, küsste seinen Brief, lächelte und weinte wieder. Mein Sohn, der verschwunden war, ist gefunden.

♦♦♦

Ich weiß genau, dass ich all dies nicht erreicht hätte, gäbe es das Poppy Project nicht, und ich werde den Mitarbeitern des Projekts immer dankbar sein. Sie haben mich gerettet, als ich schon dachte, ich hätte endgültig alles verloren; sie gaben einem Leben Struktur, das auseinandergebrochen war, und sie begegneten einer Frau mit Freundlichkeit, die so lange so wenig gewusst hatte. Mit ihrer Hilfe konnte ich neu beginnen; im Dezember 2006 verließ ich das Haus, in dem sie mich untergebracht hatten, und zog in meine eigene Wohnung im selben Block wie Lara. Ich habe versucht, ein wenig von dem zurückzugeben, was ich bekam. Neben meiner beruflichen Tätigkeit leiste ich ehrenamtliche Arbeit in einem Tierheim und bei der Womenʼs National Commission, einer unabhängigen Beratungsstelle für Frauen. Ich habe vor, bald wieder zur Schule zu gehen und mich zur Friseurin ausbilden zu lassen, und ich hoffe, dass ich eines Tages mein eigenes Geschäft haben werde.

Vor einem Jahr habe ich mich in einen Engländer verliebt. Im Leben kann es keine Garantien geben, aber ich glaube, dass ich endlich jemanden getroffen habe, der mich so liebt, wie ich wirklich bin. Vielleicht habe ich nun bald so etwas wie ein normales Leben. Wir wohnen im Norden von England – einer Gegend mit grünen Bäumen, frischer Luft und freundlichen Gesichtern. Das ist nun endlich ein Zuhause für mich.

 

Heute denke ich zurück an die schrecklichen Dinge, die mir zugestoßen sind, und sie scheinen inzwischen weit weg zu sein. Nur in meinen Träumen oder in Momenten, in denen ich niedergeschlagen und deprimiert bin, kehrt der Schrecken zurück. Dann spüre ich erneut die Angst, die Gewalt und das Gefühl, nichts wert zu sein. Es macht mich so traurig, dass ich all das Schlimme der menschlichen Natur gesehen habe: Gier, Gefühllosigkeit, Grausamkeit und Selbstsucht. Ich wünschte, ich hätte die furchtbare Macht, die Männer über Frauen haben können, nicht miterlebt, wäre nicht Zeugin der Art und Weise geworden, wie Männer Frauen benutzen und dann wegwerfen und wie sie deren Körper wie Gegenstände behandeln, die nur ihrem eigenen Vergnügen dienen, oder sie wie Sklavinnen gefangen halten und Geld mit ihnen machen.

Was ist mit den Männern geschehen, die mich benutzt und dann weitergegeben haben? Wo mögen sie jetzt sein, und wen mögen sie in diesem Augenblick quälen? Ich denke an Ardy, den dummen, gierigen Jungen, und hoffe, dass sonst keine unter ihm so zu leiden hat, wie ich es tat. Ich wünsche mir, dass er eines Tages anfängt zu verstehen, was er getan hat, und erkennt, welchen Schaden er angerichtet und was für Schmerzen er verursacht hat.

Dann denke ich an Freundlichkeit – die Zärtlichkeit von Roberto, die Ermutigung durch Naz, die Treue und Beständigkeit von Lara, die Hilfe und Unterstützung, die ich vom Poppy Project erhielt – und ich versuche, mich daran festzuhalten und an das Gute zu glauben.

Der grauenvolle Frauen- und Mädchenhandel muss ein für alle Mal unterbunden werden, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um diese moderne Form der Sklaverei zu verhindern. Das Poppy Project ist eine der Möglichkeiten, Frauen zu erreichen, sie zu retten und aus ihren Geschichten zu lernen, wie wir den Mädchenhandel ausmerzen können. Wenn Sie in der Lage sind zu helfen, dann vergessen Sie bitte meine Geschichte nicht, ebenso wenig wie die tausend ähnlichen Geschichten.

Von all den Narben, die ich in mir trage, wird mein Versagen meinem Sohn Pascha gegenüber die eine sein, die niemals heilen wird. Ich sage mir, dass ich jung war, versucht habe zu überleben, und dass er viele Bedürfnisse hatte, die ich nicht begreifen konnte. Doch heute sind mein schlechtes Gewissen und meine Traurigkeit so intensiv wie eh und je. Ich hoffe nur, dass er mir eines Tages verzeihen wird. Ich weiß nicht, ob ich je in der Lage sein werde zu lernen, mir selbst zu verzeihen.

Ich hoffe nur, dass ich bald endlich wieder die Mutter sein kann, die ich so lange nicht war. Ich habe so viele Fehler gemacht, dass ich denke, das Bedauern darüber wird mich bis ans Ende meines Lebens begleiten. Aber ich weiß, dass meine Kinder eines Tages zu mir kommen werden, dass wir uns dann ein gemeinsames Leben aufbauen und sie begreifen werden, dass ich zwar nicht immer bei ihnen war, aber nie aufgehört habe, sie zu lieben. Für mich waren sie wie ein goldener Faden, der trotz aller Dunkelheit beständig leuchtete.