KAPITEL 4
Der Schnee knirschte unter den Rädern des Kinderwagens, als ich Sascha durch die Straßen schob. Es war Januar 1994, und ich war im achten Monat schwanger mit unserem zweiten Kind. An diesem Abend wollte ich Mama besuchen. So vieles ging mir durch den Kopf; es war eine Menge passiert, seit ich Papa vor achtzehn Monaten verlassen hatte, und nichts davon war auch nur halbwegs gut.
Sergej und ich waren an den einzigen Ort gegangen, der uns eingefallen war, als wir bei Papa auszogen. Er hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, er habe das Haus seiner Eltern vermietet, da konnten wir also nicht unterkommen. Stattdessen zogen wir in ein kleines Häuschen im Garten, das sich Sommerküche nannte – ein Gebäude aus Stein mit nur einem Raum. In den Fenstern fehlten die Glasscheiben, und es gab weder fließend Wasser noch einen Herd. Ich gab mir Mühe, es uns gemütlich zu machen, aber es ging nicht: Es war einfach nur kalt, zugig und erbärmlich. Zu allem Übel dachte Sergej offensichtlich, dass er mir jetzt, wo ich ihn bei seinen Lügen ertappt hatte, nichts mehr vorzutäuschen brauchte. Seine Liebe zu mir schien an dem Tag gestorben zu sein, an dem ich ihn mit der Wahrheit über ihn konfrontiert hatte. Und endlich sah ich ihn als das, was er wirklich war: ein Trinker, der die Arbeit scheute und Frau und Kind lieber hungern ließ, als das bisschen Geld herzugeben, das er mit Gelegenheitsjobs verdiente und für Wodka ausgab. An so manchen Tagen hatten wir nichts zu essen, und ich hatte Mühe, Sascha zu versorgen – die Windeln wollten nicht trocknen, weil es in der Sommerküche so kalt war, er hatte sich wundgelegen, und außerdem hatte er ständig Hunger.
Sergej und ich stritten uns die ganze Zeit und lieferten uns heftige Kämpfe, und eines Abends nach einem furchtbaren Streit, als er mit den Fäusten auf mich losgegangen war, wurde mir klar, dass ich fortmusste. An dem Abend ging ich mit Sascha zu Papas Wohnung. Ich weinte vor Erleichterung, als Papa uns in die Wärme und die Helligkeit meines alten Zuhauses bat. Endlich waren wir in Sicherheit. Irgendwie würde ich von vorn anfangen und Sergej aus meinem Leben streichen müssen.
Doch mein Glück war von grausam kurzer Dauer. Zwei Monate darauf starb mein lieber Vater ganz plötzlich im Alter von erst sechsundvierzig Jahren, ausgelaugt von einem Leben unbarmherzig harter Arbeit. Ich schluchzte auf seiner Beerdigung; die Trauer und mein schlechtes Gewissen überwältigten mich. Irgendwie hatte ich das schreckliche Gefühl, ihn getötet zu haben, nach allem, was er mit mir hatte durchmachen müssen. Ich hatte seine Freundlichkeit und seine Hilfsbereitschaft verschmäht, und es war meine Schuld, dass er tot war. Kurz darauf kam mein Bruder Vitalik und verlangte Papas ganzen Besitz. Ich hatte genug gesehen, um zu wissen, dass er Drogen nahm, und als ich in seine glasigen Augen schaute, wusste ich, dass er mir keinen einzigen Pfennig abgeben würde. Sascha und ich waren wieder ganz allein.
Bald hatte Sergej uns gefunden. Er hatte von Vaters Tod erfahren und kam nun reuig und weinend an, erzählte mir, dass er mich und das Baby liebte und uns zurückwollte. Es würde sich alles ändern, versprach er. Er habe aufgehört zu trinken und wolle sich Arbeit suchen, er wolle uns ein richtiges Heim bereiten. Er liebe mich, sagte er, und alles, was passiert sei, tue ihm ja so leid.
Ich glaubte ihm. Und das musste ich auch. In der Ukraine gab es keine staatliche Unterstützung für Frauen in meiner Situation. Ich hatte also niemanden, der mich beschützte, konnte nirgendwohin und hatte ein Kind zu versorgen, also blieb mir keine andere Wahl. Ich musste darauf vertrauen, dass mein Mann sich geändert hatte. Außerdem liebte ich ihn trotz allem immer noch. Die Kraft meiner Gefühle für ihn war unverändert stark.
Doch innerhalb von drei Wochen begriff ich, dass sich Sergej keineswegs geändert hatte, als ich wieder schwanger wurde und er das Baby von dem Moment an hasste, als es in mir zu leben anfing.
»Mit wem hast du es getrieben, als du bei deinem Vater gewohnt hast?«, brüllte er, als wir in dem eisigen Gartenhäuschen stritten, während sich Sascha die Seele aus dem Leib schrie.
»Mit keinem! Ich will dieses Baby ja auch nicht!«, brüllte ich zurück und weinte. Und das stimmte. Ich hatte doch schon Sascha, und wir lebten unter solch erbärmlichen Umständen – wie sollte ich mich da um ein weiteres Kind kümmern? Ich entschied mich für eine Abtreibung, aber als der Arzt mir sagte, es würde mich 15 Dollar kosten, war mir klar, ich könnte diese Summe nie im Leben aufbringen. Also musste ich auf eigene Faust versuchen, mein ungeborenes Kind loszuwerden. Ich hob schwere Möbel, nahm lange, heiße Bäder und stieß mir sogar die Fäuste in den Bauch, um das Kind aus meinem Körper zu lösen. Aber es tat sich nichts, also ging ich zu einer alten Frau, die mir riet, Dill in heißem Wasser einzuweichen und das Wasser dann zu trinken, und zu einer anderen, die mir ein paar Tabletten gab, die ihrer Meinung nach einen Schwangerschaftsabbruch herbeiführen würden. Es half alles nicht.
Die Monate vergingen, und allmählich begriff ich, dass mein Kind dazu bestimmt war, auf die Welt zu kommen. Gott wollte, dass ich noch ein Baby bekam, und ich musste lernen, es zu lieben. Aber tief in mir hatte ich Angst davor, wie mein Kind bei der Geburt wohl sein mochte. Ich hatte eine schreckliche Sünde begangen mit dem Versuch, mein eigenes Kind zu töten, und war mir sicher, es würde krank zur Welt kommen und voller Wut, genau wie ich. Die Schuld, die ich damals spürte, war immer noch da, auch jetzt noch, als ich auf dem Weg zu meiner Mutter war – nur Tage vor der Ankunft des Kindes.
Ich ging durch die winterliche Kälte und atmete tief die eisige Luft ein, als ich in die Straße abbog, in der Mama wohnte. Ein paar Tage zuvor hatte Sergej mich in meinen geschwollenen Bauch getreten und mich dann mitten in unserem Streit im Schnee ausgesperrt. Er hatte mich irgendwann wieder reingelassen, aber ich hatte auf einem Stuhl die Nacht verbringen müssen, weil er gesagt hatte, ich sei zu fett, um mit ihm im Bett zu schlafen. Ich hatte das Gefühl, dass er mich nur noch geschlagen hatte, seit dieses Baby in mir zu leben begonnen hatte. Heute Abend brauchte ich etwas zu essen – Brot vielleicht oder Eier –, und ich hoffte, Mama hätte etwas übrig. Ich war gerade achtzehn geworden, vielleicht wäre sie mir gegenüber milde gestimmt. Das Baby brauchte etwas, und Sascha auch.
Ich hielt den Kopf gesenkt, als mir der eisige Wind ins Gesicht blies. Es war nicht mehr weit, bald würde ich drinnen sein. Ich hoffte bloß, Sascha würde weiterschlafen und Mama nicht mit seinem Geschrei aufregen.
Als ich ankam, waren meine Mutter und ihre Freunde betrunken, wie immer.
»Was willst du denn jetzt?«, brüllte sie, eine Zigarette im Mundwinkel. »Guck dich bloß an! Du siehst ja aus wie ein Schwein.«
»Ich will nur was zu essen ...«, sagte ich. Sie grunzte, und ich folgte ihr in die warme Küche, wo sie einen Laib Brot und etwas Käse auf den Tisch stellte. Ich aß dankbar.
»Wieso kann dieser Faulpelz von einem Ehemann denn nicht für dich sorgen? Ich wusste gleich, dass mit dem nichts los ist. Wie konntest du nur zulassen, dass er dich wieder schwängert? Der kann sich ja nicht mal um ein Kind kümmern, geschweige denn um zwei.«
»Er schlägt mich, wenn ich ihn nicht lasse«, flüsterte ich.
Sie schnaubte verächtlich. »Erwarte nur nicht von mir, dass ich dir aus der Patsche helfe, mehr verlange ich ja gar nicht. Ich habe selber Probleme. Ich kann es mir nicht leisten, dich und deine Bälger durchzufüttern, es hat also gar keinen Zweck, dass du überhaupt herkommst.«
Da schmeckte das Essen in meinem Mund auf einmal wie Asche. Weigerte sich meine eigene Mutter wirklich, mir zu helfen? Sie wusste doch, wie wir lebten und was es für das Baby und mich bedeutete. Nach einer Weile ging Mama wieder zu ihren Freunden, und sie schütteten weiter ihren Wodka in sich hinein; und nachdem ich Sascha etwas zu essen gegeben hatte, trat ich in die kalte Dunkelheit hinaus und ging zurück in die eisige Sommerküche.
Ich war fast froh, als ich am nächsten Tag Blut in der Toilette sah – das Baby war wohl gestorben, ich hatte eine Fehlgeburt. Vielleicht war es ja das Beste. Was für ein Leben könnte ich diesem Kind schließlich bieten? Ich zwang mich zu warten, bis die Schmerzen im Lauf der Nacht und des darauffolgenden Tages schlimmer wurden, aber schließlich war es so arg, dass ich ins Krankenhaus musste.
»Dem Baby geht es gut«, sagte mir ein Arzt, aber ich fühlte nichts.
Drei Tage später kam mein zweiter Sohn zur Welt.