KAPITEL 35

Ich liebte Murat beinahe schon zu sehr. Ich hielt ihn für einen von Gott gesandten Engel, der mir zu Hilfe gekommen war, und ich konnte gar nicht anders, als für ihn all die Gefühle aufzubringen, um die ich so lange eine Mauer errichtet hatte. Nur mit meinen Kindern war es mir bisher so ergangen.

Murat beschützte mich, er wusste so viele Dinge über England und beriet mich in jeder Hinsicht. Er las auch sehr viele religiöse Bücher wie den Koran und redete mit mir über Dinge, von denen ich vorher noch nie gehört hatte. Bald erzählte ich ihm, wie sehr ich zu Gott gebetet und ihn angefleht hatte, mir all das Schlechte zu verzeihen, das ich tat.

»Ich glaube, ich muss wohl bestraft worden sein. Vielleicht war ich keine gute Mutter. Vielleicht habe ich bei Pascha versagt. Ich muss eine schlechte Mutter sein, denn jetzt weiß ich nicht einmal mehr, wo Pascha ist.«

»Aber du hast getan, was du für richtig hieltest«, sagte Murat mir immer wieder. »Gott hat dich auf die Probe gestellt, und du hast gezeigt, dass du stark bist. Er wird immer bei dir sein, und das darfst du nie vergessen, und du darfst auch nicht denken, dass alles deine Schuld war. Denk doch an all diejenigen auf der Welt, die weder Wasser noch Lebensmittel haben. Sie leben ihr Leben, und das solltest du auch versuchen.«

Murat war anders als alle Menschen, die ich bisher gekannt hatte, und er half mir, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Alle hatten bisher mir die Schuld gegeben, aber nicht er. Er kümmerte sich um mich, und auch wenn er kein Millionär war, bezahlte er meine Rechnungen. Im Gegenzug tat ich alles in meinen Kräften Stehende, um für ihn zu sorgen; ich kochte, wusch die Wäsche und bügelte. Für mich war das wie die Ehe, die ich nie gehabt hatte. Murat schlug mich nicht – er war freundlich und nahm mich oft in den Arm, wenn wir auf dem Sofa lagen, oder machte mir Vorschläge, wie ich mich kleiden sollte, was mir zeigte, wie sehr er sich für mich interessierte. Er war ein guter und zärtlicher Liebhaber, aber trotzdem war es schwer für ihn, mir seine Zuneigung zu zeigen. Den Grund dafür erahnte ich, als wir eines Tages in einem Café saßen und seine Freunde hereinkamen. Murats Gesichtsausdruck veränderte sich, und er verhielt sich irgendwie ausweichend.

»Könntest du dich bitte woanders hinsetzen?«, bat er mich inständig. Ich verstand und setzte mich schnell und ruhig an einen anderen Platz. Ich wartete, bis seine Freunde gegangen waren, und dann gingen wir zusammen nach Hause.

»Wieso wolltest du denn nicht, dass man uns zusammen sieht?«, fragte ich.

»Darüber musst du dir keine Gedanken machen«, sagte er achselzuckend. »Das war nur ein Gespräch unter Männern. Das brauchst du nicht zu hören. Es ging um Jobs, um Arbeit, so was eben, langweiliges Zeug.«

»Ist es dir peinlich, mit mir gesehen zu werden? Schämst du dich für mich?«

»Nein. Natürlich nicht. Aber in meiner Welt beziehen die Männer die Frauen nicht mit ein, wenn sie sich unterhalten, das ist alles.«

Ich wusste, dass er log, doch ich akzeptierte es. Er musste mich nie wieder bitten, mich woanders hinzusetzen – ich achtete immer darauf, dass seine Freunde uns in der Öffentlichkeit nicht zusammen antrafen. Sie würden keine Frau in mir sehen, sondern eine Prostituierte.

Trotz des Glücks, das Murat mir geschenkt hatte, war ich tief in meinem Innern traurig darüber, dass er mich nicht so liebte wie ich ihn, aber ich hatte Verständnis dafür. Ich schämte mich für das, was ich war; wie konnte ich da von Murat etwas anderes erwarten? Ich sagte mir, er müsse lernen, mir zu vertrauen. Ich würde meinen Körper nicht mehr verkaufen. Ich war auf dem Weg, mich selbst wieder zu respektieren, und das würde Murat bald auch tun. In meinem Land heißt es, die Zeit zeige alles, und ich musste eben nur geduldig auf den Tag warten, an dem er mir sagte, er liebe mich und wolle mich heiraten.

 

Es war eine große Erleichterung für mich, dass ich nicht mehr arbeitete und mich nicht mehr verkaufte. Der Zorn in mir war im Begriff zu verrauchen. Aber dann ergab sich das Problem, das ich am meisten gefürchtet hatte.

Seit ich von Ardy fortgelaufen war, hatte ich alle paar Wochen ein wenig Geld nach Hause geschickt. Es bedeutete mir so viel, dass ich die Kinder unterstützen konnte, und ich hatte mir geschworen, sie nie wieder zu enttäuschen. Aber da ich nicht mehr arbeitete, hatte ich auch kein Einkommen mehr, und es schien unmöglich, einen anderen Job zu finden. Ich hatte zu große Angst, Engländer um Arbeit zu bitten, weil ich keinerlei Papiere hatte und sie mich der Polizei melden könnten, also sah ich mich stattdessen in der türkischen Gemeinde um. Doch wenn ich mich für einen Job als Reinigungskraft bewarb, fragten die Männer immer wieder, wie ich aussähe und ob ich einen Freund hätte, also war mir gleich klar, was sie in Wirklichkeit suchten. Andere wollten Zeugnisse, und die konnte ich nicht vorzeigen.

Nachdem ich ein paar Wochen gesucht hatte, fand ich Arbeit in einem Café, wurde aber drei Tage darauf wieder hinausgeworfen, als ein paar Gäste mich erkannten. Deshalb freute ich mich auch so über einen Anruf von Gul, die mich fragte, ob ich nicht wieder am Empfang in ihrer Wohnung arbeiten wolle, denn sie hatte ihren Klub inzwischen wieder eröffnet. Obwohl ich eigentlich nicht in diese Welt zurückwollte, brauchte ich doch das Geld, also stimmte ich zu.

 

Bald nach meiner Rückkehr brachte Gul ein neues Mädchen in die Wohnung. Englische Mädchen arbeiteten nicht für sie, denn sie verlangte von allem, was die Frauen verdienten, die Hälfte. Die Neue jedenfalls, die sehr jung und verängstigt war, kam ganz offensichtlich aus dem Ausland. Mir war sofort klar, dass es ihr so erging wie mir.

»Sie wird hier schlafen, damit du ein Auge auf sie haben kannst«, sagte Gul, denn wenn ich nachts arbeitete, blieb ich anschließend in der Wohnung. »Sie schuldet einem Freund von mir Geld und muss schnell was verdienen, also gib ihr jeden Kunden, den du ihr zuteilen kannst.«

Ich achtete darauf, freundlich zu der Neuen zu sein, und nach ein paar Tagen erzählte sie mir ihre Geschichte. Sie dachte, sie könne mit den richtigen Papieren und einem Arbeitsvertrag ganz legal von Russland nach England gehen. Doch nachdem die Männer, die die Reise arrangiert hatten, sie am Flugplatz abgeholt hatten, sperrten sie sie ein, vergewaltigten sie und sagten ihr dann, sie schulde ihnen zwölftausend Pfund für die ganze Mühe, die sie damit gehabt hätten, sie in dieses Land zu bringen.

»Ich muss das ja bloß sechs Monate lang machen, dann werden sie mich gehen lassen«, fügte sie unter Tränen hinzu.

Aber ich wusste selbstverständlich, dass es nie so kommen würde.

»Du musst unbedingt weglaufen«, sagte ich zu ihr. »So viel Geld verdienst du hier nie im Leben. Die behalten dich ewig.«

So wie Naz seinerzeit mir geholfen hatte, versuchte ich jetzt, diesem Mädchen Mut zu machen. Ich war genau wie diese Kleine gewesen – so voller Angst, dass ich beinahe wie gelähmt gewesen war –, und ich hatte damals nur einen einzigen Menschen gebraucht, der mir half, einen Ausweg aus all dem zu sehen. Nach ungefähr einer Woche hatte ich sie überzeugt, dass sie fliehen sollte, und in der Zeit sparte ich heimlich etwa hundert Pfund für sie, bis sie bereit war zu flüchten.

»Ich schließe die Tür nicht ab, wenn wir ins Bett gehen, dann kannst du früh am Morgen raus, wenn ich noch schlafe«, sagte ich.

»Aber willst du denn nicht wissen, wohin ich gehe?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete ich. »Wenn ich das weiß, zwingt mich am Ende noch einer, es zu verraten.«

Am Tag darauf erzählte mir Gul, dass das Mädchen verschwunden sei. Ich tat so, als sei ich schockiert und wütend.

»Dieses Miststück!«, rief ich. »Einen Schwamm wollte sie sich kaufen, hat sie gesagt, also habe ich sie raus zu den Geschäften gelassen.«

»Aber wie konntest du nur so dumm sein?«, kreischte Gul.

»Na ja, sie ist vorher auch schon mal draußen gewesen und immer wiedergekommen, also habe ich mir nichts dabei gedacht. Tut mir leid.«

Gul war so wütend, dass sie mich in ein Pub mitnahm, wo die Zuhälter des Mädchens warteten. »Nun erklär denen das mal schön«, zischelte sie.

Die Männer waren regelrechte Gangster, und allein bei ihrem Anblick bekam ich es schon mit der Angst. Stundenlang befragten sie mich, erkundigten sich danach, was die Kleine gesagt hatte, wohin sie meiner Meinung nach gegangen sein könnte, worüber wir geredet hätten, aber ich nahm all meinen Mut zusammen und verriet ihnen nichts. Meine Jahre als Prostituierte hatten mich immerhin gelehrt, meine Gefühle zu verbergen und solche vorzuspielen, die ich gar nicht empfand.

»Also hören Sie, ich bin genauso entsetzt wie Sie, und ich bin richtig wütend auf die kleine Kuh!«, schimpfte ich. »Meinen Job aufs Spiel setzen oder Ärger mit euch Typen kriegen, das ist nun wirklich das Letzte, was ich brauchen kann. Ich will einfach nur in Ruhe leben, okay? Ich habe keine Ahnung, wo das Miststück hin ist, ich habe mich ja nie für sie interessiert. Sie war bloß eine Neue, die nichts zu erzählen hatte. Zu mir hat sie nie ein Wort darüber gesagt, wo sie herkommt oder wo sie hingehen will. Um ganz ehrlich zu sein, ich bin überrascht, dass sie den Mumm hatte abzuhauen.« Lässig zog ich an meiner Zigarette und verbarg meine Nervosität, während die Männer mich argwöhnisch beäugten. Zu meiner großen Erleichterung glaubten sie mir, und ich musste lediglich ein paar weitere Stunden mit ihnen und Gul verbringen, musste lachen, rauchen und trinken.

Innerlich triumphierend, ging ich nach Hause, weil ich diese widerlichen Kreaturen ausgetrickst und sie um das Geld gebracht hatte, das sie sich von dem armen Mädchen erhofft hatten. Aber ich wusste auch, dass ich großes Glück gehabt hatte. Ich musste einfach raus aus dieser Welt. Ich verabscheute sie zu sehr, als dass ich noch lange darin würde überleben können.

Ich hatte jetzt ein neues Leben, mit Murat.

 

Es war ja gut und schön, die zwielichtige Sexbranche hinter mir zu lassen, aber Arbeit fand ich deswegen leider immer noch keine. Der Sommer ging allmählich in den Herbst über, und ich machte mir mehr und mehr Sorgen. Murat hatte mir zweihundert Pfund gegeben, die ich nach Hause schicken sollte, aber ich konnte ihn nicht ständig um Geld bitten. Was würden Sascha und Luda wohl denken, wenn ihre Mama sich mal wieder nicht um sie kümmerte, obwohl sie das doch fest versprochen hatte? Ich wusste einfach nicht mehr, was ich tun sollte.

Da ich weder Geld noch einen Job hatte, blieb ich stundenlang allein in der Wohnung. Diese Zeit, die ich für mich war, bewirkte etwas Merkwürdiges bei mir. All die Gefühle, die ich seit meiner Entführung und auch seit der Flucht vor Ardy tief in mir auf Eis gelegt hatte, fingen an, in mir zu brodeln. Und ehe ich mich versah, wurde eine regelrechte Flut daraus. Unaufhörlich musste ich an die entsetzlichen Dinge denken, die mir passiert waren, und an all das Schlimme, das ich selbst getan hatte. Mein Leben war ein einziger Dreckhaufen, das begriff ich jetzt. Zum ersten Mal bekam ich Angst vor dem Wiedersehen mit meinen Kindern – würden sie mich hassen wegen der Dinge, die ich getan hatte? Wie sollte ich Pascha je finden? Wie sollte ich ihm gegenübertreten, wenn ich ihn denn fand? Der Gedanke an die drei hatte mich so lange am Leben gehalten, aber inzwischen wusste ich nicht mehr, ob ich sie überhaupt wiedersehen konnte. Ich war schmutzig, entehrt, für immer gezeichnet, und ganz gleich, wie sehr ich Gott bat, mir die Richtung zu weisen, fand ich keine Hilfe.

Die Depression zog mich hinunter an einen dunklen Ort. Murat versuchte zwar, mir zu helfen und mich zu unterstützen, aber schließlich verlor auch er allmählich die Geduld mit mir.

»Dann fahr doch einfach nach Hause, wenn du hier so unglücklich bist«, sagte er immer wieder zu mir. »Fahr zu deinen Kindern.«

»Aber das geht doch nicht. Ich habe dort nichts. Wir werden wieder hungern, und da sind Leute, die mir wehtun werden.«

»Dann hör auf zu heulen.«

»Aber was soll ich denn nur tun?«

»Sieh mal, wir werden schon eine Lösung finden. Lass uns doch einen Anwalt suchen. Der kann uns sagen, wie du legal hierher einwanderst, und dann kannst du hier leben.«

Es war ein Vorschlag, der mir half, einen Sinn in meinem Leben zu sehen. Ich wusste, ich musste irgendetwas unternehmen – ich konnte schließlich nicht ewig ein Schattendasein führen, und außerdem, wie sollte ich denn meine Kinder ernähren, wenn ich nicht arbeitete? Durch die türkische Zeitung fanden Murat und ich eine Anwältin, und ich vereinbarte einen Termin bei ihr.

Das Gespräch war nicht erfolgreich. Die Anwältin schien nicht zu verstehen, was man mit mir gemacht hatte, und feuerte viele brüske, scharfe Fragen auf mich ab. Wenn ich bei meinen Antworten ins Stottern geriet oder mich nicht genau an das erinnern konnte, worüber sie Auskunft haben wollte, war sie offensichtlich verärgert. Am Ende log ich und erzählte, ich sei erst seit sechs Monaten in England, denn ich dachte, wenn die Leute erfuhren, dass ich schon länger hier war, würden sie mich fortschicken. Die Anwältin erklärte mir, sie werde meinen Fall auf den üblichen Instanzenweg schicken, und ich würde einfach warten müssen.

»Es ist nicht leicht, hier ein legaler Staatsbürger zu werden, wissen Sie«, sagte sie. »Es wird lange dauern und Sie eine Menge Geld kosten. Sie werden mich häufig aufsuchen müssen.«

Ihre Einstellung entmutigte mich ebenso wie die Aussicht auf die vielen Termine bei ihr und die ganzen Papiere, die ich ausfüllen musste. Die Wochen vergingen ohne Nachricht, und meine Depression wich der Angst. Endlich hatte ich einer Autoritätsperson vertraut, und ich war überzeugt, man würde mich betrügen. Sie würden mich umgehend dahin zurückschicken, wo ich herkam – ohne Geld, hungernd und ohne Zukunft.

Als die Zeit verging und ich weder Arbeit fand noch eine Nachricht über meine rechtliche Stellung erhielt, wurde meine Depression immer schlimmer. Manchmal starrte ich aus dem Fenster der Wohnung auf den vor meinen Augen verschwimmenden Boden und überlegte, ob ich mich nicht einfach hinunterstürzen sollte. Ich fühlte mich so hilflos. Wieder einmal stellte mich Gott auf die Probe, aber immer noch fand ich keine Antworten. Ich konnte nicht arbeiten, konnte mich nicht um meine Kinder kümmern, und jeden Tag war da etwas, das mich an meine Vergangenheit erinnerte – ein Höschen, das ich in der Sauna getragen, ein Lippenstift, den ich benutzt hatte, Kleinigkeiten, die meinen Kopf mit Bildern füllten. Manchmal versuchte mein Verstand sogar, mich dorthin zu führen, wenn ich mit Murat zusammen war, aber das ließ ich nicht zu.

Viel schlimmer wurde alles noch dadurch, dass auch Murat nicht so leicht vergessen konnte, obwohl ich nicht mehr arbeitete.

»Ich bin nicht dein fester Freund«, sagte er eines Nachts zu mir, als wir uns unterhielten.

»Aber wir leben doch zusammen«, erwiderte ich überrascht.

»Na ja, wir amüsieren uns eben. Du bist eine gute Freundin.«

»Aber gute Freunde gehen doch nicht ins Bett miteinander, oder?«

»Du weißt doch, wie es war, bevor du herkamst, also versuch jetzt bitte nicht, alles zu verändern. Dräng mich nicht.«

Ich überlegte eine Weile und fragte dann leise: »Glaubst du, du wirst mich je lieben?«

»Ich weiß nicht.« Er starrte hoch zur Decke. »Das kann ich nicht sagen.«

Mein Traum von einer Ehe würde nie wahr werden, das wusste ich jetzt. Murat hatte mich gerettet, und ich war ihm dankbar, aber tief in meinem Innern fühlte ich mich noch genauso verloren wie eh und je.