KAPITEL 6

Gleich nachdem Pascha fort war, fand ich über eine Freundin einen Job in einem Café. Die Freundin hieß Marina, und sie wohnte in derselben Straße wie wir. Sie war siebzehn, groß und schlank, hatte langes dunkles Haar und wunderschöne Augen, aber vor allem war sie nett und freundlich. Marina sah, wie hungrig ich war, und gab mir etwas zu essen, wann immer ich sie bei ihren Eltern zu Hause besuchte. Ich war so froh, dass ich nun eine Freundin hatte. Viele wollten mit mir nichts zu tun haben, wegen Sergej, aber Marina war das egal. Ich war mir so verbraucht und ausgelaugt vorgekommen, aber mit ihr fühlte ich mich fast schon wieder wie ein richtiger Teenager.

Bald arbeiteten wir zusammen in dem Café, einem Lokal, das einem Moslem namens Aziz gehörte. Anfangs war Sergej nicht gerade glücklich darüber, aber er änderte seine Meinung, als er von den drei Dollar hörte, die ich am Tag verdienen sollte. Meine Schichten dauerten zwölf bis vierzehn Stunden, aber jetzt brachte ich wenigstens etwas zu essen auf den Tisch. Eines Tages, so hoffte ich, würde ich genug Trinkgelder gespart haben, um mir ein eigenes Zimmer zu mieten; dann konnte ich mit Sascha fort.

Sergej kümmerte sich tagsüber um Sascha, aber eines Abends beschloss er, mich abzuholen, und als er draußen wartete, sah er mich mit Aziz herumalbern. Sofort packte ihn die Eifersucht.

»Wieso hast du den Typen geküsst? Steigst du mit ihm in die Kiste?«, schrie er, als wir nach Hause gingen.

»Du weißt genau, dass ich das nicht tue, und geküsst habe ich ihn auch nicht«, antwortete ich.

»Doch, hast du wohl, und jetzt weiß ich auch, weshalb du nicht mehr mit mir schlafen willst.«

»Ach, komm schon«, sagte ich erschöpft. »Ich bin einfach müde.«

Sergej schlug mich ins Gesicht. »Lüg mich nicht an«, sagte er.

»Wieso machst du das?« Ich fing an zu weinen. »Ich habe nichts Schlimmes getan, ehrlich. Du weißt doch, ich würde dich nie betrügen.«

»Nein, das weiß ich eben nicht!«, rief er. »Und heute war dein letzter Tag im Café. Da gehst du mir nicht wieder hin.«

Ich stritt nicht mit ihm, als wir wieder zur Sommerküche und dann ins Bett gingen. Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, machte ich mich wie üblich für die Arbeit fertig und legte etwas Geld auf den Tisch, ehe ich das Haus verließ. Sobald Sergej das Geld sah, würde er begreifen, dass es besser für ihn war, wenn ich arbeitete.

Marina wartete draußen auf mich, als ich die Tür zuzog, und es war noch ganz ruhig, als wir uns auf den Weg machten. Doch plötzlich war die Luft von Geschrei erfüllt, und ich drehte mich um und sah Sergej auf uns zulaufen.

»Du verdammtes Miststück!«, rief er. »Ich habe dir doch gesagt, du gehst mir nicht wieder in dieses Lokal! Also, was machst du da für einen Scheiß?«

Marina schaute verwirrt drein. Die Wahrheit über Sergej hatte ich ihr nie erzählt. Ich sprach mit niemandem darüber, und obwohl sie entsetzt gewesen war, als sie gesehen hatte, unter welchen Umständen wir in der Sommerküche hausten, hatte sie doch keine Ahnung, wie schlimm es wirklich stand.

»Komm, wir gehen«, sagte ich und fing an zu laufen. Eine Weile hielten wir unseren Vorsprung, aber als wir die Straße erreichten, packte mich Sergej. Schläge gingen auf meinen Körper nieder, und ich fiel zu Boden.

»Wieso hast du nicht gehorcht?«, brüllte er. »Ich habe das ernst gemeint, was ich gesagt habe, weißt du. Verdammtes Miststück!«

Eine Faust grub sich mir in den Magen. »Hilf mir, bitte!«, rief ich Marina zu, doch sie hatte Angst und wusste nicht, wie sie Sergej aufhalten sollte, als er an meinen Kleidern zerrte. »Wieso tust du das?«, schrie ich ihn an. »Wir brauchen das Geld. Ich kann nicht einfach mit der Arbeit aufhören.«

»Hure! Du treibst es mit diesen ganzen Moslems, und dann willst du es nicht mehr mit mir.«

»Was sagst du da?«, rief Marina plötzlich. »Das stimmt doch gar nicht! Hör auf! Lass sie los!«

Sergej sagte nichts, aber die Schläge hörten so plötzlich auf, wie sie begonnen hatten, und ich schaute hoch und sah, dass neben uns ein Auto angehalten hatte. Zwei Kunden, die ich aus dem Café kannte, stiegen aus, und Sergej ging schnell weg. Ich lag auf dem Boden und zog meine Jacke um meinen Körper, versuchte, meine Unterwäsche zu verbergen, und weinte.

Die Kunden waren nett und halfen mir auf. Ich konnte mir das Kleid wieder anziehen und die Risse zusammenhalten, bis ich sie im Café feststecken würde. Als schließlich Aziz kam und Marina ihm erzählte, was passiert war, war mein Auge schon fast zugeschwollen.

»Ist der wahnsinnig geworden?«, meinte Aziz, als er alles gehört hatte.

Ich schwieg. Ich konnte nur daran denken, wie es später zu Hause wohl sein würde. Ich hatte solche Angst. Was würde Sergej mir diesmal antun? Ich wusste, wozu er fähig war – ein Gürtel, ein Messer, ihm war es egal, womit er mich verletzte. Aber so gern ich auch davongelaufen wäre, ich konnte Sascha nicht allein lassen.

Am Abend wartete ich vor der Tür zur Sommerküche und hielt den Atem an. Ein paar Minuten stand ich schon da und hatte mich dazu bringen wollen, die Hand auszustrecken und den Türknauf zu drehen. Ich wusste, ich konnte mich nicht wehren, wenn Sergej mich schlug. In der Vergangenheit hatte ich es versucht, aber ich sah ja, was daraus geworden war. Ich war schwach, und er war stark – ich konnte nicht gewinnen.

Doch die Sommerküche lag im Dunkeln, als ich schließlich die Tür öffnete. Vielleicht wusste ja meine Nachbarin Janna, wo Sergej und Sascha waren. Sie machte Wodka, also ging Sergej sie oft besuchen.

»Oxana!«, rief sie, als sie die Tür aufmachte.

»Hast du eine Ahnung, wo Sergej ist?«, fragte ich. »Zu Hause ist er nicht, und ich suche Sascha.«

»Der Kleine ist hier bei mir. Aber weißt du denn gar nicht, was passiert ist?«

»Was meinst du?«

»Sergej ist im Krankenhaus.«

»Was?«

»Im Krankenhaus!«, rief Janna und riss vor Aufregung die Augen auf.

»Aber wieso denn?«

»Er ist zusammengeschlagen worden. Ein paar Männer sind vorhin zu ihm reingegangen, und ehe ich es mich versah, kam Sergej blutbesudelt aus der Sommerküche gestolpert. Er konnte sich kaum aufrecht halten. Halb tot ist er gewesen.«

Ich starrte Janna an, und mir wurde schlecht. Endlich wusste Sergej, wie es sich anfühlte, geschlagen zu werden, aber obwohl ich eigentlich froh darüber sein sollte, fühlte ich nur Angst. Was hatte er jetzt wieder angestellt? Würden diese Männer noch mal wiederkommen, auf der Suche nach mir?

An dem Abend war es schon zu spät für einen Besuch im Krankenhaus, aber als Marina mich am nächsten Morgen abholen wollte, erklärte ich ihr, ich würde an dem Tag nicht mit zur Arbeit gehen. Stattdessen fuhr ich ins Krankenhaus, und da sah ich Sergej im Bett liegen. Seine Lippe war aufgeplatzt, der Kiefer war voller Blutergüsse, und er hatte eine Nierenprellung.

Er sah mich an, und die Muskeln in seinem Gesicht zuckten.

»Was ist denn passiert?«, fragte ich.

»Das solltest du wohl wissen.«

»Was meinst du?«

»Hast du die denn nicht geschickt?«

»Wen?«

»Deine Scheißmoslem-Liebhaber«, spie Sergej aus. »Die Typen, die mir das angetan haben. Die Männer aus dem Café, die du so magst.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, flüsterte ich. »Natürlich habe ich niemanden geschickt. Ich wusste gar nichts davon.«

»Na, das werden wir ja sehen. Bald bin ich wieder zu Hause, und dann werden wir schon die Wahrheit über deine Kunden rausfinden.«

Wie konnte das sein? Ich glaubte ihm kein Wort. Bei der Arbeit sagte ich zu Aziz: »Mein Mann scheint zu glauben, dass du ihm ein paar Männer hinterhergeschickt hast, die ihn zusammenschlagen sollten. Ist er wahnsinnig geworden?«

Aziz sah mir direkt in die Augen. »Nein, Oxana, er hat recht. Ich habe meine Männer losgeschickt, die deinem Mann eine Lektion erteilen und ihm etwas Respekt beibringen sollten. Ich dulde nicht, dass er dich so behandelt oder mit seinen skandalösen Anschuldigungen meinen guten Namen in den Schmutz zieht. Jetzt weiß er, dass wir ihn im Auge haben, und wenn er dich noch einmal anrührt, brauchst du uns bloß Bescheid zu sagen.«

Ich schnappte nach Luft. Es stimmte also. Aber das war ja furchtbar! Ich war stinkwütend. »Und was dann?«, schrie ich. »Fütterst du den Kleinen jeden Tag; kümmerst du dich um ihn, legst du Geld auf den Tisch, wenn du meinen Mann umgebracht hast?«

Aziz runzelte die Stirn und schwieg.

»Nein? Also wie soll ich dann existieren? Wie soll der Kleine was zu essen bekommen, wenn ich keinen Mann habe, der Geld nach Hause bringt, und auch sonst keinen, der sich um das Kind kümmert, während ich für dich arbeite? Begreifst du nicht, was du angerichtet hast? Jetzt kann ich nie mehr herkommen, und mein Mann wird mich wahrscheinlich dafür umbringen.«

»Nein, Oxana, bestimmt nicht. Bleib hier, dann bist du in Sicherheit. Ehrenwort.«

»Das geht nicht.« Zitternd vor Wut drehte ich mich um und stürmte aus dem Café. Aziz mochte ja gedacht haben, er könne mich auf diese Weise beschützen, aber das war noch nicht das Ende – das war erst der Anfang. Eines wusste ich ganz sicher: Sobald Sergej mit mir allein wäre, würde er sich rächen.

 

Ich wartete, wie man auf eine Bombenexplosion wartet, nachdem Sergej nach der einen Woche Krankenhaus nach Hause gekommen war. Ich wusste nicht, was die Explosion auslösen würde, aber dass sie bald kommen würde, wusste ich genau. Ich wurde immer ängstlicher, und er schwieg. Es war, als sei nichts geschehen, und beide erwähnten wir Aziz und das Café nicht. Doch die Erleichterung darüber, dass ich nicht geschlagen worden war, wenn ich zu Bett ging, wich der Angst, wenn das Warten am Morgen darauf von Neuem begann.

Ich vermisste die Arbeit im Café – das Geld, das ich verdiente, das Essen, das wir hatten kaufen können, die Menschen, mit denen ich Freundschaft geschlossen hatte –, doch ich konnte nicht zurück zur Arbeit gehen. Meine Tür zu einer neuen Welt war zugeschlagen, und ich war auf der anderen Seite so gefangen wie eh und je. Marina kam mich nach wie vor besuchen, und sie brachte ein bisschen Geld und ein paar Lebensmittel, wann immer sie konnte, aber über das, was passiert war, sprachen wir nicht. Ihr Leben war ganz anders als meines, und mein Leben wollte ich vergessen, wenn ich mit ihr zusammen war.

Aber als sich die Tage zu Wochen dehnten, fragte ich mich allmählich, ob Aziz nicht womöglich doch recht gehabt hatte. Mir war immer schon klar gewesen, dass Sergej vor anderen Männern Angst hatte, und vielleicht genügte ja die Angst vor dem, was womöglich wieder passieren könnte, um ihn von mir fernzuhalten. Sicher war ich nicht, aber wie eine Schauspielerin, die eine Rolle spielt, gab ich ihm Sex, wann immer er wollte, sagte kein einziges Wort, wenn er zum Trinken wegging, und erwähnte nie etwas davon, dass ich mir Arbeit suchen wollte. Es war alles wieder so, wie es immer schon gewesen war, und wenn ich auch nicht glauben mochte, dass Sergej so leicht vergaß, machte ich mir doch Hoffnungen, dass er mich vielleicht in Ruhe lassen würde.

Ein paar Wochen nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus zogen wir endlich zu Sergejs Schwester Ira und deren Mann Alex von der Sommerküche ins Haupthaus. Die Mieter waren ausgezogen, und Ira hatte das Haus für uns renoviert. Ich mochte sie. Sie und Alex hatten einen Marktstand, an dem sie Hochzeitskleider verkauften, und weil sie keine eigenen Kinder bekommen konnten, nahmen sie ihre Nichte Vica zu sich, nachdem deren Mutter Selbstmord begangen hatte.

Sie führten ein schönes Leben, und es fühlte sich beinahe an, als sei ich wieder Teil einer Familie. Unser neues Zuhause mochte ja kein fließendes Wasser haben und auch keine Innentoilette, aber es gab ein richtiges Dach aus Wellblech, geweißte Wände und rötlich braune Dielen. Das Haus hatte ein Wohnzimmer, in dem Vica schlief, und zwei Schlafzimmer – eines für Ira und Alex, das andere für Sergej, Sascha und mich. Aber wenn es mir auch Spaß machte, abends mit Ira zusammenzusitzen, war ich mir doch nicht sicher, ob ich ihr wirklich vertrauen konnte. Schließlich war sie ja immer noch Sergejs Schwester, auch wenn sie ihn nicht sehr zu mögen schien. Aber sie war wirklich sehr nett – sie gab Sascha und mir etwas zu essen, wann immer sie konnte, und kümmerte sich um ihre Nichte Vica, wo sie das Mädchen doch leicht ins Waisenhaus hätte stecken können, wie ich das mit Pascha gemacht hatte.

Meinen kleinen Pascha hatte ich natürlich nicht vergessen. Ich dachte ständig an ihn, aber obwohl ich mich danach sehnte, ihn zu sehen und im Arm zu halten, hatte ich zu große Angst davor, ins Waisenhaus zu gehen. Das schlechte Gewissen nagte an mir, schließlich hatte ich ihn einfach dort gelassen, und ich fürchtete mich vor dem, was er dort womöglich durchmachte. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, dass man seinen winzigen Körper operierte, und voller Entsetzen dachte ich daran, wie er mich wohl ansehen mochte, wenn ich ihn besuchte. Ich war also feige und ging ihn, trotz meiner Sehnsucht, nicht besuchen.

Da geht es ihm besser, sagte ich mir entschieden. Er kommt wieder nach Hause, wenn seine sechs Monate im Waisenhaus um sind, und dann werde ich ihm eine bessere Mutter sein.

Kaum war Pascha fort, stellte ich fest, dass ich wieder schwanger war. Meinem Mann konnte ich mich nicht verweigern, und Geld für empfängnisverhütende Mittel hatte ich nicht. Aber obwohl ich mir Sorgen machte, weil ich nun einen weiteren Mund zu stopfen hatte, war ich froh. Ich wusste einfach, dass diesmal alles anders werden würde: Ich wäre eine gute Mutter, und dieses Baby wäre unkompliziert und gesund, wo Pascha krank und unglücklich war. Ich würde beweisen, dass ich eine gute Mutter war, und wenn Pascha nach Hause kam, hätte er ein neues Geschwisterchen, das er lieb haben konnte.

Sergej sagte nicht viel, als ich es ihm erzählte, aber das war mir egal, solange er mich in Ruhe ließ. Ich hatte getan, was er wollte – ich hatte Pascha ins Waisenhaus gegeben und aufgehört zu arbeiten –, und deshalb schien er inzwischen zufriedener. Ich konnte nur beten, dass das auch so bleiben würde.

Doch diesmal sollte Gott meine Gebete nicht erhören.