KAPITEL 21
Ein paar Tage darauf kam Serdar zum Haus und war offensichtlich wütend.
»Was ist denn los, Liebling?«, fragte ich ihn sanft.
»Deine bescheuerte Freundin! Wie heißt sie noch? Anna irgendwas?«
»Anna-Maria?« Auf einmal bekam ich Angst. Anfang der Woche war Anna-Maria verkauft worden. Ich hatte ihr zum Abschied einen Kuss gegeben. Es hatte mich traurig gemacht, sie zu verlieren, aber sie schien beinahe froh darüber, dass sie wegkam.
»Ja, Anna-Maria. Wieso hat die blöde Kuh mir denn nicht gesagt, dass sie schwanger ist?”
»Schwanger?« Ich war verblüfft. Ich hatte keine Ahnung gehabt.
»Ja. Die Männer, die sie gekauft haben, verlangen jetzt ihr Geld von mir zurück. Jetzt ist sie beschädigte Ware!« Aufgebracht lief er hin und her. »Dieses blöde Miststück!«, rief er. »Ich versuche, dieser dummen Göre zu helfen, und jetzt sieh dir an, was sie macht. Hätte sie es mir erzählt, hätte ich das Problem lösen können.«
»Wo ist sie? In Italien?«
»Nein. Sie wurde nach Rumänien zurückgeschickt.«
Ängstlich sah ich ihn an. Sagte er die Wahrheit? Ich hatte die anderen erzählen hören, wie er ein Mädchen durch Kopfschuss getötet hatte, und ich wusste nicht, ob er jetzt gerade log. Er mochte ja davon reden, dass er den Mädchen »half«, aber ich wusste, er war skrupellos. Das Leben eines armen, zu Tode erschrockenen Mädchens, das ihn wütend gemacht hatte, wäre kein Hindernis für ihn; dadurch würde er sich nicht aufhalten lassen.
Die Mädchen kamen und gingen wie üblich, Teil des mysteriösen Handels, der uns nie erklärt wurde. Manchmal verschwand eine ohne Vorwarnung, und ein Bodyguard erzählte uns dann vielleicht, dass sie verkauft worden und auf dem Weg nach Italien oder Deutschland sei.
Eines Morgens wachten wir auf und entdeckten ein neues Mädchen im Haus, das am Fenster saß und in den Himmel hinaufstarrte. Die Kleine sprach nicht, antwortete nicht auf Fragen, also wussten wir nicht, woher sie kam. Zum Frühstück aß sie eine Kleinigkeit, aber sonst saß sie den ganzen Tag nur am Fenster und schaute zum Himmel hoch. Ich spürte deutlich, dass sie große Angst hatte, sie war wie ein verängstigtes Mäuschen. Serdar nahm sie an dem Abend noch mit ins Hotel zurück, und ich sah sie nie wieder.
An einem anderen Tag kam eine Frau, die etwas älter war als all die jungen Mädchen hier; sie fiel mir gleich auf, weil sie so aussah, als sei sie etwa im gleichen Alter wie ich. Bald erzählte sie mir, ihr Name sei Claudia und sie sei achtundzwanzig. Sie kam aus Rumänien, aber wir konnten uns verständigen, weil sie Russisch in der Schule gelernt hatte, und an ihren Augen konnte ich ablesen, dass sie klug war. Claudia war in einem Waisenhaus aufgewachsen, wo man sie missbraucht hatte, und als sie von dort fortgegangen war, fand sie keine Arbeit. Schließlich war sie im Keller eines Mietshauses gelandet, wo sie eine Weile gelebt hatte, aber als man sie entdeckte, war sie auf die Straße geworfen worden.
»Ich hatte keine andere Wahl, mir blieb nur das hier«, sagte sie mir. »Eines Tages will ich Kinder und ein Zuhause, und auf diese Art kann ich Geld verdienen.«
Das sagte sie ganz tapfer, aber sie war gebrochen, traurig und schwach. Ich glaubte nicht, dass sie in diesem einsamen und schwierigen Leben eine Chance hatte.
Über Frauen wie sie denke ich inzwischen oft nach. Was mag mit Claudia, Anna-Maria und dem kleinen Mäuschen passiert sein? Man braucht gute Menschen um sich herum, wenn man auf dieser Welt überleben will, und sie hatten niemanden.
Die Tage vergingen, und ich war zuversichtlicher denn je, dass mein Plan mit Serdar funktionieren würde. Inzwischen ließ er mich ohne Bodyguard Wasser holen und erzählte mir, wie einsam er sei und wie satt er seine Arbeit habe.
»Eines Tages werden meine Söhne alles übernehmen, und ich kaufe mir ein Haus weit weg von all dem hier«, sagte er.
»Und das hast du dir auch redlich verdient nach all der harten Arbeit«, antwortete ich und lächelte still in mich hinein. Ich war sicher, ich würde Serdar bald dazu bringen können, alles zu tun, was ich wollte, und so beschloss ich, meine Macht über ihn auf die Probe zu stellen. Eines Abends fragte ich ihn, ob ich nicht wieder mit ihm zurück ins Hotel könne.
»Ich habe dieses Leben hier am Ende der Welt so satt«, sagte ich und kuschelte mich an ihn. »Kann ich nicht wieder mit dir zurück? Die Polizei beobachtet das Hotel bestimmt nicht mehr, wir sind doch schon gut zwei Wochen hier.«
Serdar küsste mich auf die Stirn. »Du hast hier gute Arbeit geleistet. Vielleicht hast du dir ja eine kleine Belohnung verdient.«
»Ich wäre so gern mal allein mit dir«, sagte ich. »Können wir nicht richtig zusammen sein?«
»Na gut«, sagte Serdar und lächelte. »Morgen Abend fährst du mit mir zurück. Halt deine Sachen bereit, und mach dich hübsch. Ich werde nett mit dir ausgehen.«
Ich war ganz aufgeregt, als ich am Abend darauf auf ihn wartete, und mit jeder Meile, die wir auf dem Weg zum Hotel zurücklegten, wurde ich zufriedener und immer zufriedener. Serdar hatte getan, worum ich ihn gebeten hatte. Er machte sich wirklich etwas aus mir. Bestimmt würde sich mir bald die Gelegenheit bieten, auf die ich hoffte.
Meine Belohnung war ein Besuch in einem Eiscafé, und ich staunte mit weit aufgerissenen Augen über das, was ich dort zu sehen bekam. Das mussten gut fünfzig verschiedene Sorten Eiskrem in allen Schattierungen des Regenbogens sein!
»Gefällt dir das?«, fragte Serdar und amüsierte sich über mein Vergnügen an dieser Belohnung.
»Es ist einfach toll!«, rief ich und dachte daran, wie sehr meinen Kindern das gefallen hätte. Serdar kaufte mir Eiskrem mit Erdbeer-, Vanille- und Schokoladengeschmack, und ich aß und lächelte ihm zu. Bilder von Sascha, Pascha und Luda gingen mir im Kopf herum, während ich ihn ansah. Bald wäre ich wieder bei ihnen. Fast tat Serdar mir leid, weil er so dumm war, aber er musste unbedingt an meine Liebe zu ihm glauben, also war ich froh darüber, dass er so leicht zu täuschen war.
Kichernd und fröhlich aßen wir unser Eis, und die allgegenwärtigen Bodyguards sahen zu. Ich war zuversichtlich und fühlte mich stark, und das war ein seltsames, aber angenehmes Gefühl.
»Ich habe mich in dich verliebt«, sagte ich eines Nachts zu Serdar. »Und ich will dich nie, nie mehr verlassen.«
»Du verlässt mich auch nicht«, sagte er und umarmte mich.
In der Nacht hatte er wie immer seine Hose neben dem Bett auf den Boden fallen lassen, und ich lag im Dunkeln und stellte mir bildlich das Geld und die Schlüssel vor, von denen ich wusste, dass sie in den Hosentaschen steckten. Bald würde das alles mir gehören.
Am nächsten Tag sahen Serdar und ich gerade fern, als ein Schönheitswettbewerb übertragen wurde. Ich fing an zu lachen, als ich mir die Frauen mit dem starken Make-up und der orangefarbenen Haut ansah. Mit ihren langen Nasen und den markanten Gesichtszügen sahen sie aus wie ulkige Vögel.
»In Russland gibt es bildschöne Mädchen an jeder Straßenecke«, sagte ich kichernd. »Ist das schon das Beste, was ihr in Albanien zu bieten habt?«
»Was soll das heißen?«, fragte Serdar leise.
»Die sind so hässlich, die armen Dinger! Vielleicht kriegt man ja in Albanien kein ordentliches Essen«, witzelte ich.
Serdar sah mich an. »Aber alle Welt weiß doch, wie die russischen Mädchen sind.«
»Wie sind sie denn?«
»Das sind doch alles Huren. Guck in irgendein beliebiges Land. Wer sind da wohl die Frauen, die sich verkaufen? Russinnen.«
Ich merkte, wie die Wut in mir hochkochte. »Was redest du denn da?«, fuhr ich ihn an. »Hier sind doch bloß Rumäninnen und Albanerinnen. Wenn russische Frauen so leicht zu haben wären, wie kommt es dann, dass ich in diesem Hotel die einzige Russin bin?«
Sofort sah ich ein, dass ich das nicht hätte sagen dürfen. Serdars Gesichtsausdruck hatte sich verändert, plötzlich sah er aus wie ein Fremder.
»Aber ich habe doch bloß Spaß gemacht, mein Liebster ...«, setzte ich an und gab mir alle Mühe, ihn in die Arme zu nehmen, aber er drehte sich weg von mir, und dann stand er auf.
»Halt verdammt noch mal den Mund«, sagte er. »Ich will kein Wort mehr von dir hören.« Er ging zur Tür und schlug sie hinter sich zu.
Ich saß da wie gelähmt und starrte ihm hinterher, während die Albanerinnen auf dem Fernsehbildschirm immer noch auf und ab paradierten. Was hatte ich nur getan? Mir kamen die Tränen, und ich fing an zu weinen. Kalt wie Eis war Serdar zu mir gewesen, als hätten meine Worte einen Zauber gebrochen. Konnte ich wirklich alles zerstört haben, was ich so sorgfältig aufgebaut hatte? Wie hatte ich bloß so dumm sein können?
Ich musste das wiedergutmachen, beschloss ich. Ich würde ganz zärtlich, liebevoll und sanft sein und unbedingt Sex wollen. Bald hätte er diese törichten Worte von mir vergessen.
Schon seit Stunden war er weg, und schließlich gab ich es auf, noch länger auf ihn zu warten, und ging ins Bett. Viel später spürte ich, wie er sich neben mich ins Bett legte. Ich tat, als ob ich schlief, als mich eine Welle der Erleichterung durchfuhr. Er war zurück. Morgen würde ich eine Möglichkeit finden, ihn wieder zu versöhnen. All das wäre sehr schnell vergessen.
Am nächsten Morgen wurde ich wach, als er mich ganz früh beim ersten Tageslicht an der Schulter schüttelte.
»Such dein Zeug zusammen«, sagte er. »Ich will, dass du in einer Viertelstunde unten bist.«
»Wieso? Wo fahren wir hin?«
»Da will dich einer kennenlernen.«
Ich bekam es mit der Angst, als ich aufstand und mir ein enges weißes T-Shirt und eine schwarze Hose anzog. War Serdar immer noch wütend auf mich?
Als ich runterkam, saß er neben einem jungen Mann mit kurzen hellblonden Haaren und blauen Augen. Er war schmächtig wie ein Junge und sah aus wie höchstens sechzehn.
»Das ist dein neuer Boss«, sagte Serdar ruhig. »Er heißt Ardy.«
Ich war vollkommen erschüttert und starrte den Jungen an. Der konnte mich doch nicht kaufen! Er war viel zu jung. Ich sah Serdar an und fragte mich, weshalb er solch einen schlechten Scherz mit mir machte. Aber sein Gesicht war zu einer Maske gefroren. Es schien, als hätte er mich nie kennengelernt, meinen Körper genommen, mit mir geredet oder sich mir anvertraut.
»Du gehst nach Italien«, fuhr er mich an. »Jetzt lauf hoch, und zieh dir ein anderes Top an. So kannst du nicht fahren, dir hängen ja die Titten raus. Alle werden sofort wissen, dass du eine Prostituierte bist.«
In dem Augenblick erkannte ich, was ich schon längst hätte erkennen sollen. Serdar empfand nichts für mich. Ich hatte ihn letzte Nacht verärgert, und jetzt langweilte ich ihn. Die ganze Zeit hatte er nur ein Spiel mit mir gespielt, und wie all die anderen Mädchen war auch ich nur eine Ware für ihn, die man verkaufen konnte.
Von Anfang an hatte ich nicht den Hauch einer Chance gehabt.