KAPITEL 1
Ich glaube, die Geburt ist wie das Leben, man wird entweder mit Glück oder mit Pech geboren, und das folgt einem überallhin. Ich wog gerade mal zwei Pfund, als ich drei Monate zu früh auf die Welt kam, und keiner hielt es für möglich, dass ich am Leben bleiben würde. Aber ich habe gekämpft, habe mich ans Leben geklammert und habe überlebt, so wie später immer wieder.
Ich kam in der Ukraine zur Welt, am 16. Januar 1976, um sechs Uhr abends, als meine Mutter Alexandra auf einer vereisten Straße ausrutschte, weil sie dem Bus hinterhergelaufen war. Die Fruchtblase platzte, und als mein Vater Pantelej im Krankenhaus eintraf, war ich schon auf der Welt. Die Ärzte erklärten meinen Eltern vorsorglich, dass ich keine Überlebenschance hätte, doch mein Vater ließ mich in ein anderes Krankenhaus bringen, in dem ich drei Monate blieb, bis es mir gut genug ging und meine Eltern mich nach Hause holen konnten. Sie nannten mich Oxana.
Wir wohnten in einer Stadt namens Simferopol in der Ukraine, die damals noch Teil der Sowjetunion war, und im Vergleich zu vielen anderen in dem kommunistischen Land waren meine Eltern reich. Mein Vater war Lastwagenfahrer, und meine Mutter arbeitete in einem Kinderhort. Sie hatten sich während der Ausbildung kennengelernt, und meine Mutter war gerade siebzehn geworden, als sie heirateten und mein Bruder Vitalik zur Welt kam. Sechs Jahre später wurde ich dann geboren, und wir wohnten zusammen in einem riesigen Wohnblock mit über sechshundert Wohnungen. Wir hatten Glück, denn wir hatten drei Zimmer und einen großen Balkon und konnten es uns leisten, jeden Tag Fleisch zu essen. Meine Mutter war zierlich und wunderschön, und sie roch nach einem Parfüm namens Rotes Moskau. Sie war eine ausgezeichnete Köchin, und sonntags war es am schönsten, weil wir da Geflügelleber oder Lamm mit heller Soße und Zwiebeln bekamen und hinterher Plätzchen oder Kuchen. Für mich war es der schönste Tag in der Woche, denn wir lachten viel zusammen, und meine Eltern mussten nicht arbeiten.
Aber all das änderte sich, als mein Vater seine Stelle aufgab und eine eigene Autowerkstatt eröffnete. Auf einmal war meine Welt nicht mehr so sorglos. Ich weiß nicht, was zuerst kam – die Eifersucht meines Vaters oder die Nächte, in denen meine Mutter allein ausging –, aber kurz danach begann es jedenfalls mit den Schlägen. Ich lag im Bett, hörte zu und betete, Gott möge mich beschützen. Papa war wie ein wilder Stier, der sich nicht beherrschen konnte, und Mama mochte einfach nicht den Mund halten. Ich horchte auf den furchtbaren Lärm ihrer Streitereien und wünschte, sie würden aufhören, und dabei hatte ich Angst, es sei womöglich meine Schuld, dass sie nicht mehr glücklich waren.
Der Lärm aus unserer Wohnung muss schrecklich gewesen sein, aber es hat sich nie einer in die Streitereien meiner Eltern eingemischt, denn alles, was zwischen einem Mann und seiner Frau ablief, wurde als Privatsache angesehen. Außerdem gab es in unserem Wohnblock etliche Familien wie meine, und wenn eine Frau verheiratet war, ging es keinen etwas an, was der Mann mit ihr machte. Schließlich waren es ja die Frauen, die die Männer provozierten – wenn sie Widerworte gaben, bekamen sie Prügel, wenn sie kurze Röcke trugen, waren sie ein Flittchen, das verdiente, was es bekam. Eines Tages klingelte ein Polizist und setzte sich mit meinem Vater in die Küche. Als er ging, hatte Papa ein Dokument unterzeichnet, in dem er sich verpflichtete, meine Mutter nicht mehr anzurühren, aber was ist schon ein Stück Papier, verglichen mit einer kräftigen Faust? Nichts konnte den Riss zwischen meinen Eltern kitten.
»Er ist ein Mistkerl«, sagte meine Mutter oft zu mir, wenn wir in dem Schlafzimmer lagen, das wir uns teilten. Vitalik hatte das andere Schlafzimmer, während mein Vater im Wohnzimmer schlief. »Ich werde ihn verlassen. Du kannst mit mir kommen, Oxana, wir beide werden zusammen glücklich sein.«
Ich wollte, dass wir glücklich waren, aber ich wollte auch, dass wir alle zusammenblieben. Ich liebte meinen Papa, obwohl er die ganze Zeit so wütend auf meine Mutter war. Außerdem hatte ich Angst vor meiner Mutter, denn sie war auch manchmal betrunken und bekam Wutanfälle, und von einem Moment auf den anderen konnte sie dann auf mich losgehen. Wenn Papa sie verprügelt hatte, schrie sie mich manchmal an, weil sie meinte, ich hätte sie nicht beschützt, und dann schlug sie mich. Einmal drosch sie mit einem Strauß Rosen auf mich ein; ich war voller Kratzer und Schürfwunden und konnte eine ganze Woche lang nicht zur Schule gehen.
Vielleicht hat sich ja deswegen mein Bruder Vitalik so verändert. Als Kinder waren wir immer gute Freunde gewesen, aber als er ins Teenageralter kam, verlor er das Interesse an mir, und bald machte er bei den Streitereien zwischen meinen Eltern mit. Er fing an zu rauchen, schwänzte die Schule und trieb sich mit einigen üblen Leuten herum, was meinem Vater Sorgen machte. Als ich neun war, stahl Vitalik meinen Eltern die Eheringe und eine goldene Kette. Papa war fuchsteufelswild, und zum ersten Mal merkte ich, dass er nicht nur meine Mutter verprügeln konnte.
»Wieso tust du das?«, schrie mein Vater. »Ich arbeite wer weiß wie hart, damit ihr zwei, deine Schwester und du, es einmal besser habt, und dann tust du mir so was an.«
Dann kam eines Tages die Polizei zu uns. Ein Auto war gestohlen worden, und es hatte einen Unfall gegeben. Danach haben meine Eltern mir gesagt, Vitalik wohne jetzt in einem Ort namens Gefängnis. Da war er gerade fünfzehn.
Nachdem mein Bruder fort war, kam ich mir beinahe unsichtbar vor. Ich war ein braves Mädchen und machte meinen Eltern nie Kummer, aber ich war auch sehr empfindsam. Jeden Tag schrieb ich in mein Tagebuch, was für böse Sachen meine Mutter und meine Lehrer zu mir gesagt hatten, und es machte mich traurig, dass niemand mich mochte, weil ich die Schlaue in der Klasse war. Und es wurde alles noch schlimmer, als Vitalik ins Gefängnis kam.
»Das ist die Schwester von dem Dieb«, kicherten meine Klassenkameraden, wenn ich vorbeiging.
Leute wandten sich von mir ab, wenn ich auf den Spielplatz kam, und Lehrer gaben mir für meine Hausarbeit eine schlechtere Note. Damals gehörte die Ukraine zu Russland beziehungsweise zur Sowjetunion, wo Vieles – und nicht nur ein Bruder im Gefängnis – nicht akzeptabel war. Dazu gehörte auch die Religion. Lenin war unser Gott, und Leute, die etwas anderes glaubten, konnten in Schwierigkeiten geraten. Ich weiß noch, dass eines Tages ein Mädchen in die Schule kam und ein Kruzifix trug, was die Direktorin bemerkte. Ein ganzes Jahr lang haben wir sie dann nicht mehr gesehen. Natürlich gab es Kirchen, und ich bin griechisch-orthodox getauft, aber meine Familie praktizierte ihren Glauben nie offen. Wir begingen christliche Feiertage, aber wir hatten keine Bibel zu Hause und besuchten auch nie einen Gottesdienst.
In der Ukraine misstraute man dem Anderssein. Kinder wurden dazu erzogen, Homosexualität, schwarze Hautfarbe und alles Ausländische zu verabscheuen. Es gab nur einen großen Supermarkt, in dem alle einkauften, und Luxusgüter oder Lebensmittel aus dem Ausland bekam man dort nicht; Dinge wie Tampons oder Wegwerfwindeln waren völlig unbekannt. Stattdessen aßen wir einfaches Fleisch und einfaches Gemüse, Frauen benutzten Wattebäusche, wenn sie ihre Monatsblutung hatten, und Kinder tranken Milch. Als die Coca-Cola in die Ukraine kam, gab es Viele, die meinten, Cola würde sie krank machen, und ich trank erst mit dreizehn meinen ersten Schluck Cola – am selben Tag, als ich ein Kaugummi probierte.
Mein Land war auch in anderer Hinsicht hart – es war ein armes Land, und alle mussten arbeiten. Gerade mal ein Dollar am Tag konnte den Unterschied zwischen Essen und Verhungern ausmachen, und mir war schon früh bewusst, dass es manchen Leuten weitaus schlechter ging als meiner Familie.
Mehr als alles auf der Welt liebte ich Bollywood-Filme. Der Gesang, die Tänze, die Farben, die Kostüme – alles war so wunderschön, und ich war überzeugt, Indien müsse der Himmel auf Erden sein. Mein Lieblingsfilm hieß Disco Dancer mit Mithun Chakraborty in der Hauptrolle. Er war so groß und so attraktiv, und ich sah den Film dreiundzwanzigmal und konnte nicht aufhören zu weinen, als er schließlich abgesetzt wurde. An den Bollywood-Filmen gefiel mir besonders, dass es immer ein Happy End voller Liebe gab. Ich war schließlich überzeugt, dass mein Traumprinz mich eines Tages finden würde, und dann würden wir glücklich leben bis ans Ende unserer Tage. Ich musste einfach nur Geduld haben und auf diesen Tag warten.
Dann geschah etwas, das all die Farben in meinen Träumen in Grau verwandelte.