KAPITEL 8
Pascha sah aus wie neugeboren, als er im Dezember 1994 wieder nach Hause kam. Ich hatte ihn schließlich doch besucht, kurz bevor seine Zeit im Waisenhaus um war, und ich schämte mich, als ich sah, wie sehr er sich verändert hatte – früher war er dünn und kränklich gewesen, jetzt war er rund und gesund. Gleich nach seiner Leistenbruchoperation hatte er angefangen, normal zu essen, und ich freute mich darüber, dass er sitzen, den Kopf hochhalten, lachen und meine Finger packen konnte wie jedes normale elf Monate alte Baby. Da er nun nicht mehr krank war, brauchte ich keine Schuldgefühle zu haben, und ich hoffte, ich könnte ihn lieben, wie ich das gewollt hatte, so wie eine richtige Mutter.
Sergej beachtete ihn gar nicht, als er nach Hause kam, und mir war das egal. Doch kaum kam Pascha durch unsere Tür, war es, als habe jemand das Licht in ihm ausgeknipst, und er schrie stundenlang. Tag für Tag hielt sein Geschrei an; es hatte den Anschein, als wolle es nie mehr aufhören. Ich war verzweifelt – wieso konnte ich meinem Sohn keine richtige Mutter sein und ihn glücklich machen? Hätte ich ihn im Waisenhaus lassen sollen, wo er sich gut entwickelt hatte und gesund geworden war?
Paschas Kummer schien den ganzen Raum zu füllen, in dem wir wohnten. Ich war im sechsten Monat schwanger und hatte keine Ahnung, wie ich zurechtkommen sollte. Ira und Alex waren voller Mitgefühl, aber auch für sie war es schwer, mit Paschas ständigem Geschrei zu leben. Aber wenigstens konnten sie in ihr Zimmer gehen und die Tür hinter sich zumachen.
Der Lärm machte Sergej wahnsinnig.
»Sorg dafür, dass das verdammte Baby ruhig ist!«, schrie er oft, dann boxte er mich, und ich wusste, es würde nur noch schlimmer werden, wenn ich Pascha nicht beruhigen konnte. Aber was ich auch tat, es schien mir nicht zu gelingen. Pascha war ganz anders als Sascha, als der noch so klein gewesen war. Mein Ältester hatte gegluckst vor Lachen, wenn ich mit ihm sprach, und gejauchzt, wenn wir spielten, aber Pascha schien in einer anderen Welt zu leben, und ich wusste nicht, wie ich ihn erreichen sollte. Er schrie und schrie, aber selbst wenn es mir gelang, ihn zu beruhigen, ging Sergej trotzdem auf mich los und prügelte, peitschte und schlug mich.
Eines Morgens ganz früh schrie Pascha besonders laut. Sergej lag im Bett, hatte den Kopf unter das Kissen gesteckt und versuchte zu schlafen, während ich mein Möglichstes tat, um das Baby zu beruhigen. Sascha schlief tief und fest, er war der Einzige von uns, der den Lärm ausblenden konnte.
»Er soll aufhören!«, brüllte Sergej, als ich rauslief, um etwas zu essen zu machen, in der Hoffnung, dass Pascha das beruhigen würde. »Weiß der Himmel, wie die anderen diesen Lärm ertragen können! Der weckt noch das ganze Haus auf!«
Die Schlafzimmertür war offen, und als ich am Herd stand, sah ich, wie Sergej aufstand und auf das Baby zuging. Er hob die Hand, schlug ihn, und ich sah, wie Paschas Kopf gegen die Wand knallte.
»Nein, nein!«, rief ich und rannte zurück zu meinem Baby. Für den Moment war Pascha ruhig, und vor Schock und Schmerz war sein kleines Gesichtchen leichenblass. Mir war ganz übel, als ich ihn hochhob und an mich drückte. »Lass ihn in Ruhe!«, rief ich. »Er ist doch noch ein Baby.«
Sergej grunzte und zuckte mit den Schultern, dann drehte er sich um, während ich Pascha wiegte und ihn mit in die Küche nahm. Ich fütterte ihn und weinte dabei lautlos. Kein Kind sollte so behandelt werden, aber wie sollte ich meinen Sohn schützen, wenn ich nicht einmal mich selber schützen konnte?
Kaum hatte Sergej am Abend das Haus verlassen, nahm ich die Kinder und dazu ein paar von unseren Sachen und ging mit ihnen zum Wartesaal des Bahnhofs von Simferopol. Mir war kein anderer Ort eingefallen, an dem wir es warm hatten, und ich nahm mir vor, dort die Nacht zu verbringen und dabei über alles Weitere nachzudenken. Mit Sicherheit wusste ich nur das eine: Es war zu gefährlich für uns, noch länger in Sergejs Nähe auszuharren. Wir blieben auch die Nacht darauf und noch eine weitere Nacht – tagsüber verließen wir den Bahnhof und gingen ein paar Stunden im Park spazieren, ehe wir in die Wärme des Wartesaals zurückkehrten –, weil ich nicht wusste, was wir sonst tun sollten. Es gab keine Zufluchtsmöglichkeiten für Frauen in der Ukraine, kein mietfreies Wohnen für Menschen in Not, und so dachte ich beinahe an nichts mehr, während die Tage vergingen. Wir mussten einfach überleben.
Ich redete mir ein, wir hätten es besser als die Leute, die auf der Straße lebten. Wenigstens konnten wir im Warmen schlafen – Pascha in seinem Kinderwagen und Sascha auf einer Bank –, und es gab einen Toilettenraum, in dem ich Windeln auswaschen konnte, ehe ich sie über dem Kinderwagen zum Trocknen aufhängte. Wir konnten sogar in die Kantine gehen, in der Bahnhofsangestellte mir Brotreste gaben oder Milchfläschchen warm machten, die ich mitgenommen hatte. Aber bald fing Sascha an zu husten, und Pascha bekam Durchfall.
An unserem vierten Abend im Wartesaal kam Ira hereingestürmt. »Ich habe gehört, dass du hier bist! Was machst du hier eigentlich? Die Kinder holen sich noch den Tod! Komm sofort nach Hause.«
Entsetzt starrte ich sie an. »Ich kann nicht nach Hause! Du weißt ganz genau, was Sergej mit mir machen wird. Du weißt doch, wie er mich behandelt.«
Voller Mitleid sah sie mich an. »Ja, ich weiß. Er ist ein Mistkerl, Entschuldigungen habe ich keine für ihn. Aber das wollte ich dir ja erzählen: Sergej ist nicht mehr da. Er ist verhaftet worden!«
»Verhaftet? Weswegen?« Allmählich war ich schon überzeugt gewesen, dass Sergej für seine zahllosen Verbrechen und Diebstähle nie bestraft werden würde.
»Komm nach Hause. Ich erzähle dir alles.«
Ich war froh, wieder zu Hause im Warmen zu sein; die Kinder lagen sicher im Bett, und Ira schenkte mir eine Tasse heißen Tee ein und gab mir etwas Suppe.
»Sergej ist verhaftet worden, und sie behalten ihn in Haft«, erzählte mir Ira, während ich aß. »Vor ein paar Tagen wurde ein Mann überfallen und ausgeraubt, und er ist an den Folgen des Überfalls gestorben. Die von der Polizei denken, dass Sergej das war.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete ich. »Er ist bösartig, aber er ist auch ein Feigling. Der schlägt nur Frauen.«
»Ich weiß.« Ira sah traurig aus. »Ich bin nur froh, dass unsere Mutter nicht mehr hier ist und miterlebt, wie er sich entwickelt hat. Aber du weißt ja, wie er in letzter Zeit war ...«
»Die Drogen.« Ich nickte.
»Es wird ständig schlimmer, wir sehen das alle. Es ist sehr wohl möglich, dass Sergej irgendwie auf Drogen war und zu weit ging, als er den Mann ausraubte.« Ira sah mich an. »Tatsache ist, er ist ein Dieb, und er ist drogensüchtig. So leicht kommt er diesmal nicht davon, wenn die von der Polizei beschließen, ihm das Leben schwer zu machen. Ich an deiner Stelle würde den Frieden und die Ruhe genießen, solange er weg ist. Dein Baby kommt doch bald, oder?«
»Ja.« Ich blickte auf meinen gewölbten Bauch. »In ein oder zwei Wochen.«
»Umso mehr Grund für dich hierzubleiben, statt in so einem zugigen Wartesaal zu sitzen. Mal ehrlich, Oxana, was sollen wir bloß mit dir anfangen?« Ira lächelte freundlich. Sie wusste, wie verzweifelt ich gewesen sein musste, um so etwas zu tun.
»Aber wie soll ich ohne Sergej die Kinder satt bekommen?«, fragte ich betrübt.
»Na ja, weißt du, ich hätte da vielleicht eine Lösung ...«
Auf Iras Vorschlag hin fing ich mit Heimarbeit an und nähte Blumen für die Hochzeitskleider, die sie an ihrem Stand verkaufte. Für jede Blume sollte ich zwei Dollar bekommen, und für die erste brauchte ich fünf Tage. Aber mit der Zeit nähte ich die Rosen und Lilien immer schneller, Blumen, die von Bräuten getragen würden, und an diese Frauen dachte ich beim Nähen unter einer Lampe, wenn die Kinder im Bett waren. Ich hatte immer davon geträumt, in einem wunderschönen weißen Kleid und mit Blumen im Haar meinen Prinzen zu heiraten.
»Eines Tages, Oxana, eines Tages«, sagte ich mir immer wieder, wenn alles im Haus schlief und ich nähte.
Meistens arbeitete ich bis vier Uhr früh und schlief dann ein paar Stunden. Aber manchmal wurde ich auch gerade erst fertig, wenn die Kinder aufwachten und ich kaum aus den Augen gucken konnte, während ich ihnen das Frühstück bereitete. Aber das machte mir nichts aus. Es war eine große Erleichterung, ohne die Angst vor Schlägen zu leben und das Geld zu verdienen, das ich für Lebensmittel brauchte. Fast regte sich schon ein Funken Hoffnung in mir – hätte ich nicht solche Angst vor dem gehabt, was passieren würde, wenn Sergej nach Hause käme.
Am 9. März 1995 brachte ich unser drittes Kind zur Welt, ein Mädchen, das ich Luda nannte. Wieder spürte ich nichts als Liebe, als ich auf die rundlichen, rosigen Wangen meines Kindes schaute.
»Hallo, kleines Mädchen«, sagte ich sanft zu ihr. »Ich bin deine Mama! Und wir werden sehr glücklich sein, Ehrenwort.«
Ira und Alex hießen uns zu Hause mit kleinen Kuchen und Wein willkommen, und schnell wurde Luda unser aller Liebling. Ich stillte sie, kümmerte mich um die beiden Großen und verdiente mit den Blumen, die ich nähte, alles, was wir brauchten. Ich hatte meine drei Kinder und sorgte gut für uns. Nur das zählte.
Als Luda etwa vier Monate alt war, teilte man mir mit, dass ich wegen Sergejs Verhaftung von der Polizei vernommen werden sollte. Verängstigt und nervös ging ich aufs Polizeirevier und wurde in einen kahlen Raum geführt, in dem eine Polizistin auf mich wartete. Sie deutete auf einen Stuhl, auf den ich mich setzen sollte, und informierte mich über die Details in dem Fall. Dann schaute sie mich mit kaltem Blick an.
»Der Überfall geschah am 24. Februar. Können Sie sich an den Tag erinnern?«, fragte sie. »Ihr Mann sagt, er sei wie üblich mit Ihnen zu Hause gewesen, aber wir haben einen Zeugen, der in der Nacht mit ihm zusammen war und behauptet, er sei den ganzen Abend nicht zu Hause gewesen. Können Sie uns da helfen?«
In Gedanken überflog ich die vergangenen Monate. Wie sollte ich mich an einen bestimmten Abend erinnern? Das war schon so lange her ... Dann fiel mir plötzlich etwas ein, und ich hielt den Atem an.
»Nein. An den Tag kann ich mich nicht erinnern«, sagte ich schnell.
Aber das konnte ich sehr wohl. Der 20. Februar war ein Feiertag gewesen, und ich wusste noch genau, dass Sergej ein paar Nächte darauf sehr spät mit blutigen und aufgeschrammten Knöcheln nach Hause gekommen war.
»Herzchen«, sagte die Polizistin sanft, als ich sie anstarrte. »Wissen Sie, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie Beweise zurückhalten? Unter Umständen bekommen Sie dafür drei bis fünf Jahre Gefängnis.«
Ich starrte auf den Tisch. Ich konnte schweigen, Sergej schützen und Gefahr laufen, von meinen Kindern getrennt zu werden. Oder ich konnte sagen, was ich wusste, und vielleicht gäbe es dann für die Kinder und mich ein Leben jenseits seiner Gewalt und seiner Verbrechen ... Was hatte ich schon für eine Wahl?
»Ich erinnere mich an den Abend«, sagte ich langsam.
Die Polizistin sah mich an, und mein Herz raste, als ich zu reden begann. Ich erzählte ihr alles, woran ich mich noch erinnerte.
»Danke. Es war richtig, dass Sie ausgesagt haben«, meinte sie, als sie mir einen Stift reichte, damit ich meine Aussage unterschreiben konnte.
Ein paar Monate später stand Sergej wegen Diebstahl und Totschlag vor Gericht.
Die Nachricht, dass er vor Gericht gestellt und möglicherweise zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden würde, nahm ich mit gemischten Gefühlen auf. Einerseits war ich froh darüber, dass er vielleicht bald hinter Gitter käme und mich nie mehr verletzten konnte – vielleicht hatte Gott meine Gebete ja endlich erhört, so wie ich mir das immer erhofft hatte. Aber andererseits hatte ich Angst vor einem Leben ohne meinen Mann. Das ist nicht einfach zu verstehen, aber wenn man so lange verprügelt wird, glaubt man schließlich, dass man schwach und wertlos ist, so wie einem das ständig eingeredet wurde, und in einem derart harten Land wie der Ukraine bedeuten oftmals die paar Dollar, die ein gewalttätiger Ehemann nach Hause bringt, dass man mit seinen Kindern nicht verhungern muss.
Außerdem hatte ich ihn ja mal geliebt, und auch er hatte mich geliebt. Wir hatten drei gemeinsame Kinder, einschließlich der Tochter, die er noch gar nicht kannte. Ich trauerte einfach um die Freude, die wir geteilt, und um die Chancen, die wir einmal gehabt hatten. Wohin war all das Glück entschwunden? Wieso hatte sich alles derart zum Schlimmen gewendet?
Im April 1996 erfuhr ich dann, dass man Sergej wegen Totschlags verurteilt hatte. Und zwar zu sieben Jahren Gefängnis.
Ein paar Wochen nach der Verhandlung ging ich ihn im Gefängnis besuchen. Er wartete auf mich in einer Kabine, die mit einer Glasscheibe vom Besucherraum abgetrennt war, und ich nahm den Telefonhörer, um mit ihm zu reden. Ich fühlte nichts, als ich ihn ansah.
Gerade einmal fünf Jahre zuvor war ich noch zur Schule gegangen, hatte von der großen Liebe geträumt und mir nicht vorstellen können, was ein Mann wie er mir antun mochte. Aber jetzt kam es mir vor, als sei der Nebel vor meinen Augen verschwunden. Sergej war viel schlimmer, als ich das je hatte erkennen wollen. Jahrelang hatte er mich bestohlen – alles hatte er mir weggenommen, von guten Kleidern und einer Uhr bis hin zu Paschas Babykleidung, als ich mit ihm im Krankenhaus lag. Ich war blind gewesen, wie ein Kind, das an den Weihnachtsmann glaubt, und jetzt wurde ich schnell erwachsen. Ich war zwanzig und Mutter von drei Kindern, um die ich mich kümmern musste.
»Gibt es etwas, was du mir sagen willst?«, fragte Sergej und starrte mich durch die Glasscheibe an.
»Nein. Was willst du denn hören?«
Er beugte sich vor und hielt sich den Telefonhörer dichter an den Mund. »Ich weiß, was du getan hast. Du hast der Polizei erzählt, dass ich in der Nacht nicht zu Hause war. Deinetwegen bin ich hier drin.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte ich und bemühte mich um eine feste Stimme, während mein Herz raste. »Wer hat dir denn so was erzählt?«
»Jetzt tu bloß nicht so!«, fauchte Sergej. »Ich weiß genau, was passiert ist, und eines verspreche ich dir – wenn ich hier rauskomme, werde ich dich finden, und dann stirbst du.«
Ich sagte nichts, sondern stand auf und ging. Sieben Jahre waren eine lange Zeit, aber würde ich es schaffen, schnell genug zu laufen und mich in Sicherheit zu bringen?
Als ich das Gefängnis verließ, betete ich, dass ich Sergej nie wiedersehen würde.