KAPITEL 32

Ich rannte.

Zurückblicken konnte ich nicht. Ich wollte gar nicht wissen, ob Ardy mich gesehen hatte oder nicht. Ich würde einfach warten, ob seine Hand meinen Arm packte, sein Geschrei in meinem Ohr widerhallte, aber bis dahin würde ich rennen. Ich sah das Büro eines Taxiunternehmens, lief zu einem Taxi, das davor auf der Straße stand, und zeigte dem Fahrer eine Adresse, die ich auf einem Stück Papier notiert hatte. Er nickte, und ich stieg ein. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, konnte ich nicht mehr an mich halten, ich musste mich einfach umdrehen und aus dem Rückfenster schauen. Hatte Ardy mich gesehen? Folgte er mir?

Die Ampel vor uns wechselte auf Rot, und der Wagen wurde langsamer. Bitte halt nicht an. Bitte lass mich davonkommen.

Ich drehte mich um und ließ den Blick über die Straße hinter uns schweifen, die zum Supermarkt führte. War da Ardys Gesicht unter den Leuten, die dort entlangkamen? Er musste inzwischen auf dem Rückweg sein. War er jetzt bei unserem Zimmer angelangt und hatte festgestellt, dass ich nicht da war? Suchte er nach mir?

Ich spürte etwas an meinem Hals und drehte mich ruckartig um. Es hatte sich angefühlt wie der Atem eines Menschen auf meiner Haut. Aber da war niemand neben mir auf dem Sitz. Ich war allein.

Bloß immer mit der Ruhe, redete ich mir ein und starrte wieder geradeaus. Ich hielt jetzt Ausschau nach diesem Etwas, das mich möglicherweise am Hals hatte berühren können.

Ich sah aus dem Fenster – es stand einen Spalt weit offen. Ein Luftzug musste seinen Weg auf meine Haut gefunden haben.

Du bist jetzt in Sicherheit, redete ich mir ein. Du bist davongekommen. Du hast es geschafft.

Aber als ich aufschaute, sah ich, dass mich der Fahrer im Rückspiegel anstarrte. War er ein Freier? Einer von Ardys Freunden?

Mit der Hand fasste ich nach dem Türgriff. Wenn er mich weiter anschaute, würde ich weglaufen. Ich würde mich aus dem fahrenden Auto stürzen, wenn es sein musste. Zurück konnte ich nicht mehr.

Ich hörte mein Herz in den Ohren pochen, als ich in diese Augen starrte. Entweder war ich endlich in Sicherheit oder ich war wieder gefangen – was von beiden war es wohl? Sollte ich weglaufen oder stillhalten?

Der Taxifahrer schaute wieder nach vorn, als die Ampel auf Grün wechselte.

»Na endlich«, seufzte er, als wir uns wieder in Bewegung setzten.

Ich schwieg und sah die Straße an uns vorbeiziehen – mit jeder Sekunde einen weiteren Schritt weg von meinem Gefängnis.

»Ich will ja nicht neugierig sein, Herzchen, aber ist mit Ihnen auch alles in Ordnung?«, fragte plötzlich eine Stimme.

Ich schreckte auf und merkte, dass der Taxifahrer mich wieder ansah. Aber jetzt war sein Blick freundlich, nicht mehr hart, fragend, und nicht wissend. Ich holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.

»Ja«, sagte ich. »Alles in Ordnung.« Glücklich und zufrieden war ich nicht unbedingt, als die Minuten zu Meilen wurden – ich fühlte mich einfach nur wie gelähmt. Ich wusste, ich hatte keine andere Wahl mehr, ich musste Lara um einen Job in der Sauna bitten, in der sie am Empfang arbeitete. Ich hatte weder Geld noch Freunde, und einen Fremden konnte ich kaum um Unterstützung bitten, aber musste überleben. Wenigstens wäre es nicht leicht für Ardy, mich zu finden, wenn ich nur eine weitere namenlose Hure wäre. Aber mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, wieder in die Prostitution zu gehen, jetzt, wo ich frei war. Ganz bestimmt würde Gott mich bestrafen.

Doch um Hilfe konnte ich niemanden bitten. Naz hatte mir erzählt, dass die englischen Behörden mich in die Ukraine zurückschicken konnten, wenn sie wollten, und das Risiko durfte ich nicht eingehen. Ardy, Sweta oder Serdar könnten mich finden und mich töten. Außerdem war inzwischen auch noch Sergej aus dem Gefängnis heraus, und ich war fest davon überzeugt, dass er früher oder später zurückkäme, um sich an mir und den Kindern zu rächen.

Als das Taxi vor Laras Haus hielt, stieg ich aus, klingelte, und eine große Blondine mit freundlichem Gesicht machte die Tür auf. Sie stellte nicht allzu viele Fragen, aber ich erzählte ihr ein bisschen von dem, was passiert war und weshalb ich mich verstecken musste. An dem Nachmittag nahm sie mich mit in die Sauna, damit ich ihren Boss kennenlernte. Er war ein freundlicher Türke, der einverstanden damit war, dass ich für ihn arbeitete und in einem der Zimmer in der Sauna blieb, bis ich etwas Geld gespart hatte.

»Könnten Sie mir vielleicht etwas Geld borgen?«, fragte ich. »Es ist sehr dringend.«

Ich musste unbedingt Geld nach Hause schicken. Sie sollten doch wissen, dass ich eine gute Mutter war, die ihre Versprechen von jetzt an hielt.

»Würdest du für sie bürgen«, fragte der Boss Lara, »und das Geld zurückzahlen, wenn sie verschwindet?«

Lara sah mich an. »Ja«, sagte sie.

Ich wusste, dass ich großes Glück hatte. Wieder einmal hatte ich eine wahre Freundin gefunden, und die konnte und durfte ich nicht enttäuschen.

 

Mein neuer Arbeitsplatz war weit netter als alle vorhergehenden. Die Sauna war oben, dazu zwei Zimmer mit Whirlpoolwanne und eine kleine Küche; unten befanden sich drei Zimmer, jeweils mit Dusche und Toilette. Es gab auch ein Wohnzimmer, in dem wir auf Kunden warteten, und in diesem Zimmer standen Ledersessel und ein Tisch mit einer großen Schale Obst darauf. Alkohol im Haus war verboten, alles war sauber, und zwei Sicherheitsleute halfen mit beim Putzen, bei den Handtüchern und füllten den Kühlschrank immer wieder auf. Außerdem warfen sie Kunden raus, die sich übel benahmen, etwa indem sie ein Mädchen bissen oder anschrien oder ihre halbe Stunde Sex hatten und dann behaupteten, es habe gar kein Geschlechtsverkehr stattgefunden.

In mancherlei Hinsicht fühlte ich mich sicherer als je zuvor. Es gab Videoüberwachung an der Tür zur Sauna, und außerdem konnte Lara am Empfang Kunden abweisen, wenn sie ihr nicht gefielen. Hinzu kam, dass die Männer zehn Pfund zahlen mussten, um überhaupt erst ins Lokal eingelassen zu werden, und so kam es, dass zwar die meisten Männer Sex wollten, andere aber einfach in die Sauna gingen und eine Massage brauchten, wenn sie spät von der Arbeit kamen. Mir war das alles egal, als ich anfing zu arbeiten, denn immer wieder musste ich an Ardy denken. Ich war überzeugt, er würde mich finden und sich rächen. Das Erste, was ich mir von den fünfhundert Pfund kaufte, die mir der Boss geliehen hatte, war ein Mobiltelefon, und dann rief ich zu Hause an. Ich gab Ira und Tamara die Nummer, schärfte ihnen aber ein, nur ja keine Informationen über mich weiterzugeben.

»Wenn einer zu euch kommt, wenn einer anruft, dann wisst ihr nicht, wo ich bin. Ich hatte ein paar Probleme, also erzählt bitte nichts über mich und die Kinder. Sollte Sergej auftauchen, dann wisst ihr eben auch nicht, wo ich bin – sagt ihm einfach, ich schicke euch Geld, aber ihr habt keine Telefonnummer von mir.«

Nacht für Nacht schaute ich ängstlich auf den Monitor der Überwachungskamera und musterte das Gesicht jedes Mannes, der in die Sauna kam; und hielt einer den Kopf gesenkt, versteckte ich mich lieber, denn ich konnte ja nicht sicher sein, ob das am Ende Ardy war oder nicht. Es arbeiteten auch ein paar albanische Mädchen mit mir, und ich achtete darauf, nicht zu viel mit ihnen oder mit sonst jemandem zu reden. Ich wollte einfach nur wie ein Schatten sein, den niemand bemerkte.

Ich hatte solche Angst, dass ich in den ersten zwei Wochen die Sauna nicht ein einziges Mal verließ – ich blieb den ganzen Tag drinnen und aß nur die Lebensmittel, die uns die Sicherheitsleute kauften. Als ich endlich doch aus dem Haus ging, lief ich entweder zu der Wechselstube, um Bargeld nach Hause zu schicken, oder in das Pub gegenüber, wo ich mir einen Kaffee bestellte und die englische Zeitung las, denn ich wollte die Sprache noch besser verstehen. Ständig musterte ich die Gesichter der Männer um mich herum, ich war überzeugt, eines Tages würde einer auf mich zuspringen und mich zurück in meine alte Welt zerren.

Auch mit dem Schlafen hatte ich mehr und mehr Probleme. Wenn die Sauna gegen fünf Uhr früh schloss, putzten wir die Räume, und wenn die anderen Mädchen gegangen waren, lag ich im Bett und konnte nicht abschalten. Das Alleinsein fiel mir schwer; bei jedem Geräusch schreckte ich zusammen, und es gingen mir allerlei Gedanken durch den Kopf. Ich bat Gott um Vergebung: Anfangs hatte man mich gezwungen, mich zu verkaufen, aber jetzt tat ich es freiwillig.

»Lieber Gott«, betete ich immer wieder. »Bald steige ich aus diesem Gewerbe aus. Ich weiß, dass es falsch ist.«

Ich war so verwirrt – ich brauchte das Geld, aber ich verabscheute, was ich für das Geld tun musste, und ich wollte bei meinen Kindern sein, hatte aber zu große Angst vor dem Heimkommen. Ich war natürlich froh, dass ich jetzt mit Sascha und Luda öfter sprechen und ihnen alle zwei Wochen Geld schicken konnte. Normalerweise verdiente ich etwa hundert Dollar die Woche und behielt nur einen kleinen Teil davon für mich. Wenigstens wusste ich jetzt, dass sie gut aßen und genug warme Kleidung hatten, und außerdem schickte ich Ira noch etwas extra für die Schulausbildung von Vica. Aber ständig musste ich an meine Kinder denken und daran, wie lange ich schon weg war, und ich machte mir große Sorgen um Pascha. Ich wusste immer noch nicht, auf welche Schule er gekommen war – er war ganz allein, ohne seine Geschwister, die ihm hätten Gesellschaft leisten können, und erreichen konnte ich ihn auch nicht. Wie sollte ich nur wiedergutmachen, was er ohne uns zu erleiden hatte? Wäre ich je in der Lage, ihm zu erklären, dass ich ihn nicht freiwillig allein gelassen hatte?

Viele Fragen gingen mir durch den Kopf, und ich überlegte, was ich tun sollte, und wenn ich dann endlich einschlief, geisterten düstere Bilder durch meine Träume. Es waren keine Gesichter oder Leute, die ich erkannte, aber wie schon als Kind wusste ich, es war der Teufel, der bald kommen und mich töten würde, und ich träumte, dass mich jemand würgte, und dann wachte ich keuchend auf. Meine Mutter hatte immer zu mir gesagt, dass die Albträume verschwinden würden, wenn man dreimal am Tag betet, aber manchmal hatte ich solche Angst, dass ich mich nicht einmal mehr an den Wortlaut der Gebete erinnern konnte. Stattdessen trank ich Kaffee, rauchte Zigaretten, machte den Fernseher an oder las stundenlang in einem Buch, bis die Sonne aufging und ich schließlich wusste, dass ich in Sicherheit war.

Die Wochen vergingen, und ich begriff allmählich, dass ich im Grunde gar nicht frei war, sondern nur das eine Gefängnis gegen das andere eingetauscht hatte. Ich mochte ja ein verriegeltes Fenster eingeschlagen haben, um von Ardy wegzukommen, aber vor den Eisengittern der Angst zu fliehen, die er in meinem Kopf errichtet hatte, würde weitaus länger dauern.

 

Ich fühlte, wie mir die Tränen kamen, als ich im Wohnzimmer der Sauna saß. Es war gegen zwei Uhr morgens, und ich hatte erst einen Kunden gehabt. Weniger Geld bedeutete weniger Essen auf dem Tisch meiner Kinder.

»Du musst einfach ein bisschen mehr lächeln, dich mehr entspannen«, sagte Lara, als sie hereinkam und mich allein da sitzen sah. »Wenn du so weitermachst, dauert es ein Jahr, ehe du überhaupt was verdient hast.«

»Ich weiß ja. Ich gebe mir doch Mühe.«

»Nein, tust du nicht. Du siehst aus, als wolltest du einen umbringen. Kein Wunder, dass dich keiner will – du verschreckst ja die Kunden.«

Ich sah Lara hinterher, als sie den Raum verließ. Sie hatte recht. Ich verschreckte die Kunden und schien mich nicht beherrschen zu können. Die ganze Zeit über war so viel Wut in mir, und wenn ich mich früher gezwungen hatte, eine Maske zu tragen, so erstickte mich diese Wut jetzt fast. Inzwischen spürte ich nur noch diese Wut, und manchmal bekam ich kaum Luft, wenn ich mich bemühte, sie zu unterdrücken.

Immer wieder sagte mir Lara, ich dürfe nicht so unhöflich zu den Kunden sein. In den Wochen seit meiner Flucht nach Essex waren wir uns nähergekommen, und manchmal besuchte ich sie sogar in ihrer Wohnung, um für sie zu kochen. Es machte mich glücklich, jemanden zu haben, um den ich mich ein wenig kümmern konnte, und Lara war mir schnell Freundin, Mutter, Tochter, Schwester, alles in einem geworden. Sie war außerdem der Mensch, der mir manches erklärte und mir etwas von diesem neuen Land zeigte. Einmal gingen wir sogar in einen Nachtklub.

Ich folgte ihr nach draußen zum Empfang.

»Ich versuche es ja, ganz bestimmt«, beharrte ich, als sie sich wieder setzte. »Aber die mögen mich hier einfach nicht.«

»Na ja, vielleicht täten sie das, wenn du ein bisschen mehr lächeln würdest. Ich weiß ja, es ist schwer, aber du musst dir Mühe geben, Oxana.«

Die Wut stieg wieder in mir hoch. »Ich gehe mal was trinken«, sagte ich und drehte mich um.

Der Alkohol war inzwischen die einzige Möglichkeit für mich weiterzuarbeiten. Mit ein paar Wodkas intus war ich anders – entspannt, glücklich und sorglos. Ich legte Musik auf und tanzte, lachte und ging völlig aus mir raus. Ich begriff nicht, wieso ich kein braves Mädchen auch ohne den Schnaps sein konnte. Die Kunden hier waren nicht so wie in Tottenham. Sie waren Stammkunden, benahmen sich anständiger, waren weder grob noch unhöflich. Hier schrie keiner herum und nannte mich Miststück, und keiner verlangte Dinge von mir, die ich nicht machen wollte. Aber meine Wut hatte ich immer noch nicht unter Kontrolle, wenn einer der Freier das Falsche sagte.

»Und, magst du deinen Job?«, mochte mich etwa ein Mann fragen, wenn er sich nach dem Sex anzog. »Das ist doch ein prima Job, nicht? Nur ficken und dafür auch noch Geld bekommen.«

»Was soll das denn heißen?«, schrie ich zurück. »Meinen Sie etwa, es ist so einfach, mit Ihnen zu ficken, Sie anzulächeln und so zu tun, als würde ich Sie mögen?«

»Ach, komm schon«, erwiderte der Kunde dann lachend. »Du brauchst dich doch bloß auszuziehen und dich hinzulegen. Da ist doch nichts dabei.«

Mistkerle. Die hatten ja keine Ahnung, wie es sich anfühlte, wenn mir der Gestank von einem Mann nach dem anderen in die Nase stieg – ein Inder mit dem Geruch von Curry an sich, ein Türke, dem das Kebabfett in der Kleidung hing, ein Engländer, der nach Bier stank. Ich konnte meine Gefühle einfach nicht mehr verbergen, und schließlich war ich fünf Tage ohne einen einzigen Freier. Lara hatte mir Geld für Essen gegeben, aber ich wusste nicht, wie ich jemals all die Wut unterdrücken sollte, die da aus mir herausströmte.

An diesem Abend war ich damit dran, Tee und Kaffee für die Kunden zu kochen, und ich schaute hoch, als die Tür aufging. Zwei Männer kamen herein, und allein schon ihr Anblick ärgerte mich. Ich hatte Schuhe mit besonders hohen Absätzen an, und wenn die zwei etwas trinken wollten, musste ich den ganzen Weg rauf in die Küche stöckeln.

Der eine ging direkt in die Sauna und nahm sich kein Mädchen. Er arbeitete wohl in einem Restaurant oder Kebab-Imbiss und wollte einfach nur entspannen. Aber sein Freund – der groß und schlank war und ein Tuch um den Kopf trug – tat nicht mal das. Wieso kamen diese Männer her und starrten uns an wie Tiere im Zoo?

Lara fragte ihn, ob er etwas trinken wolle, als sie ihn hereinführte.

»Kaffee. Mit Milch.«

Mit lautem Knall schlug ich mein Buch zu. »Wie viele Stückchen Zucker?«, seufzte ich.

»Wenn es Umstände bereitet, dann lassen Sie es nur«, sagte der Mann.

Lara starrte mich an.

»Nein«, sagte ich lustlos. »Ist schon okay.«

»Zwei Stück bitte.«

Ich sah mir den Mann an. Er war ganz offensichtlich Türke. »Kaffee kommt in einer Minute«, sagte ich zu ihm in seiner Sprache und ging.

Ein paar Minuten später kam ich mit dem Kaffee zurück und nahm mir wieder mein Buch vor.

»Woher können Sie denn Türkisch?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Nein, ich versuche ja nur, Konversation zu machen.«

»Ich habe da gearbeitet.«

»Und woher kommen Sie ursprünglich?«

»Aus Russland.«

»Wie heißen Sie?«

»Marilyn.« Seit ich von Ardy fort war, hatte ich mir die Haare schneiden und blond färben lassen und trug roten Lippenstift.

»Haben Sie eine gute Massage zu bieten?«, fragte der Mann leise.

»Keine Ahnung. Manchen gefällt es.«

»Na ja, geben Sie mir dann eine?«

»Das kostet dreißig Pfund und dauert zwanzig Minuten.«

»Okay.«

Wir gingen in einen Raum, und der Mann setzte sich auf einen Stuhl.

»Wie viele Kunden haben Sie denn heute schon gehabt?«, fragte er.

»Nicht einen einzigen«, log ich.

»Und wie viel geben Sie von Ihrem Verdienst am Empfang ab?«

»Zwanzig Pfund«, log ich.

»Dann bekommen Sie für sich bloß zehn Pfund, wenn Sie sich mit mir beschäftigen?«

»Ja.«

»Und Sex, wie viel kostet der?«

»Fünfundvierzig Pfund.«

»Und der Empfang kriegt davon wie viel?«

»Fünfunddreißig.«

Tatsächlich gaben wir am Empfang nur vom jeweils ersten Kunden des Tages fünfunddreißig von fünfundvierzig Pfund ab, von jedem weiteren Kunden dann fünfzehn Pfund. Aber das brauchte dieser Mann nicht zu wissen – ich würde ihm hoffentlich leid tun. Er hielt mir fünfundvierzig Pfund hin. Er wollte Sex. Ich ging raus und gab Lara, was ich dem Haus schuldete, ehe ich wieder in den Raum zurückging.

»Da«, sagte der Mann, als ich die Tür zumachte. »Das ist für dich.«

Er hielt mir weitere vierzig Pfund hin.

Gut.

»Danke.« Ich ging auf ihn zu und knöpfte ihm die Hose auf.

»Kann ich erst duschen?«, fragte er.

»Ja klar«, antwortete ich, und er stellte sich unter die heiße Dusche, während ich mich auszog, mir ein Handtuch umwickelte und mich aufs Bett setzte. Ich starrte ins Leere. Wie lange würde das dauern? Mein Buch gefiel mir wirklich gut.

»Komm her.«

Ich sah zur Dusche hinüber. »Was?«

»Komm her«, wiederholte er. »Ich will dir den Rücken waschen.«

»Nein«, sagte ich lustlos. »Ich dusche nicht mit Kunden. Da werden nur meine Haare nass, und das Make-up verläuft.«

»Ich passe schon auf. Ich will, dass du zu mir kommst.«

Ich seufzte und stand auf. Wenn ich das hier schnell hinter mich bringen wollte, sollte ich lieber tun, was er verlangte. Wenn der Mann richtig heiß war, würde er schneller fertig sein.

Er schaute mich an, als ich unter die Dusche kam, sagte aber nichts. Ich drehte ihm den Rücken zu. Das wollte er also – mich von meinen Sünden reinigen, ehe er mich benutzte. Ich starrte ins Leere, als er mir den Rücken mit einem Schwamm abrubbelte. Seifenschaum lief prickelnd über meinen ganzen Körper, und das Wasser war warm. Wenigstens war er sanft und betatschte mich nicht so grob, wie manche Männer das taten. Wir schwiegen.

Auf einmal fing er an, mir die Schultern zu massieren, und beinahe wäre ich zurückgezuckt. Seine Berührung war weich, sanft, anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Von dem Tag am Strand über Sergej und seine Freunde bis hin zu Serdar und all den anderen Grobianen, die mich bezahlt hatten, war ich noch von keinem so zart angefasst worden, so als wäre ich zerbrechlich. Mit den Händen fuhr er mir über den Rücken und um die Taille. Ich spürte seine Lippen auf meiner Schulter. Ich schwieg.

Ich fühlte mich lebendig.

Es war nicht so, dass ich Schmetterlinge im Bauch spürte, es war mehr als das – wie Wellen, die mich hochhoben und über mich hinwegdonnerten. Meine Haut war empfindlich, mein Körper gespannt. Ohne ein Wort zu sagen, drehte der Mann das Wasser ab, und wir verließen die Dusche. Ich legte mich aufs Bett.

»So geht das doch nicht«, flüsterte eine Stimme in mir. »Er ist ein Freier. Mehr nicht.«

Aber da war etwas in mir, das sich nicht abstellen ließ. Mein ganzes Leben hatte ich von der Art Zärtlichkeit geträumt, wie ich sie aus den Bollywood-Filmen kannte, und aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstand, erlebte ich sie bei diesem Mann. Er berührte mich, wie man eine richtige Frau berührt – nicht eine gesichtslose Hure. Vielleicht stellte er sich ja vor, ich sei eine andere; vielleicht stellte er sich überhaupt nichts vor, aber ich wollte, dass es immer so weiterging, wie falsch es auch sein mochte.

Wir schwiegen, als er sich ein Kondom überzog und in mich eindrang. Er küsste mich auf den Mund. Ich fuhr mit den Fingern über seine Haut – er hatte eine Gänsehaut überall –, und ich fing an zu zittern, als er sich auf mir bewegte. Ich konnte an nichts mehr denken, mein Leben war vergessen, als sich für ein paar Augenblicke alles in mir anspannte und ich leise aufschrie. Ich verstand nicht, was da passierte. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Ich fühlte mich frei, wohlig warm.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Lara, als sie sachte an die Tür klopfte.

»Ja, alles in Ordnung«, beeilte ich mich zu versichern.

Der Moment war vorüber, und ich stand auf und fing an, mich anzuziehen. Ich sah mich nicht um. Ich schämte mich. Was hatte ich da getan? Wie hatte ich so dumm sein können? Ich wurde wütend. Wie hatte mein Körper mich so hintergehen können? Wie hatte ich zulassen können, dass er Vergnügen an etwas hatte, das ich mit jeder Faser meines Herzens verabscheute? Vielleicht war ich ja, was alle diese Männer zu mir gesagt hatten – eine dreckige Nutte, die es so wollte.

Der Mann stand auf und trat wieder unter die Dusche.

»Wir gehen in ein Restaurant, das rund um die Uhr offen hat«, sagte er. »Willst du mitkommen?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich arbeiten muss. Es kommen andere nach dir.«

Ich verstand nicht, was er vorhatte. Er wusste doch, was ich war, wo ich arbeitete. Wollte er sich einen Scherz mit mir erlauben?

»Da«, sagte der Mann, als er sich angezogen hatte und auf mich zukam. Er drückte mir ein Stück Papier in die Hand und ging dann. Auf dem Blatt stand eine Telefonnummer.

Die Tür fiel zu, und ich setzte mich aufs Bett. Beinahe hatte ich Angst. Ich begriff nicht, was ich da gerade getan hatte. Ich wusste nur, dass es nie wieder passieren durfte.