KAPITEL 19
Steht auf«, sagte eine Stimme, und ich machte die Augen auf und sah drei Männer am Fußende des Bettes stehen, in dem Anna-Maria, das rumänische Zigeunermädchen und ich schliefen.
Zwei der Männer waren jung und hatten denselben kalten Blick der Macht in ihren Augen, den ich auf dieser Reise schon so oft gesehen hatte. Aber der dritte war alt und schlank, hatte kurzes graues Haar und grünbraune Augen. Er trug eine schmuddelige Jacke und eine schwarze Hose, die grau von Staub war. Um den Hals hatte er eine Goldkette hängen mit einem moslemischen Mond und Stern darauf, und auf dem rechten Oberarm hatte er eine Tätowierung, die ein Mädchen zeigte.
»Kommt«, sagte er, als wir ihn alle anstarrten. »Es ist Zeit zu gehen.«
Als sich Anna-Maria und die Rumänin aufsetzten und sich die Augen rieben, hockte sich der Alte neben sie und fing an, mit ihnen zu flirten.
»Na, wie alt seid ihr zwei denn? Und wo kommt ihr her?«
Die beiden jüngeren Männer standen in seiner Nähe und lächelten, als er mit uns sprach – und hin und wieder die Hand ausstreckte, um die Mädchen wie Waren in einem Geschäft zu berühren. Die drei machten mich krank; ich stand auf und wollte mir im Bad das Gesicht waschen. Ich hatte böse Kopfschmerzen und hoffte, das kalte Wasser würde helfen.
»He«, sagte der Alte, als ich zum Badezimmer ging. »Wer bist du?«
»Ich heiße Oxana, nicht He«, sagte ich kühl.
Ich war es so leid, dass diese Männer uns wie Dorftrampel behandelten. Mir war egal, was sie mit mir machten. Was kümmerte mich das schon? Was konnten sie mir denn noch antun?
Der Alte lachte. »Ach, wirklich, Oxana? Und wo bist du her?«
»Aus der Ukraine.«
»Sprachen?«
»Russisch und Türkisch.«
»Also, ich heiße Serdar«, sagte er und feuerte eine Salve von Fragen auf Türkisch auf mich ab: wie alt ich sei, wo in der Türkei ich gelebt hätte, ob ich Istanbul kannte und so weiter. Es kam mir so vor, als wollte er mich irgendwie auf die Probe stellen, also beantwortete ich alle seine Fragen, und meine Antworten schienen ihn zu erfreuen. Er grinste mich an, und der Ausdruck in seinen Augen war das Freundlichste, was ich auf meiner langen, fürchterlichen Reise zu sehen bekommen hatte. Ich beschloss, mein Glück zu versuchen und ihm auch eine Frage zu stellen, eine, auf die ich die Antwort schon lange unbedingt wissen wollte. Ich hatte das Gefühl, wenn ich die Antwort nicht bald bekäme, würde ich wirklich noch wahnsinnig werden.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich.
»In Skutari, Albanien.«
Mir drehte sich der Magen um. Ich wusste nicht einmal, wo dieses Land lag.
Serdar sah mich an. Irgendetwas an meinem Gesicht schien sein Mitleid zu erwecken. »Willst du etwas essen?«, fragte er freundlich.
»Ja, bitte.«
Er übersetzte uns die Speisekarte. »Sucht euch aus, was ihr mögt«, sagte er.
Wir bestellten unser Essen, und ich konnte es kaum erwarten, das Lamm mit Reis hinunterzuschlingen, das ich mir ausgesucht hatte. Aber als das Essen gebracht wurde, blieb die Tür zu unserem Zimmer offen, so dass wir in den Raum gegenüber schauen konnten, und plötzlich vergaß ich meinen Hunger.
In dem Raum auf der anderen Seite des Flurs wimmelte es von Mädchen – dicke, dünne, kleine, große, blonde, dunkle –, manche saßen auf den Betten und aßen Obst, während andere rauchten und sich unterhielten. Sie schienen alle dieselbe Sprache zu sprechen, verstanden einander, und in mir mischten sich Angst und Einsamkeit, als ich sie betrachtete. Dafür waren also diese Spione: damit die Waren aufgeteilt werden konnten.
Ich bekam Angst, als ich die Mädchen anstarrte, sehnte mich aber gleichzeitig danach, bei ihnen zu sein. Vielleicht war ja eine Freundin darunter. Immer wieder spähte ich hinüber und hoffte, dass wenigstens eine aufschauen und sich ihr Blick mit meinem treffen, dass sie mir mit einem Lächeln oder einem Kopfnicken zu verstehen geben würde, dass ich nicht allein war. Aber keine sah her.
Wir aßen; es war die erste anständige Mahlzeit seit Tagen, und ich spürte, wie ich allmählich wieder zu Kräften kam.
»Schön, du isst ordentlich«, sagte Serdar lächelnd. Als er aufstand, traten seine Begleiter schützend an seine Seite. Er sah mich an, starrte mir direkt in die Augen. »Ich bin bald zurück«, meinte er.
Die Tür ging zu, und ich konnte nicht mehr in den Raum gegenüber sehen. Stattdessen legte ich mich aufs Bett und dachte darüber nach, was wohl als Nächstes passieren würde.
Ein paar Stunden später kam Serdar mit sauberen, nach Seife riechenden Kleidern zurück. »Komm«, sagte er.
Ich ging mit ihm nach unten in eine Bar, in der zwei Bodyguards mit Pistolen standen und auf uns warteten. Es war ein sehr schöner Raum mit kunstvoll verzierten Möbeln und schwarzen Tischen, auf denen rote Tischdecken lagen. Nebenan war ein Restaurant voller Männer. Wir setzten uns an einen Tisch, und Serdar bestellte uns Kaffee und Zigaretten. Ich war nervös, weil er mich herausgepickt hatte. Es musste doch Hunderte von Frauen geben, aus denen er sich eine wählen konnte. Also wieso gerade ich?
»Ich sehe Ihnen an, dass Sie nicht gern hier sind«, sagte er sanft. Die Bodyguards saßen ein Stückchen von uns entfernt, unser Gespräch konnten sie nicht mit anhören. »Ihren Augen habe ich das angesehen, gleich als ich Sie kennenlernte.«
»Ja«, sagte ich gedehnt. Ich musste vorsichtig sein. Es war offensichtlich, dass Serdar wichtig war, und ich wollte ihn nicht kränken.
»Aber Sie sind nicht wie die anderen«, fuhr er fort. »Die anderen wollen hier sein, sie wissen, wohin sie kommen, keiner hat sie gezwungen. Die haben alle Probleme, die sie lösen müssen.«
Ich sah ihn an. Ich konnte nicht glauben, was er da sagte. Auch wenn manche Frauen zu wissen glaubten, worauf sie sich einließen, konnten sie doch nichts von den Waffen wissen, von den Schlössern an den Türen und den Spionen, durch die man sie beobachtete. Sie waren Gefangene. Wer würde das schon freiwillig auf sich nehmen?
»Sie kommen aus der Türkei«, sagte er. »Ich habe Familie und Freunde da. Lassen Sie uns über die Türkei sprechen.«
War das der Grund dafür, dass er mir näherkommen wollte?, fragte ich mich. Erinnerte ich ihn an ein besseres Leben, in dem keiner wusste, wie er sein Geld verdiente? Vielleicht hatte er auch Sorge, ich könnte einmal mit einer seiner Tanten oder Kusinen Kaffee getrunken haben, und einen kurzen Moment lang dachte er vielleicht daran, dass das auch Frauen waren, wie die, mit denen er handelte. Vielleicht musste er mich auch von der Herde isolieren, damit er sich einreden konnte, es sei ja alles gar nicht so schlimm, was er da tat.
Eine Weile redeten wir über die Türkei, und dann bat Serdar ein paar andere Männer, sich zu uns zu gesellen. Ich schwieg, während er mit ihnen sprach, nippte an meinem Kaffee und rauchte eine Zigarette. Einen Moment lang schien es fast, als sei alles zur Normalität zurückgekehrt – ein Abend in einer netten Bar mit ein paar Freunden, wie eine ganz normale Frau, die ein ganz normales Leben führte.
Ungefähr eine Stunde später stand Serdar auf. »Danke, Oxana. Es war ein sehr schöner Abend. Brauchen Sie irgendetwas? Kleidung, Kosmetika?«
Ich lächelte. »Das wäre nett.«
»Ich besorge Ihnen alles«, sagte er. Ein Bodyguard trat vor, um mich wieder nach oben zu bringen. Er hatte eine Pistole in einem Schulterhalfter. »Gute Nacht, Oxana. Wir sehen uns dann morgen.«
»Sie haben richtig Glück, wissen Sie«, sagte mein Bewacher, als er die Tür zu einem fremden Zimmer aufmachte.
»Was tun wir hier?«, fragte ich. »Was ist mit Anna-Maria und meinem alten Zimmer?«
»Das meine ich ja. Sie haben dieses Zimmer jetzt ganz für sich allein. Weil Serdar Sie mag, und das ist gut.«
»Aber wieso ...?«
»Verstehen Sie denn nicht? Er ist ein Mafiaboss, unser Chef, der Chef von allem hier in seinem Hotel.«
Mir wurde eiskalt, als die Tür zuging. Ich wollte nicht allein in diesem Raum sein, von Serdar herausgepickt und von den anderen Mädchen getrennt. Ich wollte so unsichtbar sein wie sie.
Den Tag darauf verbrachte ich allein in meinem Zimmer. Im Laufe des Tages hatte ich einen Besucher – einen Bodyguard, der mir eine Tasche voller Kosmetik, Seife und Shampoo brachte, dazu noch einiges an Kleidung und Schuhen. Die meisten Kleider und ein Paar Schuhe passten mir.
»Serdar kommt später dann vorbei«, sagte der Bodyguard mit einem anzüglichen Grinsen. »Sie sollten sich bereithalten.«
Ich fühlte mich ganz merkwürdig, als ich mich vorbereitete und mich so schön wie möglich machte. Es kam mir so vor, als sei es erst Minuten her, dass ich in einer schmuddeligen Scheune, ohne Essen, mit schmutzigen Kleidern und wunden Füßen gewesen war, und jetzt stand ich in einem komfortablen Hotelzimmer mit Bad und einem Bett ganz für mich allein und bereitete mich darauf vor, den Abend mit einem Mafiaboss zu verbringen.
Serdar kam mit den Bodyguards, die ihm nie von der Seite wichen.
»Sehr schön«, sagte er und musterte mich. »Und jetzt gehen wir essen.«
Wir fuhren in ein Restaurant nicht weit vom Hotel entfernt und aßen zu Abend wie ein ganz normales Paar, außer dass zwei bewaffnete Bodyguards uns von einem Tisch ganz in der Nähe bewachten. Serdar wollte alles über mich wissen, und seine freundliche Aufmerksamkeit und das offensichtliche Vergnügen, das er an meiner Gesellschaft hatte, ließen mich ein wenig auftauen. Schnell wurde mir klar, dass es eine gute Idee wäre, nett zu ihm zu sein. Offensichtlich hatte er Macht – vielleicht könnte er mir ja helfen, nach Hause zu meinen Kindern zu kommen, wenn er mich nur genug mochte.
Spätabends gingen wir ins Hotel zurück. Die Bodyguards wurden schließlich entlassen, und er kam mit mir in mein Schlafzimmer. Als er mich an sich zog und anfing, mich zu küssen, schaltete ich meinen Verstand aus, wie ich das so viele Male schon getan hatte. Er konnte mit mir machen, was immer er wollte – und besser, es passierte so, als mit Zwang und Gewalt. Wenn ich es zu genießen schien, würde ihn das freuen, das wusste ich, und wenn ich ihm gefiel, konnte er unter Umständen meine Fahrkarte nach Hause sein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Serdar gegangen. Als ich mich gewaschen und angezogen hatte, entdeckte ich, dass die Tür unverschlossen war, und ich trat auf den Flur hinaus.
Wo ist Anna-Maria?, fragte ich mich. Ich wollte sie finden, wusste aber nicht mehr, welches Zimmer es war. Ich hörte Bodyguards weiter hinten auf dem Flur, und mit denen wollte ich lieber nicht zusammentreffen.
Da fand ich eine weitere unverschlossene Tür, und in dem Raum sah ich andere Frauen herumsitzen; Frauen wie die, die ich an dem Abend unserer Ankunft gesehen hatte. Zögerlich ging ich hinein. Da waren etwa sechs junge Frauen, eine halb schlafend zusammengerollt auf einem der Betten. Ein paar unterhielten sich leise, dabei rauchten sie Kette, eine andere blätterte eine abgegriffene Zeitschrift durch. Keine sah auf, als ich hereinkam.
Ich setzte mich. Tabakrauch hing in der Luft, und keine schien mich zu bemerken, geschweige denn mit mir reden zu wollen, aber ich war froh, wieder unter Menschen zu sein. Bald fiel mir eine Frau auf, die allein dasaß. Ihre Augen waren gerötet, sie hockte da und rauchte, und ich empfand Mitleid, als ich bemerkte, dass sie schwanger war. Als ich zu ihr hinsah, schaute sie auf und mir direkt in die Augen. Ich lächelte.
»Wievielter Monat?«, gestikulierte ich und hielt meine Finger hoch.
»Vierter«, antwortete sie auf Russisch.
Ich versuchte, freundlich zu sein. »Ich weiß, wie du dich fühlst – ich habe selber drei Kinder. Die Anfangszeit ist am schlimmsten, nicht?«
Zögerlich erwiderte sie mein Lächeln und legte sich die Hand auf den Bauch. »Mir war furchtbar übel – wirklich entsetzlich! Jetzt ist es nicht mehr so schlimm.«
Im Gespräch erzählte mir die junge Frau nach und nach, sie sei vor einigen Monaten hierher in Serdars Hotel gekommen und habe sehr wohl gewusst, dass sie als Prostituierte arbeiten würde.
»Meine Familie ist sehr arm«, erklärte sie. »Meine Mutter ist krank. Wir brauchen dringend Geld. Also habe ich mir gesagt, dass dies die beste Möglichkeit für mich wäre, Geld zu verdienen. Sie wollten mich zur Arbeit nach Italien schicken – aber dann bin ich von Vlad schwanger geworden. Er ist einer von den Bodyguards, kennst du ihn? Und jetzt kann Serdar mich nicht verkaufen.« Die Tränen traten ihr in die Augen. »Ich habe solche Angst davor, dass sie mich nach Hause schicken. Die Schande würde meine Verwandten umbringen. Ich bin nicht verheiratet und schwanger, was für eine fürchterliche Schande. Aber ich kann nichts tun.«
»Wie alt bist du?«, fragte ich sanft.
»Neunzehn.« Sie fing an zu schluchzen. Ich ging rüber zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schulter, wusste aber nicht, was ich sagen sollte, um sie zu trösten. Wie viele traurige Geschichten gab es doch auf der Welt. Vermutlich konnte jede Frau hier eine Geschichte von Armut und Missbrauch erzählen.
»He, hallo. Ich bin Tascha. Und wie heißt du?«
Es war eine Frau, die ich mit den Bodyguards hatte herumhängen sehen. Sie war nicht wie die anderen – sie schien sich wohl bei ihnen zu fühlen, wirkte nicht so dumpf wie die anderen Mädchen mit ihren jungen Gesichtern und den leeren Augen.
»Oxana.«
»Also, vielleicht können wir ja Freundinnen werden. Sieht so aus, als sollten wir zwei eine Weile hierbleiben.« Die Frau lächelte mich an. Sie war sehr stark geschminkt und schien sich recht wohl hier zu fühlen.
»Wie kommst du darauf?«, frage ich vorsichtig. Sollte ich von ihr vielleicht einen weiteren Hinweis auf mein Schicksal erhalten?
»Die Bodyguards haben mir erzählt, du bist Serdars Mädchen. Ich habe gehört, er mag dich sehr. Hast du ein Glück! Mir ging es genauso. Ich bin vor einer Weile hergekommen, und einer von Serdars Söhnen hat sich in mich verguckt. Also nahm er mich für sich, und ich wurde nicht weiterverkauft.«
»Und wie lange bist du schon hier?«
»Zwei Jahre. Und ich glaube, ich gehe nicht mehr weg von hier. Ich bleibe wohl für immer.«
Ohne ein Wort zu sagen, starrte ich sie an. Würde es mir auch so ergehen?, fragte ich mich. War es mir vorherbestimmt, für den Rest meines Lebens hierzubleiben, als Gast in einem seltsamen Hotel, als Mädchen eines Mafiabosses?
Aber mein Leben sollte sich ziemlich bald schon wieder ändern.