KAPITEL 26
Los, mach, wir hauen ab.« Eines Morgens warf mir Ardy meine Jacke hin. »Pack deine Sachen.«
»Schon wieder?«, fragte ich und setzte mich auf.
»Diese Bude ist ein Scheißloch. Das Geschäft geht mies. Wir verdienen nicht genug. Wir gehen irgendwohin, wo es besser ist.«
»Wohin?«
»Wartʼs ab.«
Es war Ende Januar, und die Landschaft, die an uns vorbeizog, war eisig und kalt. Wir kamen in eine nahe gelegene Stadt, wo wir Ardys Schwager trafen. Der fuhr uns dann weiter, stundenlang; auf den Schildern, an denen wir vorbeikamen, hieß es erst Österreich, dann Deutschland. War das diesmal unser Ziel?
Keiner hielt uns an, als wir über die Grenze nach Deutschland fuhren. Wir wollten bei Ardys Schwester unterkommen, die in einem fünfstöckigen Mietshaus in der Nähe von Frankfurt wohnte. Sie machte uns die Tür auf, wirkte aber beim Anblick ihres Bruders alles andere als erfreut. Ohne ein Wort zu sagen, winkte sie uns rein. Die Wohnung war warm und gemütlich, und ich sah Spielzeug auf dem Boden im Wohnzimmer liegen, als wir hereinkamen. Von den Kindern war allerdings nichts zu sehen, als wir uns setzten. Ardys Schwester knallte Schüsseln mit Essen vor uns auf den Tisch. Sie sah wütend aus und kalt, und ich spürte, dass sie mit der Situation nicht glücklich war.
»Geh doch einfach duschen, ja?«, sagte Ardy, als wir mit dem Essen fertig waren, und ich stand auf und ging ins Bad.
Ohne ein Wort zu sagen, kam die Frau hinter mir her und drückte mir ein Putzmittel in die Hand. Wortlos machte sie mir klar, dass ich nach der Benutzung des Bads alles scheuern sollte.
Ich stellte mich unter das heiße Wasser und wusch mir den Tag und die lange Reise ab. Trotz des laufenden Wassers drang Geschrei zu mir durch.
»Dreckige Hure!«, hörte ich die Frau schreien. »Verdammt noch mal, was macht die hier? In meiner Wohnung will ich die nicht haben. Wie lange wollt ihr bleiben?«
Mehr verstand ich nicht, ich blieb so lange im Bad, bis nichts mehr zu hören war. Als ich rauskam, waren da zwei kleine Mädchen im Wohnzimmer, die mich anlächelten, als ich mich setzte. Sie mussten etwa drei beziehungsweise sechs sein, und bald trat das ältere Mädchen zu mir und sagte etwas auf Deutsch. Ich verstand nicht, was sie sagte, und lächelte sie einfach nur an, während sie redete, aber als Ardys Schwester reinkam und ihre Tochter sah, nahm sie beide Mädchen und führte sie aus dem Zimmer.
Später brachte mich Ardy nach unten in den Keller und schloss eine Tür auf, die in einen kleinen Raum voller Kartons mit alten Kleidern, Werkzeug und Gewichten zum Trainieren führte.
»Du schläfst hier«, sagte er und deutete auf ein Feldbett, das zusammengeklappt auf dem Boden lag. »Da kannst du dich hinlegen. Und in der Tasche daneben findest du eine Decke und ein Kissen.«
Ich starrte in den feuchten, dunklen Raum. Es gab nur ein winziges Fenster, und es war eisig kalt.
»Schlaf gut«, sagte Ardy.
Ich trat durch die Tür und atmete den Geruch nach feuchtem Stein ein. Die Tür schloss sich hinter mir, und Ardy drehte den Schlüssel im Schloss herum. Ich fand keinen Schlaf in der Nacht, als ich auf diesem Feldbett lag. Die Decke war so dünn, mir war kalt, und ich konnte nicht aufhören zu weinen, als ich so dalag. Ich wusste, ich durfte nicht zulassen, dass ich mich so elend fühlte. Ich musste mich innerlich noch besser abschotten, wie Eis werden, und durfte nichts fühlen. Nur dann würde der Schmerz nachlassen.
Mir war klar, dass Ardys Schwester mich nicht in der Wohnung dulden würde, und so war es keine große Überraschung für mich, als Ardy mich am nächsten Morgen in den Wagen verfrachtete.
»Wenn wir hier schon warten müssen, kannst du wenigstens was verdienen«, sagte er grob, auch wenn er mir nicht erklärte, worauf wir warteten.
Er brachte mich zu einem Lokal. Ich ging hinein und sah eine Bühne mit einer Stange darauf und Spiegel überall. Da war auch eine Bar, und dahinter führte eine Treppe nach oben; an der Decke hing eine Glitzerkugel, die winzige Lichtquadrate auf den Mädchen tanzen ließ, die vor der Bühne auf Ledersofas lagen. Es war etwa acht Uhr abends, und das Lokal war leer, also saßen alle Frauen herum, rauchten und unterhielten sich. Alle trugen sie sexy Nachthemdchen – manche hatten ein paar Streifen Stoff über den Brüsten, andere vorn einen tiefen V-Ausschnitt, der Rücken war frei, und ein strassbesetzter String-Tanga schaute hervor. Ich verstand nicht, worüber sie sich unterhielten, weil die Musik zu laut war. Ardy redete mit einer Frau, die hier das Sagen zu haben schien, dann drehte er sich zu mir um.
»Du bleibst jetzt eine Weile hier. Marja wird dir sagen, was du zu tun hast. Sie weiß, dass du nicht raus darfst, also denk nicht mal dran, klar? Ich bin in ein paar Tagen zurück.«
Dann ging er raus, und ich blieb stehen und starrte ihm hinterher. Sosehr mir sein Anblick auch verhasst war, er war doch der einzige Fixpunkt in meinem Leben, und ich bekam es mit der Angst, als ich ihn verschwinden sah.
»Komm mit«, sagte die Frau auf Russisch, und ich folgte ihr.
»Das hier ist dein Zimmer«, sagte sie, als sie eine Tür aufmachte. »Du teilst es dir mit einem anderen Mädchen, und wenn viel zu tun ist, musst du ein anderes benutzen.«
Der Raum war klein und sauber, die Wände rosa gestrichen, und überall hingen Bilder von nackten Frauen.
»Hast du Kleider?«, fragte die Frau.
»Nur das«, antwortete ich und deutete auf meine Hose und meinen Mantel. Ardy hatte meine Reisetasche in der Wohnung behalten.
»Ich bring dir was.« Die Frau ging und kam ein paar Minuten später mit einem roten Negligé zurück. »Zieh das an«, sagte sie. »Hast du Kondome?«
»Nein.«
Sie seufzte und ging noch einmal weg.
Als ich allein war, zog ich mich aus und streifte das Negligé über, dann setzte ich mich und wartete. Mir war völlig klar, dass ich mich in einem Bordell befand und hier Freier empfangen sollte. Ich war ein wenig nervös. Das war alles ganz neu für mich. Über Geld hatte die Frau nichts gesagt. Vielleicht verlangten wir ja, was wir wollten, und der Kunde gab es uns, wenn wir allein mit ihm waren. Ein winziger Hoffnungsschimmer flackerte in mir auf – vielleicht würde ich ja etwas für mich behalten können.
Die Frau kam wieder und gab mir ein paar Kondome.
»Du solltest jetzt runtergehen und die anderen kennenlernen«, sagte sie, und wieder folgte ich ihr.
Nervös setzte ich mich zu den anderen Frauen auf den Sofas. Bisher hatte ich im Grunde mit keiner Frau gesprochen, die auf dieselbe Weise arbeitete wie ich. Von den anderen Mädchen in Venezia Mestre hatte ich mich ferngehalten, und auf den Straßen von Cavalese hatte ich keine anderen gesehen. Ich überlegte, wie sie wohl so sein mochten, aber bald merkte ich, dass sie genauso waren wie die Frauen bei Serdar – jung, einigermaßen nett und alle aus Osteuropa. Allmählich entspannte ich mich, als wir uns in dem Sprachengemisch unterhielten, das wir unterwegs gelernt hatten, und dabei rauchten wir, saßen da in unseren Negligés und warteten.
Ich hatte Angst vor meinem ersten Freier hier, aber in dieser ersten Nacht hatte ich keinen. Es war so ruhig, dass nur ein oder zwei Mädchen überhaupt zu tun hatten. In der darauffolgenden Nacht war es dasselbe. Ardy war wütend, als er kam und feststellen musste, dass ich in den zwei Nächten, die ich inzwischen hier war, nichts verdient hatte. Tagsüber wartete ich einfach auf den Abend – im Gegensatz zu manchen Mädchen hier durfte ich nicht raus und musste in meinem Zimmer bleiben.
Die Abende waren gar nicht so schlecht. Eines gefiel mir an diesem Lokal – in den Stunden, in denen wir auf Kunden warteten, durften wir trinken und tanzen, und wenn mir die Musik durch den Kopf hämmerte und mir der Wodka ins Blut ging, vergaß ich beinahe, wo ich war. Einen kurzen Moment lang schloss ich die Augen und dachte an die Zeit mit Genia, als ich noch frei gewesen war. Aber dann hörte die Musik auf, ich musste nach oben in mein kleines Zimmer, und ich wusste, ich war wieder im Gefängnis.
Die Geschäfte gingen mäßig, und ich hatte kaum Freier. Ardy wurde immer wütender, wenn er meinen Verdienst abholen kam und feststellen musste, dass er nur wenig mitnehmen konnte.
»Was treibst du hier, du fette Kuh?«, schrie er mich immer wieder an, wenn er in der Bar auf mich wartete. »Du brauchst dich doch bloß zu verkaufen, aber nicht mal das kannst du. Du bist zu gar nichts gut.«
Ein paar Tage nach meiner Ankunft hier erschien ein neues Mädchen mit zwei Männern, die Türkisch mit der Chefin sprachen, als sie mit ihr debattierten. Ich verstand die Männer, und mir wurde gleich klar, dass das Mädchen so eine war wie ich.
»Sie darf hier nicht raus«, sagte der eine. »Und telefonieren darf sie auch nicht. Das ganze Geld, das sie verdient, geht an uns.«
Später fand ich das Mädchen weinend auf der Toilette.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte ich auf Russisch, aber sie verstand mich nicht, also versuchte ich es auf Italienisch. Die Sprache beherrschte sie ein bisschen, und so konnte sie mir erzählen, dass sie Anna hieß und aus Rumänien stammte.
»Ich will nicht reden«, sagte sie und vergrub das Gesicht in einem Handtuch, aber ihre Schluchzer konnte sie nicht unterdrücken.
»Wieso weinst du denn?«, fragte ich. »Vielleicht kann ich dir ja helfen.« Ich wusste genau, was mit ihr war. Ich sah, wie verängstigt sie war, wie in die Enge getrieben. Sie war wie ein Tier im Käfig, genau wie ich. »Du bist nicht die Einzige, die sich in dieser Lage befindet, weißt du«, sagte ich sanft.
Mit angstvollem Blick sah Anna mich an.
»Ich habe deinen Zuhälter über dich reden hören. Ich weiß, du bist eine Gefangene.«
»Er ist nicht mein Zuhälter«, sagte sie hastig.
»Mach dir keine Sorgen, mir musst du nichts vormachen. Ich weiß, was hier läuft.«
»Bitte nicht«, flüsterte sie völlig verschreckt. »Du kriegst noch Probleme, wenn du mit mir redest. Und die bestrafen mich, wenn sie herausfinden, dass ich dir irgendwas erzählt habe.«
»Es ist kein Mensch hier, und wer sollte erfahren, was wir miteinander geredet haben? Ich sage ja bloß, ich bin in derselben Situation wie du. Ich habe einer Freundin vertraut, und jetzt bin ich hier, und weg komme ich nicht, weil ich Kinder habe, und die wären in Gefahr, wenn ich abhaue. Ich weiß, du bist unglücklich, aber du musst durchhalten. Versuch doch, mit den anderen Mädchen zu reden, vielleicht schließt du ja Freundschaft mit einer. Ohne eine Freundin wird es dir an einem Ort wie diesem nicht gut gehen, und hier ist es immer noch besser als auf der Straße. Wenigstens hast du es warm und bist in Sicherheit.«
»Können wir nicht fliehen?«, fragte sie mit weit aufgerissen Augen und voller Hoffnung.
Beinahe hätte ich gelacht, als ich sie so ansah. Sie war durch Prügel noch nicht gefügig gemacht worden, so wie ich. »Wir haben Zuhälter«, sagte ich. »Und die lassen uns nirgends hin. Weißt du das noch nicht? Sich zu wehren ist völlig sinnlos. Du musst einfach akzeptieren, was du jetzt bist, und hoffen, dass es eines Tages aufhören wird.«
An dem Abend tauchte Ardy auf, um sein Geld zu holen. Er kam zu mir rüber und steckte sich die Geldscheine in die Tasche. »Das ist heute deine letzte Nacht hier«, sagte er beiläufig. »Wir sind bereit für die nächste Phase.«
»Die nächste Phase?«, echote ich. »Was heißt das? Wo gehen wir hin?« Ich überlegte, welche neuen Qualen Ardy wohl für mich im Sinn hatte.
»Habe ich es dir noch nicht erzählt?« Fröhlich lächelte er. »Wir gehen nach England.«
Ich war sprachlos, konnte ihn nur verblüfft anschauen.
Er nickte, offensichtlich sehr zufrieden mit sich. »Tja, da werden wir reich. Ich habe mit Leuten gesprochen, und die sagen, es gibt dort viele Illegale. Da ist das ganz große Geld zu machen. Alle sagen, in England ist es leicht zu schaffen.«
England. Ich wusste etwas davon, aber nur sehr wenig, und fast war es mir schon egal, wo ich hinging. Von dem Land, in dem ich lebte, würde ich ohnehin nichts zu sehen bekommen. Ich würde ja doch nur wieder in ein Zimmer eingesperrt oder auf die Straße geschickt werden, wo Ardy mich dann überwachte, und ich würde nichts zu Gesicht bekommen mit Ausnahme der Männer, die für mich bezahlten. Lediglich ein weiterer Ort, an dem ich im Gefängnis wäre.
»Wann fahren wir?«, fragte ich. Ein Schauder überlief mich, aber ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. Die meisten Reisen im Lauf des letzten Jahres waren qualvoll für mich gewesen, und ich fürchtete eine weitere gefährliche Fahrt, gejagt von der Polizei, in Lichtkegeln und Kugelhagel gefangen oder in eisiges schwarzes Wasser über Bord geworfen.
»Entspann dich.« Ardy sah meinen Gesichtsausdruck. »Wir fahren morgen. Alles wird gut. Es ist schon arrangiert.«
Als er weg war, kam Anna zu mir. »War das dein Zuhälter?«
Ich nickte. »Er bringt mich morgen nach England.«
Anna wirkte bestürzt. Ich war ihre einzige Freundin hier, und jetzt sollte sie mich verlieren. »Kann ich nicht mitkommen?«, bettelte sie. »Kannst du Ardy nicht fragen? Ich will nicht hierbleiben ohne dich. Ich habe Angst.«
»Auf keinen Fall!«, rief ich. »Wenn du mitkommst, tauschst du nur den einen Zuhälter gegen einen anderen ein.«
»Aber ich kann doch nicht allein hierbleiben. Lieber bringe ich mich um. Er schlägt mich. Ich halte das nicht mehr aus.«
Ich sah Anna an. Sie war noch so jung und verängstigt, und wenn ich Ardy auch verabscheute, hatte er mich doch wenigstens nicht allzu oft geschlagen. »Na gut, ich will sehen, was ich tun kann.«
Am nächsten Tag war ich fertig, als Ardy kam, und Anna war bei mir, auch sie reisefertig.
»Wer ist das?«, fragte Ardy argwöhnisch.
»Meine Freundin Anna. Sie will mitkommen.«
Er starrte sie an. Anna lächelte und gab sich Mühe, ihm zu gefallen. »Wieso?«
»Sie hasst ihren Boss. Sie will davonlaufen.«
Ardy runzelte die Stirn. Es war gefährlich, einem anderen die Frau wegzunehmen, aber ich sah, wie es in seinem Hirn arbeitete. Wir würden gleich aufbrechen, keiner würde uns mehr finden. Womöglich konnte er sie in England verkaufen und ein bisschen was extra verdienen. Ich wusste, seine Geldgier würde seine Angst besiegen, und tatsächlich zeigte sich bald ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Na schön, Anna. Du kannst gern mit uns kommen. Du kannst mir die Kosten für die Reise zurückzahlen, wenn wir in England sind.«
»Danke«, sagte Anna hocherfreut.
Was für eine Welt, dachte ich, in der eine Frau dankbar dafür ist, dass man sie ins Ausland bringt, wo sie als Prostituierte arbeiten muss.
»Na los«, sagte Ardy grinsend. »Nächster Halt England.«