KAPITEL 25

Ardy warf mir einen bösen Blick zu, als er aus dem Bistro kam; ich stand gegenüber im Schnee. Die ganze Nacht war er in dem Lokal gewesen und hatte mich wie üblich beobachtet, aber jetzt war es 23.00 Uhr, und das Lokal machte dicht. Er ging bis ans andere Ende der Straße und bog dann um die Ecke. Ich wusste, er würde bald zurückkommen, um mich abzuholen.

Meine Beine fühlten sich taub an, und ich trat ein paarmal fest mit den Füßen auf. Ich trug eine rote Hose und eine Jacke, dazu schwarze hochhackige Stiefel, doch deren Sohlen waren dünn, und es war so kalt.

Ein Wagen neben mir wurde langsamer, und ich sah durchs Autofenster hinein.

Ein Teenager brüllte mir ins Gesicht: »Dreckige Nutte! Wie viel nimmst du für einen Fick, hä?«

Schallendes Gelächter im Wagen. Der Junge war mit Freunden unterwegs, denen es gefiel, wie er mich anbrüllte.

»Scheißschlampe!«, rief er, dann fuhr er davon.

So etwas passierte hier oft. Wir waren in einer Stadt namens Cavalese, in den Dolomiten. Dort wohnten wir bei zwei von Ardys Freunden. Ihr Haus war winzig, und Ardy, einer der Männer und ich teilten uns ein Bett, während der andere Mann auf dem Sofa schlief. Das war nicht die einzige Veränderung. Da nun andere Leute ständig um uns waren und uns beobachteten, war klar, dass Ardy meinte, er müsse mehr denn je zeigen, wer der Boss war. Er warf sich in die Brust, benahm sich wie ein Macho und behandelte mich vor den anderen wie Dreck; er warf mir Essensreste hin, als sei ihm erst nachträglich eingefallen, dass es mich gab, oder er ignorierte mich völlig.

Wenn wir allein waren, war das anders. Dann war er eifersüchtig und kehrte den Beschützer heraus, als mache er sich Sorgen, ich könne mit einem der anderen Männer verschwinden.

»Denk dran, du bist mein Mädchen«, sagte er immer wieder, und gelegentlich behauptete er sogar, dass er mich liebe. »Wenn wir diese Arbeit nicht mehr machen, bleiben wir für immer zusammen, und ich kümmere mich um deine Kinder«, sagte er dann.

Darauf lächelte ich immer und gab mir Mühe, den Hass in meinen Augen zu verbergen. Warum sagte er solche Dinge? Wollte er, dass ich ihm vertraute, an ihn glaubte? Oder dachte er wirklich, dass ich nach all dem, was er mir angetan hatte, mit ihm zusammenbleiben wollte? Die Vorstellung, dieser Mann könnte irgendwie in die Nähe meiner Kinder kommen, ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Doch so gern ich ihm auch die Worte »Zuhälter« und »Hure« entgegengeschrien hätte, war ich doch nicht dazu in der Lage. Ich wusste, ich brauchte ihn, bis ich einen Weg aus all dem herausgefunden hatte.

Mehr denn je ekelte er mich an. Ich begriff, wie erbärmlich er war, und ich verabscheute es, wenn er dachte, er könne den großen Mann markieren, indem er grob zu mir war. Ich dachte an Roberto, der ein richtiger Gentleman war und mich anständig behandelt hatte, und ich wusste, dass Ardy eine elende Kreatur war, ein grausamer kleiner Junge, der nichts Gutes an sich hatte. Wenn er jetzt Sex mit mir wollte, verlangte ich immer, dass er mich von hinten nahm. Ich wollte nicht, dass er mein Gesicht sah, wenn ich im Dunkeln weinte.

»Du bist so gut«, sagte ich ihm und versuchte zu erreichen, dass er schneller fertig wurde.

Spaß am Sex mit ihm hatte ich nie, ich wusste nicht einmal, was ein weiblicher Orgasmus ist – aber das wusste auch Ardy nicht, und wenn ich ihm Komplimente darüber machte, was für ein toller Mann er sei, spürte ich, dass er allmählich glaubte, ich hätte tatsächlich Gefühle für ihn. Ich wusste bloß, dass es besser für mich war, wenn er das dachte. Ich hatte geglaubt, Roberto könne mir irgendwie helfen, aber jetzt wusste ich, dass das keiner konnte.

 

Cavalese erwies sich als Fehler.

Es war kein Ort für Straßenmädchen, und es gab nicht genug Freier. Ich hatte immer nur zwei oder drei Männer pro Nacht, und den Rest der Zeit musste ich still dastehen, während Teenager mir Beleidigungen entgegenschrien.

Ich versuchte, gar nicht erst hinzuhören, aber das war schwer. Wenn die Menschen einen nur lange genug verabscheuen, glaubt man schließlich, sie haben recht. Ardy, die Männer und auch die anderen Leute, die einfach nur an mir vorbeigingen, sagten mit ihren Blicken dasselbe: »Nur du hast Schuld daran, dass du hier bist, sonst keiner. Du bist dumm, ekelhaft und innerlich genauso hässlich wie äußerlich.«

Hier in dieser kleinen Stadt kam es mir allmählich so vor, als würde ich wirklich noch verrückt werden. Seit der Vergewaltigung schien es mir, als führte ich jeden Tag zwei unterschiedliche Existenzen – eine in meinem Körper und eine außerhalb. Da gab es den Sturm, den ich mir nicht anmerken ließ, und die Ruhe, die ich der Welt zeigte; es gab die Frau und den Roboter.

Meistens hatte ich meine Gefühle tief in mir verschlossen, so gut verdrängt wie irgend möglich, an eine Stelle, an der sie mir nicht wehtun konnten. Aber wenn ich allein war, fühlte ich nur Schuld und Kummer. Wie hatte ich zulassen können, dass mir das geschah? Wann würde ich meine geliebten Kinder wiedersehen? Bestrafte mich Gott für etwas, das ich getan hatte? War ich wirklich ein so schrecklicher Mensch, dass ich dieses Leben verdiente?

Allein im Bad, drehte ich die Dusche auf, dann ballte ich die Hände zu Fäusten und stopfte mir Handtücher in den Mund, wenn ich schrie und schrie. Ich starrte auf meinen Körper, und ich weinte vor Ekel, wenn ich an all die Männer dachte, die sich an mir bedient hatten. Ich nahm eine Dusche nach der anderen, um den Schmutz wegzuwaschen, aber das gelang mir nie. Das war meine Strafe.

Inzwischen gab es Momente, die mir beinahe Angst machten. Ich war mir sicher, den Verstand zu verlieren, wenn ich das Wasser abdrehte, mich auf den Boden setzte und einfach ins Leere starrte oder mit mir selber redete und versuchte, an dem Menschen festzuhalten, der ich einmal gewesen war.

»Du musst stark sein. Du bist eine erwachsene Frau. Nur noch einen Schritt, nur noch einen Tag länger ... Bald wird alles vorbei sein. Du darfst nicht aufgeben, denn für den Tag musst du bereit sein.«

Es gab andere Momente, in denen ich still in den Spiegel starrte – ich verzog den Mund, schlug mich, so dass sich blaue Flecken auf der Haut zeigten, riss mir Haare aus oder kratzte mich. Ich fühlte mich beinahe wie unter Drogen und wollte einfach nur schlafen und mit allem aufhören. Nie mehr aufwachen.

Einmal war ich so verzweifelt, dass ich dachte, dieses Leben könne nichts mehr wert sein, wo es doch so voller Schmerzen war, und deshalb versuchte ich, mich umzubringen, indem ich mir eine Strumpfhose um den Hals band und das andere Ende an eine Deckenlampe knotete. Aber die Strumpfhose hielt nicht, nachdem ich den Stuhl unter mir weggekippt hatte, und ich fiel lachend auf den Boden. Ich war so schmutzig, dass nicht einmal Gott mich wollte.

Denk an deine Kinder, sagte eine Stimme in mir, wenn ich solche Gedanken hatte. Du musst zurück zu ihnen nach Hause. Du musst Pascha wieder eine gute Mutter sein. Wie sollen sie weiterleben, wenn du sie im Stich lässt? Du musst stark sein.

Dann klopfte immer Ardy an die Tür, und ich wusste, dass ich zu ihm musste. Ich zog mich an und warf einen Blick in den Spiegel, um meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen. Dann lächelte ich meinem Spiegelbild zu und knipste mich wieder an, so als legte ich einen Schalter in mir um, damit ich innerlich wie tot wurde.

 

Die Wochen vergingen. Ich arbeitete jetzt seit gut sechs Monaten. Als es Weihnachten wurde und die Italiener feierten, musste ich ständig an zu Hause denken. In der Ukraine feierten wir nicht auf diese Weise, aber ich wusste, es war eine ganz besondere Zeit für Kinder, und das machte mich traurig.

Es war der 13. Januar 2002, und ich stand auf einer menschenleeren Straße. Kein Mensch weit und breit zu sehen ... die ganze Stadt war ruhig, mit Ausnahme der Bar gegenüber. Ich sah meinen Atem in Form von kleinen weißen Wölkchen, als ich mit den Füßen auftrat und versuchte, das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen. Ob wohl noch Freier heute Nacht kämen? Es wurde allmählich spät, und um diese Zeit lagen vermutlich längst alle in ihren Betten. Es war so kalt.

In dieser Nacht musste ich immer wieder an zu Hause denken. In der Ukraine feierte man heute Neujahr. Das war der größte Festtag im Jahr, und in drei Tagen wäre mein sechsundzwanzigster Geburtstag. Alles in mir tat weh, wenn ich an Ira und die Kinder dachte. Würden sie an mich denken, wenn sie die Gläser hoben und auf das neue Jahr tranken? Würden sie mir Karten zum Geburtstag malen und sich dann fragen, weshalb ich nicht da war und sie aufmachte?

Ich steckte eine Hand in die Tasche und fühlte die fünfzig Euro dort. Die neue Währung war gerade in Gebrauch gekommen, und der eine Freier in dieser Nacht hatte mir den Schein gegeben. Ich malte mir aus, etwas Alkoholisches zu trinken, als ich die Tür zur Bar anstarrte. Seit unserer Ankunft in Cavalese hatte ich von Ardys Freunden Wein gestohlen, denn ich mochte das weiche, warme Gefühl überall im Körper, wenn ich einen Schluck trank, und jetzt wollte ich wieder etwas, als ich so an zu Hause dachte. Aber es ging nicht. Ardy würde mich umbringen, wenn er herausfände, dass ich sein Geld ausgegeben hatte.

Doch die Zeit verging, und ich wurde immer wütender. Wieso sollte ich nicht einen Schluck trinken, wo doch meine ganze Familie feierte? Wieso ließ mich Ardy hier auf dieser eiskalten Straße stehen, wenn mich doch keiner wollte? Ich war es leid, ihm wie ein Schatten zu folgen, immer alles zu tun, was er befahl. Scheiß drauf. Ich würde mir jetzt einen Schluck genehmigen und dabei an meine Familie denken. Wenn ich das schnell machte, würde er es gar nicht merken.

Vor lauter Angst rannte ich und stürmte durch die Tür in die Bar. Dort drin war es ruhig, nur ein paar Gäste saßen dort und tranken. Die vertraute Stimme meines italienischen Lieblingssängers erfüllte die Luft, und mein Herz schlug ein bisschen ruhiger. Seit ich in Italien war, schwärmte ich für Eros Ramazzotti – seine Musik war romantisch, seine Stimme wunderschön, und er sah sehr gut aus. Ich brauchte ihn bloß singen zu hören, und schon ging es mir besser.

Der Barkeeper lächelte mich an, als ich auf ihn zukam und mich auf einen Barhocker setzte.

»Einen doppelten Whisky. Ohne Eis«, sagte ich hastig. Ich musste schnell sein.

Der Mann sagte nichts, als er mir den Drink einschenkte. Ich trank auf ex und wollte gleich noch einen, als mir der Whisky im Magen brannte.

»Noch einen bitte«, sagte ich.

Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen, trank meinen nächsten Whisky und hatte Ardy bald völlig vergessen, als der Kopf mir langsam zu schwimmen begann. »Frohes neues Jahr«, sagte ich zu mir selbst, als ich mir Sascha, Pascha und Luda vorstellte. Sollte dies das Jahr sein, in dem ich endlich meine Schulden abbezahlen und zurück zu ihnen nach Hause konnte?

Plötzlich stand Ardy neben mir und sah mich an; er war fuchsteufelswild. »Was machst du hier, verdammt noch mal?«,

zischte er mir ins Ohr.

Ich drehte mich zu ihm um.

»Verpiss dich«, sagte ich. »Heute Nacht feiern die Leute in meinem Land. Es ist Neujahr, also feiere ich hier drin.«

»Los, raus hier, oder es wird dir noch leid tun«, sagte Ardy leise und nahm mich beim Arm.

Die eisige Luft nahm mir fast den Atem, als er mich nach draußen zog, und in meinem Kopf drehte sich alles noch viel mehr.

»Scheiße, wie kannst du es wagen?«, schrie Ardy. »Du kommst dir wohl ziemlich schlau vor, was?«

Er holte aus und schlug mich, und ich fing an zu lachen. Von dem Whisky war mein Kopf so leicht, mein Herz so mutig. Wieso sollte er nicht wissen, dass ich nicht für immer sein Schaf sein würde?

»Tu mir nicht allzu weh«, sagte ich. »Wenn ich morgen mit blauen Flecken zur Arbeit gehe, wird mich keiner wollen. Aber wenn dir das nichts ausmacht, dann bitte, nur zu.«

Ardys Augen flammten auf, er holte aus und schlug mich erneut. Und wieder lachte ich.

»Na schön, dann arbeite ich morgen eben nicht, denn ich werde überall Blutergüsse haben. Willst du das?«

»Du bist ja betrunken, du dämliche Nutte«, zischte er. Dann sagte er nichts mehr, als er mich packte und mich nach Hause zerrte.

Am nächsten Tag wachte ich mit einem entsetzlichen Hämmern im Kopf auf, und ich war ganz entsetzt wegen dem, was ich getan hatte. Mein ganzer Schneid war verflogen, und ich fing an zu zittern. Noch nie war ich Ardy gegenüber ungehorsam gewesen. Was würde er tun? Mich an seine Freunde verkaufen, wie er das immer angedroht hatte?

Das Gesicht tat mir weh, wo er mich geschlagen hatte. Ich stand auf, ging unter die Dusche, dann setzte ich mich hin und zündete mir eine Zigarette an.

»Wie geht es dir?«, fragte Ardy, als er ins Wohnzimmer kam.

»Ich habe Kopfschmerzen«, antwortete ich.

»Also, was war los letzte Nacht?«

»Was meinst du?«

»Ich meine, was für einen Scheiß hast du da abgezogen? Erinnerst du dich an nichts mehr?«

»Nein.«

»Du lügst.«

»Nein, ich lüge nicht.« Ich riss die Augen weit auf und sah ihn ganz unschuldig an. »Bestimmt nicht. Was ist denn gewesen?«

»Du hast zu mir gesagt, ich soll mich verpissen.«

Ich starrte ihn an, Entsetzen im Blick. Ardy musste mir unbedingt glauben, dass ich nicht mehr wusste, was ich getan hatte. Er durfte nicht wissen, dass ich mich auch nur einen Atemzug lang daran erinnern konnte, ihm nicht gehorcht zu haben. »Das ist ja furchtbar, Ardy. Es tut mir so leid«, flüsterte ich. »So was hätte ich nie und nimmer sagen dürfen. Ich weiß auch nicht, was da los war, aber ich tue es bestimmt nicht wieder.«

Kalt sah Ardy mich an. »Ist das dein Ernst?«

»Ja.«

»Na ja, sieh zu, dass du dich auch wirklich daran hältst«, sagte er. »Wenn nicht, wird es dir noch leidtun. Halt dir immer deine Kinder und die Probleme vor Augen, die sie kriegen könnten. Ich muss oft an deine hübsche Tochter denken, Oxana. Vielleicht könnte sie ja auch für mich arbeiten. Ich bin sicher, sie gibt eine prima Hure ab, wenn die Zeit reif ist.«

Ich wandte mich ab; mir war schlecht, aber ich gab mir alle Mühe, es nicht zu zeigen. Nie wieder durfte ich die Kontrolle über mich verlieren.