KAPITEL 5

Pawel, genannt Pascha, war klein, sein dichtes schwarzes Haar war wie eine Kappe, und er hatte riesige blaue Augen, die so dunkel waren, dass sie beinahe schwarz aussahen. Ich musste an meinen Vater denken, wenn ich ihn ansah.

»Er braucht viel Zuwendung«, sagte der Arzt, als er ihn mir reichte. »Er hat eine leichte Gelbsucht, aber das dürfte nicht so schlimm sein.«

Ich schwieg, als ich zum ersten Mal das Gewicht meines Sohnes in den Armen spürte. Pascha regte sich auf meinem Arm, und ich starrte auf ihn herunter, als sich seine Augen zitternd öffneten. Tränen rannen mir über die Wangen. Irgendwie musste ich meine Liebe zu ihm finden, die Sünde vergessen, die ich begangen hatte in dem Versuch, ihn nicht auf die Welt kommen zu lassen, und auch die üblen Schläge, die mir Sergej verabreicht hatte vor Wut darüber, dass ein zweites Kind unterwegs war. Mein Baby brauchte mich.

»Ich werde mich gut um ihn kümmern«, sagte ich, als ich zu dem Arzt aufsah.

Aber auch wenn ich voller Zärtlichkeit für den Kleinen war, wurde das Leben nicht leichter. Pascha war ein kränkliches Kind, und ich war nervös, als ich ihm zum ersten Mal die Windeln wechselte. Seine Haut war dünn wie Papier, die langen Beine waren dürr, und statt eines Pos, so dick und rundlich wie ein Pfirsich, war sein Hinterteil mager und knochig. Er war ein unruhiges Kind, das meine Brustwarze ausspuckte, wenn ich sie ihm hinhielt, obwohl er gleichzeitig vor Hunger weinte – und er weinte stundenlang, bis Sergej herumbrüllte.

»Sorg dafür, dass er Ruhe gibt! Ich halte den Lärm nicht aus. Wieso ist dieser Bastard überhaupt hier? Wieso füttere ich ihn durch und gebe ihm ein Zuhause?«

Pascha war genau so, wie ich befürchtet hatte – ich war überzeugt, seine Kränklichkeit rühre daher, dass ich damals versucht hatte, ihn loszuwerden, und ich war sicher, dass er vor Kummer schrie. Wie sollte er denn gesund und glücklich sein nach allem, was passiert war? Umso verzweifelter wünschte ich mir, gut für ihn zu sorgen, damit er gesund und fröhlich wurde wie Sascha. Mein älterer Sohn war fast zwei und entwickelte sich so gut, wie das unter den Umständen möglich war. Ich versuchte, dafür zu sorgen, dass er immer genug zu essen und genug Milch hatte, und er wuchs tüchtig. Er tapste in der Sommerküche herum, plapperte und spielte. Mit seinem Charme gelang es ihm sogar, Sergej aus seinen Wutanfällen zu holen, wenn ich auch dankbar dafür war, dass er die meiste Zeit schlief, während mein Mann betrunken herumwütete.

Ich wusste, dass Sascha stark war. Meine große Sorge galt Pascha; ich hatte Angst, er würde das Leben, das wir führten, nicht überleben. Gleich, ob ich ihn stillte, ihn anzog, ihn warm hielt, immer litt ich Qualen vor Angst, er könne sterben. Wenn er schrie und weinte, war ich sicher, dass er mir von seinem Kummer erzählte und dass er ihn nicht ertragen konnte.

»Wieso steckst du ihn nicht einfach ins Waisenhaus?«, schrie Sergej oft voller Wut. »Der stirbt ja sowieso, also könntest du dir genauso gut die Mühe sparen, dich um ihn zu kümmern.«

Meine Beziehung zu Sergej verschlechterte sich von Tag zu Tag. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass er je in der Lage sein würde, für uns zu sorgen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer war der Job als Hilfsarbeiter, den er sich gesucht hatte und bei dem er das bisschen Geld verdiente, das wir für Lebensmittel und Kleidung brauchten. Aber nach einem heftigen Streit mit einem anderen Arbeiter verlor er die Stelle. Wir lebten wieder von dem, was Sergej stahl und nicht vertrank. Aber selbst ein Dieb als Ehemann und ein paar Münzen für Lebensmittel waren besser als gar kein Ehemann.

Eines Abends saß Sergej am Tisch und versuchte, ein altes Radio zu reparieren, das er gefunden hatte. Sascha spielte zu seinen Füßen mit ein paar Einzelteilen, die Sergej weggeworfen hatte. Ich saß so nah am Feuer wie möglich und hielt Pascha im Arm. Mein Beschützerinstinkt ihm gegenüber war stärker denn je, denn an dem Tag waren wir bei einem Arzt gewesen, der uns gesagt hatte, dass Pascha einen Leistenbruch und Probleme mit den Muskeln habe. Ich wusste ja, dass mein Sohn kränklich war, aber ich war doch entsetzt, als mir der Arzt vorschlug, er solle ins Waisenhaus, wo man ihn operieren und sich um ihn kümmern würde.

»Aber das kann ich doch nicht machen«, sagte ich. »Er ist mein Sohn. Wie könnte ich auch nur eine Nacht ruhig schlafen, wenn ich ihn im Stich ließe?«

»Nun ja, es könnte aber besser für ihn sein.«

An seinem Blick sah ich, dass er mich verabscheute. Was der Arzt wirklich sagen wollte, war: »Wieso setzen Sie ein Baby in die Welt, wenn Sie sich nicht darum kümmern können?«

Ich schämte mich, wollte erklären, wie es so weit hatte kommen können, aber ich schwieg.

Jetzt musterte ich Sergej, der an dem Radio herumspielte. Was wäre gewonnen, wenn er es wirklich reparierte? Könnte er es verkaufen und würde mir das bisschen Geld geben, damit ich Lebensmittel kaufte? Das bezweifelte ich. Ich zog Pascha dicht an mich heran und spürte, wie die Wut in mir hochkroch.

»Wir müssen Arbeit finden«, sagte ich. »Das Baby ist krank. Wir brauchen Geld, damit wir richtige Milch kaufen können. Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat. Wir müssen dafür sorgen, dass Pascha zu Kräften kommt.«

Sergej sah mich an. »Ich tue ja mein Bestes. Ich suche mir Arbeit, wenn ich kann.«

»Aber wir müssen noch mehr tun. Wir brauchen bloß zwei oder drei Dollar am Tag für Lebensmittel, und wenn du keine Arbeit findest, finde ich ja vielleicht welche.«

Sergej riss die Augen auf. »Und ich?«, fragte er. »Soll ich mich etwa um die Kinder kümmern, während du arbeitest?«

»Ja. Eine andere Wahl haben wir nicht.«

»Also, du müsstest ja nicht arbeiten, wenn wir Pascha einfach ins Waisenhaus geben.«

Die Wut wurde zu einem harten Klumpen in meinem Bauch. Pascha, Pascha, Pascha ... Sergej wollte alle Schuld auf ihn schieben.

»Wieso verstehst du das denn nicht?«, fauchte ich. »Wir brauchen bloß was zu essen, und du beschaffst es uns nicht. Was für ein Vater bist du überhaupt? Sieh uns doch an. Wir sind mager, krank.«

»Aber ich denke doch die ganze Zeit an dich, Oxana.«

Plötzlich vergaß ich alles, was Sergej in der Vergangenheit in mich reingeprügelt hatte. Ich legte Pascha in sein Körbchen, stand auf und sah Sergej direkt in die Augen. »Was?«, schrie ich. »Wann denkst du denn mal an irgendwen außer an dich selbst? Du gibst Geld für Wodka aus, und deine eigenen Kinder haben nichts zu essen. Du kannst doch nichts als trinken und stehlen. Du wirst dich nie ändern. Du bist kein Mann, du kannst ja nicht mal für uns sorgen!«

Sergejs Augen funkelten, aber das war mir egal. Wie eine Welle durchströmte mich die Wut. Ich konnte mich nicht ordentlich um meine Kinder kümmern, Pascha war krank, wir hatten ständig Hunger, und ich wurde von den Leuten genau wie Sergej als Dieb verabscheut, weil ich seine Frau war. Sein Verbrechen war mein Verbrechen.

»Du bist doch eine Witzfigur«, lachte ich. »Du kannst nichts weiter als Frauen schlagen, weil du dich an Männer nicht rantraust. Du bist jämmerlich.«

Seine Hand landete auf meiner Wange. »Du verdammtes Miststück!«, rief er.

»Ja, komm, schlag mich!«, schrie ich zurück. »Einen Mann kannst du nicht schlagen, was? Na komm schon. Tu es doch. Ich bin deine Frau, oder? Dafür bin ich ja da.« Die Worte strömten mir unablässig aus dem Mund. »Na komm schon!«, schrie ich, während mir die Tränen die Wangen hinunterrannen. »Tu es doch. Sei ein Mann. Zeig mir, was du kannst.«

Sascha fing an zu weinen und versteckte sich unterm Tisch. Ich sah seinen ängstlichen Blick, als er zu uns hochschaute, und teils wünschte ich, es würde alles aufhören, damit ich ihn in die Arme nehmen und ihn trösten konnte. Aber dazu war es zu spät: Sergej und ich hatten uns so in unsere Rage und unseren Frust verbissen. Wir waren unglücklich in unserem Leben, und für all das Elend konnten wir uns nur gegenseitig die Schuld geben.

»Du bist doch bloß ein Jammerlappen«, stieß ich hervor.

Plötzlich griff Sergej nach mir und packte mich bei den Haaren. »Ich reiß dir die Kopfhaut runter!«, rief er. »Wirst schon sehen.«

»Versuchʼs doch!«, kreischte ich. »Du wirst ein Messer brauchen. Du willst mit dem Messer auf mich los?« Wir starrten uns an, während meine Herausforderung in der Luft hing. Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich war die blauen Flecken und die aufgeplatzten Lippen so leid.

»Na komm schon«, spie ich aus. »Tu es doch.«

Sergej zog seinen Gürtel aus – einen Armeegürtel aus dickem Leder mit einer großen Schnalle, die er liebte –, und dabei stieß er mich in den Flur, rollte den Gürtel zusammen und hob ihn in die Luft.

»Nein!«, schrie ich und versuchte, ihm den Gürtel wegzunehmen, trat nach ihm, zielte auf seine Leiste. Irgendwie bekam ich den Gürtel zu fassen und schlug ihn damit, ehe ich zur Vordertür hinauslief auf den Hof, wo ich mir ein Stück Holz schnappte.

»Ich bringe dich um!«, rief Sergej und kam mir hinterhergelaufen, und ich sah etwas Silbernes im Dunkeln aufleuchten.

Die Angst packte mich. Das da in seiner Hand war ein Fleischmesser. Sein Blick war leblos. Ich musste fort. Aber Sergej packte mich bei den Haaren und schleifte mich zur Sommerküche zurück. Was hatte ich getan? Hatte ich ihn diesmal zu weit getrieben? Er zog mich in den Flur, und ich konnte mich für einen kurzen Augenblick freikämpfen. Plötzlich spürte ich einen schneidenden Schmerz im Rücken und sah das Messer neben mir durch die Luft segeln. Es landete auf dem Boden; dunkle Blutstropfen sammelten sich darum herum. Von wem war das Blut?

Ich fasste mir an den Rücken, und als ich die Hand wieder vorzog, sah ich einen dunkelroten Fleck. Ich fiel zu Boden und schrie, mein Atem ging stoßweise. Sergej regte sich nicht, er stand da, beugte sich über mich, und Verwirrung und Furcht waren ihm ins Gesicht geschrieben. Ich lag auf dem Boden und bewegte mich nicht.

»Das war das letzte Mal«, zischte ich, als ich zu ihm aufsah. »Ich gehe zur Polizei.«

Aber wir wussten beide, dass ich das nicht tun würde. Das hatte ich so oft schon bei meinen Eltern erlebt. Ich wusste, die Polizei konnte mir weder eine Wohnung noch Geld für Lebensmittel geben, also wieso sollte ich dort um Hilfe bitten?

Sergej bückte sich und legte die Arme um mich. »Es tut mir leid, Oxana«, wimmerte er. »Das wollte ich nicht, es tut mir leid. Es ist nur ein Kratzer, keine Sorge. Ich mache dir die Wunde sauber.«

Aber ich schwieg, als der Mut, der mich erfüllt hatte, aus mir herausfloss wie das Blut aus der Wunde. Als ich in Sergejs Augen schaute, sah ich nur Dunkelheit. Jetzt gehörte ich ihm. Er hatte mich besiegt. Endlich wusste ich, es gab keine Grenzen bei dem, was er mit mir tun konnte. Heute mochte das Messer sein Ziel verfehlt haben, aber nächstes Mal würde es anders ausgehen.

 

Ich hätte am liebsten geschrien, als Pascha weinte – ein hohes, dünnes Wimmern, das er den ganzen Tag schon von sich gegeben hatte.

»Scht«, sagte ich und beugte mich vor, um ihn aus seinem Bettchen zu nehmen.

Ich hatte Bauchkrämpfe vor Angst und Ärger. Bald wäre Sergej zu Hause, und er würde mich anbrüllen, wenn Pascha nicht ruhig war. Sein Hass auf seinen Sohn – und auf mich – war in den Wochen seit der Nacht, in der er mich mit dem Messer angegriffen hatte, nur schlimmer geworden. Ich war nach dem Streit nicht ins Krankenhaus gegangen, und die Verletzung hatte eine dünne weiße Narbe hinterlassen, die sich über meinen Rücken schlängelte.

Mir blieb nichts weiter als ein Leben im Schatten, immer in der Hoffnung, dass ich Sergej nicht wieder verärgerte, denn weglaufen konnte ich nicht. Jeden Tag fragte mich Sergej, ob ich ihn noch liebte, und blieb immer in meiner Nähe, um sicherzugehen, dass ich nicht wieder weglief. Dabei hatte ich nicht vor wegzulaufen. Früher hätte ich zu meinem Vater gekonnt, jetzt gab es niemanden mehr, also wohin sollte ich gehen? Sergej hatte gezeigt, wozu er fähig war, und ich fühlte mich machtloser denn je. Ich konnte nur noch darauf hoffen, dass sich die Dinge eines Tages änderten.

Als ich Pascha wieder hochnahm, dachte ich an das, was der Arzt vor etlichen Wochen gesagt hatte. Wir hatten bald wieder einen Termin bei ihm, aber meinem Sohn ging es immer noch nicht besser, egal wie sehr ich mich bemühte, ihn zum Milchtrinken zu bewegen. Je mehr ich über das Waisenhaus nachdachte, desto häufiger fragte ich mich, ob es nicht womöglich wirklich besser wäre, ihn dorthin zu geben. Meine Nachbarin Janna, die mir manchmal Lebensmittel schenkte, wenn ich keine hatte, der Arzt und Mama hatten mir alle gesagt, es wäre das Richtige; da könne man sich anständig um das Baby kümmern. Alle sagten dasselbe, und tief in meinem Innern wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich würde Pascha für die Dauer von sechs Monaten ins Waisenhaus geben, genug Zeit für mich, um einen Job zu finden und jemanden, der sich um Sascha kümmerte, wenn ich bei der Arbeit war. Dann ginge es Pascha gut genug, und ich könnte ihn nach Hause holen.

Sergej freute sich so sehr, als ich ihm am Abend meinen Entschluss mitteilte.

»Endlich wirst du vernünftig«, sagte er lächelnd.

Es mochte ja die richtige Entscheidung sein, aber ich war so traurig, als ich am nächsten Tag Paschas wenige Sachen in eine Tasche packte. Würde er mir je verzeihen? Ich hatte im Grunde nicht gelernt, ihn richtig zu lieben, und jetzt schickte ich ihn fort.

»Er kriegt die Operation, die er braucht«, sagte die Leiterin des Waisenhauses am nächsten Tag zu mir, als sie ihn mir abnahm. »Wir päppeln ihn auf und sorgen dafür, dass er zu Kräften kommt.«

»Aber wann kann ich ihn denn sehen?«, fragte ich.

»Wann immer Sie wollen, aber die meisten Eltern kommen am Wochenende.«

»Dann mache ich das auch so.«

Pascha wirkte so alt, als er zu mir hochschaute. Er war ein ernsthafter Junge, der fast nie lächelte.

»Soll ich ihn nehmen?«, fragte die Leiterin und kam auf mich zu.

Ein Schmerz machte sich in meiner Brust bemerkbar, als sein Gewicht von meinen Armen genommen wurde.

Es ist das Beste, sagte ich mir, als ich anfing zu weinen. Du änderst dein Leben, machst es besser für die Kinder, und dann kommt er wieder nach Hause. Du hast keine andere Wahl. Du musst das tun, dann ist er in Sicherheit, und es wird ihm gut gehen.

Sergej fasste mich am Arm, als die Tür zuging.

»Was ist los?«, fragte er grob. »Ich bin froh, dass er weg ist. Jetzt lass uns gehen.«

Ich sagte kein Wort, als wir nach draußen gingen und ich Saschas Hand fest umklammerte. Ich hatte mein Baby zu Fremden gegeben, hatte meinen Jungen im Stich gelassen, wie schon damals, als ich erfahren hatte, dass ich mit ihm schwanger war. Mir war ganz elend zumute.

»Möge Gott mir vergeben«, sagte ich leise zu mir selbst.