KAPITEL 9
Eine Welle von Übelkeit brannte mir in der Kehle, als der Geruch von verwesendem Fleisch die Luft erfüllte. Er war zum Greifen dick, wie Sirup, der sich in meine Lungen wand, und ich hätte mich am liebsten übergeben.
»Binde dir den Schal ums Gesicht«, sagte Klawa, als sie zu mir hersah. »Das hilft.«
Ich bedeckte mir den Mund und starrte nach unten. Ich sah altes Fleisch, verrottendes Gemüse, zerbrochenes Spielzeug, Kartons, Flaschen, Papiertaschentücher, blutige Stofffetzen – all die Sachen, die die Leute in ihre Mülleimer werfen, ohne darüber nachzudenken, dass es andere gibt, die davon noch etwas gebrauchen können. Ich zog mir den Schal enger ums Gesicht. Ich kriegte kaum Luft.
»Komm schon«, sagte Klawa. »Lass uns anfangen. Wenn du nicht suchst, kannst du auch nichts finden.«
»Aber ich habe keine Handschuhe.«
Sie griff in ihre Manteltasche und reichte mir zwei Plastiktüten. »Da, binde dir das um die Hände«, sagte sie, während sie mit den Armen in die Mülltonne neben mir fuhr.
Es war ungefähr elf Uhr abends, und alles war still im Reichenviertel von Simferopol, wohin wir gekommen waren, um nach Lebensmitteln zu suchen. Die Kinder hatte ich schlafen gelegt, und Bilder von ihren Gesichtern gingen mir durch den Kopf, als ich nach unten sah. Ich packte ein verwesendes Stück Fleisch, warf es zur Seite und fing an zu suchen. Ich musste etwas zu essen finden. Seit Wochen hatten wir kaum etwas gegessen, und jetzt hatte ich Angst, wir würden verhungern, wenn ich nichts unternahm.
Gleich nachdem sie Sergej verurteilt hatten, kam Ira zu mir und erklärte besorgt, sie könne mich nicht länger für die Blumen bezahlen, die ich nähte. »Tut mir leid«, sagte sie. »Wir machen keine Hochzeitskleider mehr, damit verdienen wir nicht genug. Du musst dir etwas anderes suchen.«
»Aber was soll ich denn machen?«, fragte ich verzweifelt. »Ich muss mich um die Kinder kümmern, ich kann nicht zum Arbeiten aus dem Haus!«
»Vielleicht braucht dich ja ein anderer Schneider für Hochzeitskleider«, schlug sie vor, aber ohne große Hoffnung. Wir wussten beide keinen, der Blumen nähen lassen wollte. »Du kannst so lange hier wohnen bleiben, wie es sein muss«, fügte sie hinzu. »Und ich tue, was ich kann, und helfe dir weiterhin. Aber du weißt ja, wie es ist, wir alle haben es schwer, vor allem, weil ich ja noch Vica unterstütze.«
»Ich weiß.« Ich nickte. »Und danke, Ira.«
Aber als sie ging, war ich verzweifelt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Lebensunterhalt für uns verdienen sollte. Ohne Mann, so schlimm der auch sein mochte, war ich in einer furchtbaren Lage. Ich war vollkommen hilflos.
Als ich mein letztes bisschen Geld aufgebraucht hatte, war ich gezwungen, bei Nachbarn und Freunden betteln zu gehen. Ira, Marina und Janna taten, was sie konnten, aber wenn sie mir morgens ein Stück Brot gaben, konnte ich abends ja nicht schon wieder hingehen, auch wenn die Kinder Hunger hatten. Es brachte mich fast um, Pascha zu sehen, der gerade angefangen hatte zu laufen, mit seinem aufgetriebenen Leib und den winzigen, schwachen Beinen, oder Sascha zu hören, der vor Hunger weinte. An manchen Tagen hatte ich nur heißes Wasser für sie mit darin eingeweichten Brotbröckchen oder gebratene Stückchen Schweinefett, das Marinas Mutter mir gab. Aber wenigstens hatte ich noch genug Milch und konnte Luda stillen. Es war schlimm für mich, die ganze Zeit Freunde um Hilfe bitten zu müssen, also ging ich manchmal Mama besuchen. Aber was auch immer an Zuneigung sie je für mich empfunden hatte, war inzwischen durch ihre Liebe zum Wodka ersetzt worden, und sie hatte regelrecht Spaß daran, wenn sie mich um eine halbe Kartoffel betteln ließ. Ich ging nach Hause mit den paar Brocken, die sie mir gegeben hatte, und weinte heiße, wütende Tränen. Wie konnte sie ihrer eigenen Tochter und ihren Enkelkindern die Hilfe verweigern? Ich wusste, dass ich selber meiner Luda nie etwas zu essen vorenthalten und dass ich noch mit einem hungrigen Hund meine Lebensmittel teilen würde.
Eines Tages war ich so verzweifelt, dass ich nur noch alles vergessen wollte. Ich ließ die Kinder bei Ira und holte mir eine Flasche Wodka von Janna. Ich hatte sonst nie mehr als ein oder zwei Gläser getrunken, aber schon oft hatte ich gesehen, was der Alkohol bewirken konnte. Er schien meine Mutter trotz ihrer erbärmlichen Existenz glücklich zu machen – vielleicht würde er mir ja genauso helfen. Glas um Glas brannte er sich seinen Weg in meine Brust, als ich versuchte, vor meinem Leben davonzulaufen.
Ira fand mich total betrunken, den Kopf hatte ich auf den Tisch gestützt, reden konnte ich kaum noch.
»Was machst du denn da, Oxana?«, schrie sie, offensichtlich entsetzt. »In was für einem Zustand bist du denn bloß? Meinst du, ich kümmere mich um deine Kinder, während du dich so zudröhnst? Das ist doch keine Lösung, das solltest gerade du inzwischen wissen.«
»Lass mich einfach in Ruhe«, lallte ich und drehte mich weg von ihr.
»Du musst damit aufhören«, sagte sie wütend. »So kannst du nicht weitermachen, das geht einfach nicht! Was für eine Mutter bist du denn? Sergej mag ja weg sein, aber deine Kinder sind immer noch hier.«
»Hau ab!«
»Nein!«, schrie Ira und fing an, mich durchs Zimmer zu zerren. »Wie kannst du nur hier sitzen und dich selber bemitleiden, wo du doch drei Kinder hast, die dich brauchen?«
Sie schob mich vor einen Spiegel. Eine Fremde starrte mich an. Die Frau, die ich sah, war dünn und bleich und hatte schwarze Ringe unter den Augen. Sie sah so alt aus, ich erkannte sie gar nicht. Sicher hatte sie nicht die Kraft für das, was vor ihr lag.
Ich fing an zu weinen.
»Du musst stark sein, Oxana«, sagte Ira sanft. »Du hast keine andere Wahl.«
Da wies mich Jannas Freundin Klawa auf eine Möglichkeit zur Selbsthilfe hin, als sie mir einen kleinen Krug Fleisch in Aspik zeigte. Klawa war Lehrerin gewesen, aber sie hatte mit dem Trinken angefangen, als sie ihre Stelle verloren hatte, denn wenn man in der Ukraine seine Arbeit verliert, verliert man auch alle Menschen um sich herum. Jetzt war sie einsam und alt, und ihr einziger Trost war die Wodkaflasche.
»Wo kommt das denn her?«, fragte ich, als ich den teuer aussehenden Krug in der Hand hielt.
»Aus dem Abfall.«
»Was?«
»Aus dem Abfall. Den durchsuche ich nach Essbarem.«
Ich starrte sie an. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Menschen so etwas taten. Ich hatte höchstens mal Zigarettenstummel von der Straße aufgesammelt und die Tabakreste in Zeitungspapier gewickelt, wenn ich rauchen wollte.
»Du machst dir keinen Begriff davon, was die Leute alles wegwerfen«, erzählte mir Klawa. »Päckchen mit Grütze, Marmelade, die erst ein paar Tage über dem Haltbarkeitsdatum ist ... Einmal habe ich sogar roten Kaviar gefunden.«
Mir drehte sich der Magen um, als ich den Krug betrachtete.
»Mach mal auf«, sagte Klawa. »Wirst schon sehen, das ist vollkommen in Ordnung.«
Also tat ich es, und sie hatte recht. Danach ging ich zusammen mit ihr auf die Suche; die Scham verdrängte ich. Papa hätte Verständnis für das, was ich tat. Wir mussten essen. Was machte es mir schon aus, wenn mich einer sah? Ich durchwühlte den Abfall und fand bald eine noch ungeöffnete Dose mit Reisfleisch.
»Dahinten gibt es noch mehr«, kicherte Klawa, als sie hörte, wie ich keuchen musste, um die Übelkeit wieder runterzuwürgen. »Die Leute wissen, dass wir kommen, und lassen Lebensmittel da, von denen sie glauben, dass wir sie wollen. Aber die haben keine Ahnung, was wir tatsächlich mitnehmen.«
Ich ging zu den Mülltonnen weiter hinten und sah auf dem Boden ein paar Kartons und Tüten. Ich kniete mich hin und nahm etwas hoch – eine kleine Pappschachtel, wahrscheinlich mit Grütze. Dann griff ich in einen Müllsack und zog ein Stück Toastbrot heraus. Der ganze Sack musste voll davon sein! Ich könnte mir ein paar Brühwürfel besorgen und Suppe für die Kinder machen. Davon hätten wir tagelang zu essen. Pures Glück durchströmte mich. Später, zu Hause, sah ich, wie sich winzige weiße Maden in dem Brot kringelten, und einen Moment lang ekelte mich das – dann nahm ich mir ein Messer und kratzte die Maden raus. Solch einen Fund konnte ich nicht umkommen lassen. Ich probierte etwas von dem Reisfleisch aus der Dose, dann verdünnte ich es mit Wasser und machte Suppe daraus. Wenn ich am nächsten Morgen nicht krank war, konnte ich den Kindern davon geben.
»Mehr, Mama, mehr«, sagte Sascha immer wieder, als ich ihn tags darauf fütterte.
Es lässt sich nur schwer beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man das eigene Kind, das vorher immer Hunger hatte, mit gefülltem Bauch sieht.
Das Essen, das ich in den Mülltonnen fand, hielt uns ein paar Wochen lang am Leben, bis ich auf einem Armeestützpunkt eine Stelle als Putzfrau fand. Ich war so glücklich, dreißig Dollar im Monat würde ich verdienen – genug, dass wir dreimal am Tag zu essen hatten –, aber die Stelle anzunehmen hieß auch, dass ich die Kinder allein zu Hause lassen musste. Ich sagte mir, dass ich nicht ewig auf Mülltonnen und Freunde vertrauen konnte, aber die nächsten fünf Monate lag die Angst in meinem Bauch wie eine schlafende Schlange, wann immer ich das Haus verließ.
Bald erklärte mir der Oberst, der mir die Stelle gegeben hatte, er könne mir keinen Lohn ausbezahlen, weil keiner in der Armee Geld bekam. Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine war immer noch sehr angespannt, also gab er mir zehn Dollar, wann immer es möglich war – genug, dass wir uns eine Weile ernähren konnten. Aber dann kam ich eines Tages nach Hause und musste feststellen, dass Luda einen schrecklichen Unfall gehabt hatte. Sascha hatte ein kleines elektrisches Heizöfchen hervorgeholt, das ich im Winter benutzt hatte, denn ihm war kalt gewesen, und Luda war daraufgefallen. Sie hatte zwei feuerrote Brandmale auf dem Popo, die Narben hinterließen, als sie abgeheilt waren, und ich wusste, dass ich nicht mehr zur Arbeit gehen konnte.
Ich kämpfte ums Überleben und machte mir Sorgen um meine Kinder und dachte an das Leben, das ich ihnen nicht bieten konnte. Wenigstens einen vollen Bauch und ein schönes Zuhause sollten sie haben. Sascha war inzwischen viereinhalb und spielte den ganzen Tag draußen; er mochte Autos und Flugzeuge und war immer fröhlich, während Luda, die gerade anderthalb war und herumtapste, ihren Bruder anbetete und ihr Bestes tat, um mit ihm mitzuhalten. Sie war wie ich – eine Kämpfernatur. Pascha war immer noch anders. Während seine Geschwister blond waren, war er dunkel; während sie rosige Wangen hatten, füllten seine riesigen Augen das bleiche Gesicht. Er war immer noch schwach, und obwohl er fast drei Jahre alt war, hatte er noch kein einziges Wort gesprochen. Er war ein schwieriges Kind und brauchte besondere Fürsorge, und das zu einer Zeit, in der allein schon das Überleben all meine Kraft in Anspruch nahm. Ich versuchte, Geduld mit ihm zu haben.
Dann brachte ich Pascha eines Tages zum Arzt, und endlich erfuhren wir, was mit ihm nicht stimmte: Er war taub. Das erklärte alles – die Tatsache, dass er nicht sprach und wie ein Tier stöhnte und kreischte, wenn er in seinem Bettchen lag. Ich hatte solch ein schlechtes Gewissen, weil ich das nicht gemerkt hatte. Sein Verhalten hatte mich verärgert, und manchmal hätte ich am liebsten geschrien, wenn er dalag und mit dem Kopf gegen das Bett stieß oder mit einem Spielzeug an die Gitterstäbe schlug. Jetzt wusste ich, dass er das tat, weil er in einer eigenen, seltsamen und stillen Welt eingeschlossen war, und das würde so bleiben, bis er im Alter von vier Jahren in eine Sonderschule für taube Kinder käme. Ich schämte mich so, weil ich ihn wieder einmal im Stich gelassen hatte. War er meinetwegen taub? Schließlich hatte ich ja versucht, ihn abzutreiben, als er noch in meiner Gebärmutter gewesen war. Konnte ich das je wieder an ihm gutmachen? Für ein Kind wie Pascha war das Leben in der Ukraine sehr schwer, und ich machte mir große Sorgen um seine Zukunft, aber wie ich ihm helfen könnte, wusste ich auch nicht. Natürlich kannte ich ihn gut genug, um zu verstehen, wann er Hunger hatte oder müde war, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen, konnte ihm keine Lieder vorsingen und ihn auch nicht mit besänftigenden Worten beruhigen, und da war keiner, der mir dabei half, seine Behinderung zu verstehen. Es war, als stünde ich an dem einen Ufer eines Flusses und mein Sohn am anderen Ufer, während das Wasser zwischen uns dahinströmte.
Wenn ich doch nur mehr Geld hätte, dachte ich, dann könnte ich ihm und meinen anderen beiden Kindern ein besseres Leben bieten. Vielleicht mit einem anständigen Dach über dem Kopf und ordentlichem Essen auf dem Tisch ... Dann wäre ich wenigstens eine richtige Mutter, besonders für den kleinen Pascha, der mich so sehr brauchte.
Zehn Monate, nachdem Sergej ins Gefängnis gekommen war, kehrte meine Nachbarin Yula aus dem Ausland zurück, wo sie gearbeitet hatte. Sie war geschieden, und ihre Eltern hatten sich während ihrer Abwesenheit um ihre Kinder gekümmert. Jetzt war sie mit Geld zurückgekommen, und alle waren beeindruckt von dem neuen Kühlschrank und dem Fernseher, mit denen sie angab. Aber mich interessierten nicht ihre neuen Sachen – mich interessierte ihr Gesicht. Sie war geschminkt, hatte sich die Haare gefärbt, und in ihren Augen lag ein Blick, der sagte, dass das Geld ihr plötzlich einen eigenen Platz in der Welt erkauft hatte.
Pausenlos stellte ich Yula Fragen, wollte wissen, wo sie gewesen war, was sie gemacht hatte, doch sie erzählte nicht viel. Aber ich wollte alles wissen, weil ich gehört hatte, sie habe in einer Fabrik in der Türkei gearbeitet und manchmal in der Woche zweihundert Dollar verdient. Das konnte ich kaum glauben. Ich hatte immer gewusst, dass die Türkei nahe bei Europa mit all den reichen Ländern lag, aber wie es dort zuging, wusste ich nicht. Kein Wunder, dass Yula so verändert aussah.
Wieder und wieder sann ich darüber nach. Nachts lag ich im Bett und dachte an die verrottenden Mülleimer, die hungrigen Gesichter meiner Kinder und unser eisiges, kahles Zimmer. War es das, worauf ich gewartet hatte – ein Ausweg aus diesem schrecklichen Leben? Wenn Yula das schaffte, wieso nicht auch ich?