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NICCI FRENCH

 

 

 

EISIGER DIENSTAG

 

PSYCHOTHRILLER

 

 

Deutsch von
Birgit Moosmüller

 

 

 

LESEPROBE
von Band 2 der neuen Nicci-French-Serie

 

 

Erscheint im Winter 2012

 

 

 

 

 

C. Bertelsmann

Im Laufschritt eilte Maggie Brennan die Deptford Church Street entlang. Während sie in ihr Handy sprach, überflog sie eine Akte und suchte gleichzeitig im Straßenverzeichnis ihres Stadtplans nach der Adresse. Obwohl erst der zweite Tag der Woche war, hinkte Maggie ihrem Zeitplan bereits zwei Tage hinterher. Dabei hatte sie die zusätzlichen Fälle, die sie von einer längerfristig krankgeschriebenen Kollegin geerbt hatte, noch gar nicht mit einberechnet.

»Nein«, sagte sie ins Telefon und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »ich versuche es in die Besprechung zu schaffen, bevor ihr fertig seid.«

Sie steckte ihr Handy wieder ein. In Gedanken war sie noch ganz bei dem Fall, von dem sie gerade kam: einem dreijährigen Jungen mit Blutergüssen – verdächtigen Blutergüssen, wie der Arzt in der Ambulanz festgestellt hatte. Maggie hatte mit der Mutter gesprochen, sich das Kind angesehen und die Wohnung überprüft, in der die beiden lebten. Obwohl es sich um eine schreckliche, feuchtkalte Bude handelte, bestand dort für das Kind – zumindest auf den ersten Blick – keine unmittelbare Gefahr. Die Mutter behauptete, keinen Freund zu haben. Die Tatsache, dass Maggie im Bad keinen Rasierer gefunden hatte, schien das zu bestätigen. Der Mutter zufolge war der kleine Junge die Treppe hinuntergefallen. Das sagten die Leute immer, wenn sie ihre Kinder schlugen. Andererseits fielen Dreijährige tatsächlich manchmal die Treppe hinunter. Maggie war nur zehn Minuten in der Wohnung gewesen, wäre aber auch nach zehn Stunden kaum zu einem anderen Ergebnis gekommen. Wenn sie das Kind abholen ließ, würde die strafrechtliche Verfolgung der Mutter vermutlich zu nichts führen, und sie selbst bekäme eins auf den Deckel. Ließ sie den Jungen aber nicht abholen und er wurde irgendwann tot aufgefunden, dann gab es eine Untersuchung und sie, Maggie, wurde entlassen und womöglich ihrerseits strafrechtlich verfolgt. Deswegen hatte sie beschlossen, demnächst noch einmal nach dem Rechten zu sehen, ehe sie eine endgültige Entscheidung fällte.

 

Sie wandte sich wieder dem Stadtplan zu. Ihre Hände waren schon ganz eisig, weil sie vergessen hatte, Handschuhe mitzunehmen, und dank ihrer billigen Stiefel hatte sie nun auch noch nasse Füße. Na bitte, da war ja die Straße, nur ein paar Gehminuten entfernt. Als sie von der Hauptstraße abbog, fand sie sich zu ihrer Überraschung neben einem Kirchhof wieder. Sie lehnte sich einen Moment an die Mauer, um noch einmal einen Blick in die Akte der Frau zu werfen, die sie gleich aufsuchen würde: Michelle Doyce, geboren 1959. Die Informationen über sie waren äußerst dürftig: Entlassungspapiere einer Klinik, die in Kopie an das Sozialamt gegangen waren, ein Formular, das bestätigte, dass man ihr eine Unterkunft zugewiesen hatte, ein Antrag auf Beurteilung.

Maggie blätterte die Formulare ein weiteres Mal durch: keine Angehörigen. Aus den Unterlagen ging nicht einmal der Grund für den Klinikaufenthalt klar hervor, auch wenn der Name der Einrichtung vermuten ließ, dass es etwas Psychisches gewesen sein musste. Maggie konnte das Ergebnis ihrer Beurteilung schon im Voraus erahnen: schlichte allgemeine Hoffnungslosigkeit. Bestimmt hatte sie es mit einer bemitleidenswerten Frau mittleren Alters zu tun, die einfach einen Platz zum Wohnen brauchte – und jemanden, der hin und wieder nach ihr schaute und sie davon abhielt, durch die Straßen zu streifen. Sie klappte die Akte zu und setzte sich wieder in Bewegung. Nachdem sie die Kirche hinter sich gelassen hatte, kam sie an einem Block mit Sozialwohnungen vorbei. Bei einigen waren die Fenster und Türen mit Metallplatten verrammelt, die meisten aber wirkten bewohnt. Aus einer Tür im zweiten Stock trat ein Teenager und eilte den Balkon entlang, die Hände tief in den Taschen seiner bauschigen Jacke. Maggie blickte sich um. Wahrscheinlich bestand kein Anlass zur Sorge. An diesem Dienstagvormittag lagen die gefährlichen Leute wohl größtenteils noch im Bett. Nachdem sie um die Ecke gebogen war, warf sie erneut einen Blick auf die Adresse, die sie in ihr Notizbuch geschrieben hatte: Apartment Eins, Howard Street Nr. 3. Ja, nun konnte sie sich wieder erinnern. Im Grunde war es gar kein richtiges Wohnheim, sondern ein normales Haus, welches das Sozialamt von Privatleuten gemietet hatte. Dort wurden Personen so lange untergebracht, bis das Amt entschied, wie es mit ihnen verfahren wollte. Für gewöhnlich zogen sie einfach weiter oder gerieten in Vergessenheit. Maggie wandte sich den fünf Klingelknöpfen neben der Haustür zu. Namensschilder gab es keine. Sie drückte zweimal kurz hintereinander auf den untersten Knopf, konnte jedoch nicht hören, ob die Klingel funktionierte. Sie überlegte, ob sie mit der Faust gegen die Tür klopfen oder durchs Fenster in die Erdgeschosswohnung spähen sollte. In dem Moment hörte sie hinter sich eine Stimme und fuhr erschrocken herum. Direkt hinter ihr stand ein hagerer Mann mit rotblondem, zu einem Pferdeschwanz zurückgebundenen Haar und Piercings im ganzen Gesicht. Als sie einen Schritt zur Seite trat, entdeckte sie seinen Begleiter, einen kleineren Kampfhund, dessen Besitz rein theoretisch verboten war, auch wenn sie bereits drei Exemplare dieser Sorte gesehen hatte, seit sie in Deptford aus dem Zug gestiegen war.

»Keine Sorge, der ist brav«, erklärte der Mann. »Nicht wahr, Buzz ?«

»Wohnen Sie hier?«, fragte Maggie.

Der Mann wirkte misstrauisch. An seiner einen Wange zuckte ein Nerv. Rasch zog Maggie eine laminierte Karte aus der Tasche und hielt sie ihm unter die Nase.

»Ich bin vom Sozialamt«, erklärte sie. »Ich komme wegen Michelle Doyce.«

»Ist das die im Erdgeschoss?«, fragte der Mann. »Die habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.« Er trat vor die Tür und schloss auf. »Wollen Sie rein?«

»Ja, bitte.«

Der Mann zuckte nur mit den Achseln.

»Komm schon, Buzz«, sagte er. Maggie hörte die Krallen des Hundes über den Boden kratzen, als er ins Haus und dann die Treppe hinauf stürmte. Sein Herrchen folgte ihm nach oben.

Sobald Maggie eingetreten war, schlug ihr der Gestank von Schimmel, Müll, Bratfett und Hundescheiße entgegen, vermischt mit anderen Gerüchen, die sie nicht recht einordnen konnte – ein Potpourri, das ihr fast das Wasser in die Augen trieb. Sie zog die Haustür hinter sich zu. Was früher einmal die Diele eines Privathauses gewesen sein musste, war nun mit Paletten, Farbdosen, offenen Müllsäcken und einem alten Fahrrad ohne Reifen zugestellt. Die Treppe lag direkt vor ihr. Die erste Tür links, durch die man früher wohl das Wohnzimmer betreten hatte, war zugemauert. Maggie ging an der Treppe vorbei bis zu einer Tür weiter hinten, klopfte fest dagegen und lauschte. Drinnen war ein kurzes Rascheln zu hören, dann nichts mehr. Sie klopfte noch ein paar Mal und wartete. Schließlich klapperte etwas, dann schwang die Tür nach innen auf. Erneut zückte Maggie ihre laminierte Karte.

»Michelle Doyce?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete die Frau.

Maggie konnte selbst nicht genau festmachen, was sie an ihrem Gegenüber so seltsam fand. Die Frau wirkte keineswegs ungewaschen und trug ihr Haar ordentlich gekämmt – allerdings fast zu ordentlich, als hätte sie es wie ein kleines Mädchen angefeuchtet und dann derart glattgestriegelt, dass es ganz flach am Kopf klebte. Noch dazu war es so dünn, dass überall die bleiche Kopfhaut hindurchlugte. Ihr glattes Gesicht leuchtete rosig und war von einem Hauch aus feinen Härchen überzogen. Mit ihrem knallroten Lippenstift hatte sie ein klein wenig zu weit über die Lippenkonturen hinausgemalt. Sie trug ein weites, ausgewaschenes Blumenkleid.

Maggie stellte sich vor und zeigte ihre Karte.

»Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen, Michelle«, erklärte sie, »und hören, wie es Ihnen geht. Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Fühlen Sie sich gut?«

Die Frau nickte.

»Darf ich reinkommen?«, fragte Maggie. »Darf ich mich davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist?«

Sie trat in die Diele und holte ihr Notizbuch heraus. Soweit sie es auf den ersten Blick beurteilen konnte, achtete Michelle auf Körperpflege.

Während die beiden Frauen so dastanden, wurde Maggie auf ein Geräusch aufmerksam, das sie nicht recht zuordnen konnte. Wahrscheinlich drang von draußen Verkehrslärm herein, oder im Stockwerk über ihnen war gerade jemand mit dem Staubsauger zugange. Oder es handelte sich um das Summen eines weit entfernten Flugzeugs. Wobei ihr nun auch ein seltsamer Geruch in die Nase stieg. Als hätte etwas Essbares zulange im Warmen gestanden. Maggie blickte zur Dielenlampe hoch. Der Strom war offenbar angeschaltet. Vielleicht sollte sie überprüfen, ob Michelle über einen Kühlschrank verfügte. Andererseits machte die Frau einen recht gesunden und wohlgenährten Eindruck.

»Darf ich mich ein bisschen umsehen, Michelle?«, wandte Maggie sich an sie. »Mich vergewissern, dass alles in Ordnung ist?«

»Möchten Sie ihn kennenlernen?«, entgegnete Michelle.

Maggie starrte sie verblüfft an. Ein Partner war in der Akte nicht erwähnt worden.

»Sie haben einen Freund?«, fragte sie. »Ich würde mich freuen, wenn Sie ihn mir vorstellen würden.« Michelle übernahm die Führung und öffnete die Tür zu einem Raum, der auf die Rückseite des Hauses hinausging und früher wohl mal eine Art Hinterzimmer gewesen war. Maggie spürte sofort etwas auf ihrem Gesicht. Zuerst hielt sie es für Staub. Es fühlte sich an, wie wenn einem eine nahende U-Bahn warme, staubige Luft entgegenblies. Gleichzeitig aber wurde das Geräusch lauter, und Maggie begriff, dass es sich nicht um Staub, sondern um Fliegen handelte – eine dicke Wolke aus Fliegen, die ihr ins Gesicht klatschte.

Ein paar Augenblicke lang starrte sie irritiert den Mann auf dem Sofa an. Ihre Wahrnehmung hatte sich verlangsamt und irgendwie verschoben, als befände sie sich tief unter Wasser oder in einem Traum. Benommen fragte sie sich, ob er eine Art Taucheranzug trug – einen bläulichen, wie marmoriert wirkenden und an manchen Stellen leicht aufgerissenen Taucheranzug  –, und warum seine Augen so gelb und umwölkt aussahen. Dann wurde sie auf einmal hektisch und fischte ihr Handy aus der Tasche, doch vor lauter Aufregung ließ sie es fallen, und plötzlich wollten ihre Finger ihr nicht mehr gehorchen. Maggie konnte sie einfach nicht dazu bewegen, das Telefon von dem schmutzigen Teppich aufzuheben, denn nun sah sie, dass es sich keineswegs um einen Taucheranzug handelte, sondern um sein nacktes, aufgedunsenes, platzendes Fleisch, und dass der Mann tot war. Lange tot.

Detective Constable Yvette Long traf ein paar Augenblicke vor Karlsson ein. Obwohl der Anruf gerade mal fünfzehn Minuten zurücklag, hatte sich auf der Straße bereits eine kleine Schar von Neugierigen versammelt. Alle wirkten aufgeregt und hatten vor Neugier glänzende Augen. Vor Nummer 3 parkten zwei Streifenwagen, und der Bereich vor dem Haus war bereits mit Plastikband abgesperrt. Yvette Long stellte ihren Wagen ab und steuerte auf den Eingang zu. Als sie die Tür öffnen wollte, kam gerade DC Chris Munster aus dem Haus, ein Taschentuch vor den Mund gepresst.

»Wo ist die Frau, die ihn gefunden hat?«

Munster nahm das Taschentuch vom Mund und steckte es ein. Es fiel ihm sichtlich schwer, seine Gesichtzüge unter Kontrolle zu halten. »Entschuldigung, die Sache ist mir ein bisschen auf den Magen geschlagen. Sie ist dort drüben.« Er nickte zu einer Farbigen mittleren Alters hinüber, die ein paar Meter von ihnen entfernt auf dem Gehsteig saß und die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. »Sie wartet, bis wir Zeit haben, mit ihr zu sprechen. Vermutlich steht sie unter Schock. Die andere Frau – die, die bei ihm war – sitzt mit Melanie im Wagen. Sie redet die ganze Zeit über Tee. Die Spurensicherung ist schon unterwegs.«

»Karlsson kommt auch gleich.«

»Gut.« Munster senkte die Stimme. »Wie können diese Leute nur so leben?«

 

Long und Karlsson schlüpften in papierene Überschuhe. Dann nickte er ihr aufmunternd zu und legte ihr für einen Moment eine Hand auf den Rücken, als wollte er ihr mit dieser Geste Kraft spenden. Sie holte tief Luft.

Später würde Karlsson versuchen, alle seine Eindrücke auseinanderzusortieren und in eine gewisse Ordnung zu bringen, vorerst aber bot sich ihm ein Wirrwarr aus Anblicken und Gerüchen, von denen ihm so übel wurde, dass ihm der Schweiß ausbrach. Durch den ganzen Müll, den Hundekot und den penetranten, leicht süßlichen Geruch, der einem sofort hinten im Hals stecken blieb, steuerten er und Yvette auf die einzige offene Zimmertür zu. Als sie eintraten, wechselten sie in ein völlig anderes, geordnetes Universum über. Plötzlich kamen sie sich vor wie in einer Bibliothek, wo alles gewissenhaft katalogisiert und am dafür bestimmten Platz untergebracht war: drei Paar alte Schuhe, ordentlich übereinander gestapelt, ein Regalfach mit lauter runden Steinen, ein anderes Fach voller Vogelknochen, an denen zum Teil noch Federn klebten, eine Schale mit Zigarettenkippen, fein säuberlich nebeneinander gelegt, ein Plastikbehälter, gefüllt mit etwas, das aussah wie Haarknäuel. Während Karlsson ins angrenzende Zimmer hinüberging, blieb ihm gerade genug Zeit für den Gedanken, dass die Frau, die in diesen Räumen lebte, verrückt sein musste. Dann starrte er eine Weile nur noch das Ding auf dem Sofa an – den nackten Mann, der da in aufrechter Haltung vor ihm saß, umgeben von einer Wolke träger, fetter Fliegen.

Der Tote wirkte schlank und – auch wenn das in diesem Stadium letztendlich schwer zu sagen war – nicht allzu alt. Seine Hände lagen auf seinem Schoß, als wollte er damit seine Blöße bedecken, und in der einen Hand steckte ein mit Zuckerguss überzogenes Gebäckstück. Er hatte ein Kissen im Nacken, das den Kopf stützte, so dass der Blick seiner offenen, schwefelgelben Augen direkt auf die Eintretenden gerichtet war und sein schiefer, erstarrter Mund aussah, als lächelte er spöttisch. Seine Haut wies eine fleckige, bläuliche Färbung auf, wie ein Schimmelkäse, den man zu lange im Warmen gelassen hatte. Als er sich ein wenig vorbeugte, sah er, dass sich auf dem Torso des Mannes eine Art Muster aus vertikalen Streifen abzeichnete. Nach den dunklen Hautverfärbungen an der Unterseite seiner Oberschenkel und Pobacken zu urteilen, wo das Blut zusammengelaufen war, musste er schon eine ganze Weile tot sein. Dafür sprach auch der Geruch, der Yvette Long, die hinter Karlsson stand, zu flachen, keuchenden Atemzügen veranlasste. Neben dem linken Fuß des Mannes, der in einem unnatürlichen Winkel und mit gespreizten Zehen nach oben ragte, standen zwei volle Tassen Tee. In seinem hellbraunen Haar steckte ein Kamm, und seine Lippen waren rot geschminkt.

»Offensichtlich sitzt er hier schon eine Weile.« Karlssons war selbst überrascht, wie ruhig seine Stimme klang. »Dass es im Raum so warm ist, hat die Sache nicht besser gemacht.«

Yvette Long gab ein Geräusch von sich, das sich durchaus als Zustimmung deuten ließ.

Karlsson zwang sich, die fleckige, aufgedunsene Haut des Toten genauer unter die Lupe zu nehmen. Nach ein paar Augenblicken winkte er Long zu sich.

»Sehen Sie mal«, sagte er.

»Was?«

»An seiner linken Hand.«

Der vordere Teil des Mittelfingers fehlte, etwa ab dem Knöchel.

»Es könnte sich um eine angeborene Missbildung handeln.«

»Für mich sieht es eher so aus, als wäre ein Stück abgeschnitten worden und die Wunde nicht richtig verheilt«, meinte Karlsson.

Long musste erst schlucken, bevor sie etwas erwidern konnte. Sie war fest entschlossen, den Kampf gegen die Übelkeit zu gewinnen.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich, »das ist schwer zu sagen. Es sieht in der Tat ein bisschen matschig aus, aber vielleicht ist der Grund einfach …«

»Die ganz normale Verwesung«, führte Karlsson den Satz zu Ende.

»Ja.«

»Die wegen der Hitze besonders schnell fortschreitet.«

»Den Kollegen zufolge lief der Heizstrahler auf Hochtouren, als sie eintrafen.«

»Nach der Autopsie wissen wir mehr. Unsere Pathologen werden sich diesmal besonders beeilen müssen.«

Als sie das Haus verließen, trafen gerade die Leute von der Spurensicherung ein, die mit ihren Scheinwerfern und Kameras, ihren Gesichtsmasken und Chemikalien immer so professionell und kompetent wirkten. Karlsson empfand ein Gefühl von Erleichterung. Sie würden das Grauen entfernen und den schrecklichen Raum mit seinen Wolken von Fliegen in ein gut ausgeleuchtetes Labor verwandeln, wo aus den Dingen Daten wurden, die man klassifizieren konnte.

»Was für ein Abgang«, stellte er fest, während er mit Yvette Long ins Freie trat.

»Wer zum Teufel ist der Mann?«, entgegnete sie ratlos.

»Damit fangen wir an.«

 

Karlsson überließ es Yvette Long, mit Maggie Brennan zu sprechen, und setzte sich zu Michelle Doyce in den Wagen. Er wusste über sie nur, dass sie einundfünfzig war, erst vor Kurzem nach einer Untersuchung, die hinsichtlich ihres Geisteszustandes keine eindeutigen Ergebnisse erbracht hatte, aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden war und seit etwa einem Monat in der Howard Street lebte, ohne dass sich die Nachbarn beschwert hatten.

»Michelle Doyce?«

Sie sah ihn an, antwortete jedoch nicht. Ihre Augen wirkten auffallend hell, fast wie die einer Blinden.

»Ich bin Detective Inspector Malcolm Karlsson.« Er wartete. Sie blinzelte nur. »Von der Polizei«, fügte er hinzu.

»Haben Sie einen weiten Weg hinter sich?«

»Nein, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Ich habe einen sehr weiten Weg hinter mir. Fragen Sie ruhig.«

»Es ist wichtig.«

»Ja, ich weiß.«

»Der Mann in Ihrer Wohnung …«

»Ich habe ihn bewirtet.«

»Er ist tot, Michelle.«

»Ich habe ihm die Zähne geputzt. Ich kenne nicht viele Leute, die das für ihre Gäste tun. Dafür hat er für mich gesungen. Sein Lied erinnerte mich an die Geräusche des Flusses in der Nacht, wenn der Hund zu bellen aufgehört hat und niemand mehr weint.«

»Michelle, er ist tot. Der Mann in Ihrer Wohnung ist tot. Wir müssen herausfinden, wie er gestorben ist. Können Sie mir seinen Namen sagen?«

»Seinen Namen?«

»Ja. Wer er ist. Oder war.«

Sie starrte ihn verwirrt an.

»Warum wollen Sie von mir seinen Namen wissen? Sie können ihn doch selbst fragen.«

»Michelle, es handelt sich hier um eine ernste Angelegenheit. Wer ist er?«

Sie starrte ihn an: eine kräftig gebaute, blasse Frau mit unheimlichen Augen und geröteten Händen, die sie mit vagen Gesten durch die Luft gleiten ließ, wenn sie sprach.

»Ist er in Ihrer Wohnung gestorben, Michelle? War es ein Unfall?«

»Bei einem von Ihren Zähnen fehlt ein Stück. Ich mag Zähne, müssen Sie wissen. Ich habe alle meine alten Zähne unter dem Kopfkissen, nur für den Fall, dass sie kommen, und zusätzlich auch noch ein paar von anderen Leuten, aber nicht viele. Man findet nur ganz selten welche.«

»Verstehen Sie, was ich Sie frage?«

»Will er mich verlassen?«

»Er ist tot.« Am liebsten hätte Karlsson das letzte Wort laut herausgeschrien, um damit wie mit einem Stein ihre Verständnislosigkeit zu zerschmettern, riss sich aber am Riemen.

»Am Ende gehen sie alle. Obwohl ich mir solche Mühe gebe.«

»Wie ist er gestorben?«

Sie begann Worte vor sich hinzumurmeln, die er nicht verstand.

 

Chris Munster verschaffte sich einen ersten Eindruck vom Rest des Hauses. Das Ganze widerte ihn an. Es kam ihm überhaupt nicht vor wie eine polizeiliche Ermittlung. Hier ging es um Leute, für die keine Hoffnung mehr bestand, weil sie längst durch die Ritzen gerutscht waren. Der Raum im ersten Stock, den er gerade inspizierte, war voller Spritzen: Hunderten, nein Tausenden benutzter Spritzen, die alle auf dem Boden herumlagen, so dass er sich zunächst fragte, ob sie vielleicht irgendein Muster ergaben. Außerdem stieß er auch hier auf Hundescheiße, die aber größtenteils alt und schon ganz hart war. Das Mobiliar beschränkte sich auf eine dünne Matratze, die im mittleren Bereich scheußliche Flecken aufwies. Im Moment war es ihm völlig egal, wer den Mann unten umgebracht hatte, er wollte nur sämtliche Leute aus dem Haus schaffen, die Hütte anzünden und selbst das Weite suchen. Er sehnte sich nach sauberer Luft, je kälter, desto besser. Er fühlte sich schmutzig, und zwar äußerlich und innerlich. Wie konnten Menschen nur so leben? Der fette Kerl mit den rot geäderten Augen und der aschgrauen Haut eines Säufers, der kaum noch in der Lage war zu sprechen und sichtlich Schwierigkeiten hatte, mit seinen kleinen Füßen das Gewicht seines massigen Körpers zu balancieren. Oder der Dürre mit dem Hund, der ganz zerstochene Arme und ein schorfiges Gesicht hatte und sich ständig kratzte, während er nervös grinsend auf- und abtigerte. War das sein Zimmer? Handelte es sich um seine Spritzen? Oder womöglich um die des toten Mannes? Das war vermutlich des Rätsels Lösung. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sich herausstellen, dass der Tote ebenfalls ein Mitglied dieses Höllenhaushalts gewesen war. Oder gar der gottverdammte Hausherr. Man hatte diese Menschen einfach in dieses Loch gesteckt – hoffnungslose Außenseiter, mit denen die Gesellschaft nichts anzufangen wusste und für die sie auch kein Geld übrig hatte – und sie dort ihrem Schicksal überlassen. Nun musste die Polizei den Dreck wegräumen. Wenn die Öffentlichkeit das wüsste, dachte er, während er mit seinen schweren Stiefeln zwischen den Spritzen herumtrat. Wenn die Leute wüssten, wie manche Menschen lebten, und wie sie starben.

Karlsson ging zur Fallbesprechung: Yvette Long und Chris Munster saßen schon an einem Schreibtisch und tranken Kaffee.

»Kommt sonst noch jemand?«, wandte Karlsson sich an Yvette, die wortlos den Kopf schüttelte.

»Die Autopsie ist für heute Nachmittag angesetzt«, berichtete Karlsson. »Wäre es nicht wunderbar, wenn wir es mit einem Herzinfarkt zu tun hätten?«

»Aber Sie hatten doch den Verdacht, dass er erdrosselt worden sein könnte«, entgegnete Yvette.

»Ich darf doch wohl noch hoffen, oder nicht?«, gab Karlsson zurück. »Und ich kann doch wohl davon ausgehen, dass der Verstorbene nicht als weiterer Hausbewohner identifiziert wurde, oder?«

»Dazu liegen mir sämtliche Informationen vor«, antwortete Munster. Er griff nach seinem Notizbuch. »Lisa Bolianis. Um die vierzig, schätze ich. Eindeutig Alkoholikerin. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie hat wenig Zusammenhängendes von sich gegeben. Angeblich ist ihr Michelle Doyce ein-, zweimal über den Weg gelaufen. Aber nie in Begleitung.« Er zog eine Grimasse. »Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Bewohner dieses Hauses oft zum Grillen treffen. Dann wäre da noch Michael Reilly – im November aus dem Gefängnis entlassen. Dreieinhalb Jahre wegen Besitzes und Verkaufs harter Drogen. Er sagt, er habe ihr ein paar Mal in der Diele zugenickt. In Begleitung hat er sie auch nie gesehen.« Er blickte wieder in sein Notizbuch. »Sie hat so allerlei gesammelt. Reilly zufolge ist sie mit Tüten voller Zeug zurückgekommen, das sie gekauft oder gefunden hatte, oder was auch immer.«

»Das haben wir ja auch in der Wohnung gesehen«, warf Yvette Long ein.

»Sonst noch jemand?«, fragte Karlsson.

Munster sah erneut in sein Notizbuch.

»Metesky. Tony Metesky. Aus dem war so gut wie gar nichts herauszukriegen. Er hat mich praktisch ignoriert. Der Mann hat definitiv einen Sprung in der Schüssel. Ich habe seinetwegen das Sozialamt verständigt, angeblich ruft mich bald jemand zurück. In seinem Zimmer herrschte – selbst nach dortigen Maßstäben – ein fürchterliches Chaos. Der Boden war mit Spritzen übersät, Hunderten von Spritzen.«

»Was für eine Art von Heim ist das überhaupt?«, fragte Yvette.

Muster klappte sein Notizbuch zu.

»Ich glaube, dorthin stecken sie die Leute, mit denen sie nichts anderes mehr anzufangen wissen.«

»Wem gehört das Haus?«, erkundigte sich Karlsson. »Vielleicht ist der Tote ja tatsächlich der Hausherr.«

»Nein, es gehört einer Frau«, informierte ihn Munster. »Sie lebt in Spanien. Ich werde sie anrufen und überprüfen, ob sie sich wirklich dort aufhält. Sie besitzt mehrere Häuser und lässt sie von einer Agentur verwalten. Die Details bekomme ich noch.«

»Wo sind die Bewohner jetzt?«

Munster nickte zu Yvette hinüber.

»Michelle Doyce ist wieder in der Klinik«, erklärte sie. »Die anderen sind noch vor Ort, soviel ich weiß.«

»Vor Ort?«, wiederholte Karlsson entgeistert. »Es handelt sich um einen Tatort!«

»Nicht im strengen Sinn. Wenn uns die Autopsie nicht eines Besseren belehrt, haben wir es unter Umständen nur mit einer kleinen Unterlassung zu tun – einem nicht gemeldeten Todesfall –, und ich glaube kaum, dass irgendein Gericht Michelle Doyce deswegen belangen wird. Was die anderen betrifft, wo sollen sie denn hin? Wir haben schon mehrere Male im Sozialamt angerufen, bekommen aber nicht mal jemanden an die Strippe, der bereit ist, mit uns über die Angelegenheit zu sprechen.«

»Ist es den Verantwortlichen denn egal, dass eines ihrer Heime unter Umständen als Drogenumschlagplatz missbraucht wird?«, fragte Karlsson.

Es folgte eine Pause.

»Tja«, meinte Yvette. »Mal angenommen, es gelänge uns, im Sozialamt einen Ansprechpartner zu finden und vor Ort zu zitieren, dann würde uns die betreffende Person vermutlich nur darüber belehren, dass es, sollte dort tatsächlich ein Verbrechen geschehen sein, unsere Aufgabe ist zu ermitteln. Was wir vermutlich aber nicht tun werden.«

»Alles, was wir haben«, fasste Karlsson zusammen, »ist demnach eine Frau, die in ihrer Wohnung einen vermeintlichen Gast mit Tee und Gebäck bewirtet, bei dem es sich um einen bisher nicht identifizierten, nackten und bereits verwesenden Mann handelt, dessen einzig auffallendes Merkmal das fehlende Fingerglied an der linken Hand ist. Könnte der Finger entfernt worden sein, um einen Ring abzubekommen?«

»Es war der Mittelfinger«, gab Munster zu bedenken, »nicht der Ringfinger.«

»Man kann einen Ring doch auch am Mittelfinger tragen«, entgegnete Karlsson. »Wer zum Teufel ist der Kerl?«

»Don und seine Leute haben ihm Fingerabdrücke abgenommen«, informierte ihn Munster. »Es hat ihnen keinen großen Spaß gemacht, aber sie waren erfolgreich. Nur hat sich leider keine Übereinstimmung mit unseren Datenbanken ergeben.«

»Was meint ihr also?«, fragte Karlsson. »Wo sollen wir anfangen ?«

Munster und Long wechselten einen ratlosen Blick. Keiner sagte etwas.

»Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll«, meinte Karlsson schließlich, »aber ich weiß, was ich hoffe.«

»Nämlich?«

»Ich hoffe, dass er einen schlichten Herzinfarkt hatte und diese Verrückte vor lauter Panik nur nicht wusste, was sie mit ihm machen sollte.«

»Aber er war nackt«, gab Yvette zu bedenken, »und wir haben keine Ahnung, wer er ist.«

»Sollte er tatsächlich an einem Herzinfarkt gestorben sein, dann muss sich ein anderer mit diesem Problem herumschlagen.« Er runzelte die Stirn. »Ich wünschte, mir fiele jemand ein, der mit dem Gebrabbel von Michelle Doyce etwas anfangen kann.«

Noch während er die Worte aussprach, tauchte vor seinem geistigen Auge ein Gesicht auf, ernst und mit dunklen Augen: Frieda Klein.

Bitte nehmen Sie Platz, Doktor Klein.«

Frieda war schon etliche Male in dem Raum gewesen. Während ihrer Ausbildung hatte sie hier Seminare besucht und als fertig ausgebildete Analytikerin selbst Seminare geleitet. Einmal hatte sie sogar dort gesessen, wo jetzt Professor Jonathan Krull saß, und ihren jetzigen Platz hatte der herausragende, damals sechzigjährige Therapeut eingenommen, der bald darauf wegen beruflichen Fehlverhaltens aus der Psychoanalytikervereinigung – dem British Psychoanalytic Council – ausgeschlossen worden war.

Während sie sich nun niederließ, holte sie noch einmal tief Luft, um ihre Nerven zu beruhigen, und faltete die Hände im Schoß. Sie kannte Krull vom Hörensagen und Dr. Barber als Kollegin. Mit Letzterer verstand sie sich recht gut – was erklärte, wieso Dr. Barber nun einen so verlegenen Eindruck machte und Schwierigkeiten hatte, Frieda in die Augen zu sehen. Das dritte Mitglied der Kommission war eine untersetzte, grauhaarige Frau, die einen Pullover in einem grellen Pinkton und eine Halskrause trug. Das faltige Gesicht über der Krause wirkte klug, und ihre grauen Augen leuchteten. Frieda fand, dass sie aussah wie ein intelligenter Frosch. Die Frau stellte sich als Thelma Scott vor. Frieda betrachtete sie interessiert. Sie hatte schon von Thelma Scott gehört, einer Spezialistin für die Bereiche Gedächtnis und Trauma, sie aber noch nicht persönlich kennengelernt. Am äußeren Ende des Tisches saß eine weitere Frau. Ihre Aufgabe war es, die Sitzung zu protokollieren.

»Wie Sie wissen, Doktor Klein«, begann Professor Krull mit einem Blick in die ihm vorliegenden Papiere, »handelt es sich hierbei um die Voruntersuchung einer bei uns eingegangenen Beschwerde.« Frieda nickte. »Unsere Vereinigung verfügt über einen Ethik-Kodex und eine festgelegte Vorgehensweise im Fall von Beschwerden. Mit beidem haben Sie sich bei Ihrer Aufnahme einverstanden erklärt. Wir sind heute hier zusammengekommen, um die gegen Sie eingereichte Beschwerde zu untersuchen und uns zu vergewissern, dass einer Ihrer Patienten nicht Opfer unlauterer Berufspraktiken geworden ist, sondern von Ihnen auf eine für ihn sichere und angemessene Weise behandelt wurde. Ehe wir beginnen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass keine unserer Entscheidungen oder Erkenntnisse rechtliche Konsequenzen hat.« Er las inzwischen von dem vor ihm liegenden Blatt ab. »Auch beeinträchtigt unsere Entscheidung, wie auch immer sie ausfallen mag, keineswegs das Recht der Person, die sich über Sie beschwert hat, zusätzlich rechtliche Schritte gegen Sie einzuleiten, falls sie sich dazu entschließen sollte. Sind Sie sich darüber im Klaren?«

»Ja, das bin ich«, antwortete Frieda.

»Dieser Untersuchungsausschuss besteht aus drei Psychotherapeuten, die zusammengekommen sind, um den Fall einer unparteilichen, professionellen Prüfung zu unterziehen. Haben Sie irgendeinen Grund, an der Unparteilichkeit von einem von uns zu zweifeln, Doktor Klein?«

»Nein.«

»Sie haben sich dazu entschieden, ohne Beistand zu erscheinen und für sich selbst zu sprechen.«

»Das ist richtig.«

»Dann können wir beginnen. Die Beschwerde wurde von Misses Caroline Dekker eingereicht, und zwar im Namen ihres Ehemanns Alan Dekker. Können Sie bestätigen, dass Alan Dekker Ihr Patient war?«

»Ja. Er hat mich im November und Dezember 2009 mehrfach aufgesucht. Ich habe die Daten sämtlicher Sitzungen vermerkt. « Sie holte ein bedrucktes Blatt hervor und schob es über den Tisch.

»Laut Misses Dekker ging es ihrem Mann sehr schlecht, als er zu Ihnen kam.«

»Er litt unter schweren Panikattacken.«

»Misses Dekker behauptet, Sie hätten ihren Mann, statt ihm zu helfen, als …« – Krull warf einen Blick in seine Unterlagen – »Schachfigur in einer polizeilichen Ermittlung benutzt. Sie hätten sich nicht wie eine Therapeutin, sondern wie eine Ermittlerin verhalten, indem Sie einen schweren Verdacht auf ihn lenkten und ihn sogar bei der Polizei meldeten, so dass er zum Verdächtigen in einem Fall von Kindesentführung wurde. Statt sich an Ihr Versprechen zu halten, die Aussagen Ihres Patienten vertraulich zu behandeln, hätten Sie auf Kosten seines Seelenfriedens und seines zukünftigen Glücks Ihre eigene Karriere vorangetrieben.«

»Würden Sie uns bitte Ihre Version der Ereignisse erzählen, Doktor Klein?« Thelma Scott, die ältere Frau mit der Halskrause und dem hässlichen Pullover, fixierte Frieda mit ihrem scharfen Blick.

Nun, da dieser Moment, vor dem sie sich so lange gefürchtet hatte, endlich da war, fühlte sie sich ganz ruhig. »Alan Dekker kam im November zu mir, weil ihn Fantasien quälten. Vor seinem geistigen Auge sah er sich immer wieder mit einem Sohn. Im wirklichen Leben war er kinderlos, obwohl er und seine Frau schon eine ganze Weile versuchten, ein Kind zu bekommen. Deswegen sprachen wir darüber, wieso seine Kinderlosigkeit bei ihm nicht nur großen Kummer, sondern darüber hinaus eine schwere Störung ausgelöst hatte. Zur gleichen Zeit war tatsächlich ein Junge verschwunden, Matthew Faraday. Das Kind, das Alan immer beschrieb – der Sohn, den er nie hatte –, besaß so große Ähnlichkeit mit dem verschwundenen Jungen, dass ich es für meine Pflicht hielt, die Polizei darüber zu informieren. Danach sagte ich Alan, was ich getan hatte.«

»War er wütend?« fragte Jasmine Barber.

Frieda überlegte einen Moment.

»Er wirkte sehr verständnisvoll, vielleicht sogar zu sehr. Es fiel ihm schwer, Ärger zum Ausdruck zu bringen. Ich habe ihn als sanften, von Selbstzweifeln geplagten Mann kennengelernt. Carrie – Misses Dekker – war viel wütender als er. Sie hatte einen stark ausgeprägten Beschützerinstinkt, was ihn betraf.«

»Aber das war nicht das einzige Mal, dass Sie eine Grenze überschritten haben, oder?«, fragte Krull.

Frieda wandte sich ihm zu.

»Der Fall entpuppte sich als kompliziert. Alan war adoptiert. Er fand heraus – nein, ich fand es heraus und sagte es ihm –, dass er ein eineiiger Zwilling war. Er hatte einen Bruder, von dem er nichts wusste, auch wenn zwischen den beiden dennoch eine Art Verbindung bestand. Sie sahen viele Dinge gleich, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Verständlicherweise war diese Erkenntnis für Alan höchst beunruhigend. Sein Bruder hatte Matthew entführt. Dean Reeve – ein Name, den inzwischen jeder kennt. Der Lieblingsschurke der Nation.«

»Der sich umgebracht hat.«

»Als ihm klar wurde, dass er uns nicht entkommen konnte, erhängte er sich unter einer Brücke bei einem Kanal drüben in Hackney. Wie unerträglich der Gedanke an seinen Bruder für Alan auch gewesen sein mag, gleichzeitig liebte er ihn, oder hatte zumindest das Gefühl, einen Teil von sich selbst zu verlieren, als Dean starb. Bestimmt hat er deswegen sehr gelitten. Aber Carrie meint noch etwas anderes, wenn sie sagt, ich hätte ihn benutzt.« Frieda betrachtete die drei mit ihren großen, dunklen Augen. »Bei einer Gelegenheit«, fuhr sie fort, »habe ich mit Alan gesprochen, um dadurch Zugang zur Denkweise seines Bruders zu finden – um dahinterzukommen, was in Deans Kopf vorging. Ohne Alan davon zu erzählen. Hätte ich es ihm gesagt, hätte es nicht funktioniert.«

»Sie haben ihn also tatsächlich benutzt?«

»Ja«, antwortete Frieda. Sie erschraken alle über ihre Stimme, die eher wütend als versöhnlich klang.

»Sind Sie der Meinung, dass das falsch war?«

Frieda schwieg ein paar Augenblicke und runzelte dabei angestrengt die Stirn. Sie ließ sich zurückgleiten in die Dunkelheit des Falls, hinein in seine Schatten und die damit verbundene düstere Angst. Wie sich herausgestellt hatte, war ihr Patient der eineiige Zwilling von Dean, einem Psychopathen, der nicht nur Matthew, sondern zwanzig Jahre zuvor auch ein kleines Mädchen namens Joanna entführt hatte. Besagte Joanna, die zum Zeitpunkt ihres Verschwindens ein mageres, schüchternes Mädchen mit Zahnlücke war, dessen Verlust von seiner Familie endlos betrauert wurde, entpuppte sich am Ende als die fette, lethargische Frau von Dean – das ehemalige Entführungsopfer, in aller Öffentlichkeit versteckt und schließlich selbst zur Täterin geworden. Ein DNA-Test hatte bewiesen, dass es sich bei der übergewichtigen Kettenraucherin Terry tatsächlich um die ehemals so magere Joanna mit den Knubbelknien handelte und dass Deans willige Mittäterin ihrerseits ebenfalls ein Opfer von ihm war. Hinzu kam – und daran musste Frieda immer noch denken, wenn sie nachts durch die Straßen Londons streifte, bis sie so müde war, dass sie endlich schlafen konnte, auch wenn die Sache sie bis in ihre Träume verfolgte – die Tatsache, dass Friedas Entdeckung der auffallenden Ähnlichkeit zwischen Alan und Dean die Entführung einer jungen Wissenschaftlerin zur Folge gehabt hatte, deren Leiche nie gefunden worden war. Auch jetzt musste Frieda wieder an das kluge, sympathische Gesicht von Kathy Ripon denken, und an die Zukunft, die sie nicht haben würde. Vielleicht warteten die Eltern der jungen Frau immer noch auf ihre Rückkehr, so dass jedes Mal ihr Herz aussetzte, wenn es an der Tür klopfte.

Die drei Menschen, die nun als Richter vor Frieda saßen, wollten von ihr wissen, ob sie falsch gehandelt hatte. Als ob es auf diese Frage eine einfache Antwort gäbe – eine Wahrheit, die nicht unsicher und trügerisch war. Sie blickte hoch und sah die drei wieder an.

»Ja«, sagte sie sehr deutlich, »ich habe mich gegenüber meinem Patienten Alan Dekker falsch verhalten. Trotzdem weiß ich nicht, ob mein Verhalten insgesamt falsch war. Zumindest glaube ich nach wie vor, dass ich sowohl falsch als auch richtig gehandelt habe. Was Alan an jenem Tag zu mir sagte, führte direkt zu Matthew. Alan hat damit einem kleinen Jungen das Leben gerettet, daran besteht kein Zweifel. Ich dachte eigentlich, er wäre froh darüber, dass er helfen konnte. Mir ist natürlich klar, dass man manche Dinge mit der Zeit anders sieht, und ich habe auch keine Ahnung, wie es ihm seitdem ergangen ist. Trotzdem verstehe ich nicht, wieso er nach gut einem Jahr plötzlich den Wunsch haben sollte, sich über etwas zu beschweren, das er ursprünglich durchaus akzeptierte. Darf ich noch etwas dazu sagen?«

»Bitte.« Professor Krull vollführte mit seinen schmalen, blau geäderten Händen eine ritterliche Geste.

»Carrie behauptet, meine Karriere sei mir wichtiger gewesen als der Seelenfrieden und das Glück ihres Mannes. Dabei war die ganze Sache überhaupt nicht förderlich für meine Karriere. Ich arbeite nicht für die Polizei, und ich habe auch kein Interesse daran, Ermittlerin zu werden. Außerdem muss ich seitdem mit der Tatsache leben, dass durch mein Handeln eine junge Frau verschwunden ist, aber das ist ein anderes Thema und gehört nicht hierher. Als Therapeutin glaube ich an Selbsterkenntnis und Eigenständigkeit. Was die Menschen während der Therapie über sich selbst herausfinden, bringt ihnen nicht immer Frieden und Glück. Tatsächlich ist das oft nicht der Fall. Aber eine solche Therapie kann es einem ermöglichen, Unerträgliches erträglich zu machen und die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, so dass man zumindest bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle über sein eigenes Leben hat. Das versuche ich mit meiner Arbeit zu bewirken, so gut ich kann. Was das Thema Glück betrifft …« Frieda hob beide Hände zu einer vielsagenden Geste.

»Wenn man Sie also bitten würde, sich zu entschuldigen …«

»Ich soll mich entschuldigen? Wofür? Bei wem? Ich würde gerne wissen, was Alan selbst zu der ganzen Sache zu sagen hat. Er sollte nicht zulassen, dass seine Frau sich zu seinem Sprachrohr macht. Was für eine Rolle spielt eigentlich Alan in dieser Geschichte?«

Statt einer Antwort folgte betretenes Schweigen.

»Das weiß ich nicht so genau«, meinte Professor Krull schließlich verlegen.

»Was soll dann das Ganze?« Frieda machte eine ausladende Handbewegung, die den langen ovalen Tisch, die protokollierende Frau an seinem Ende und die an der Wand hängenden Bilder von illustren Mitgliedern der Vereinigung einschloss. »Ich dachte, hier ginge es darum, eine Beschwerde zu untersuchen, die – auf welch indirektem Weg auch immer – von einem Patienten ausgeht. Seit wann sind wir dafür verantwortlich, wenn sich der Ehepartner eines Patienten unzufrieden fühlt? Was mache ich überhaupt hier? Was machen Sie alle hier?«

Professor Krull räusperte sich.

»Wir möchten auf jeden Fall einen Prozess verhindern. Die Wogen glätten.«

Frieda stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl laut über die Holzdielen schabte. Ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut.

»Die Wogen glätten? Sie wollen, dass ich mich für etwas entschuldige, das ich nach wie vor für gerechtfertigt halte, oder zumindest nicht für ungerechtfertigt? Noch dazu bei einer Person, die an der ganzen Sache gar nicht direkt beteiligt war?«

»Doktor Klein«, begann Krull.

»Frieda«, sagte Jasmine Barber in beschwichtigendem Ton, »bitte bleiben Sie doch noch einen Moment.«

Thelma Scott verkniff sich jeden Kommentar. Der Blick ihrer grauen Augen folgte Frieda.

»Ich weiß mit meiner Zeit wirklich etwas Besseres anzufangen.«

Sie nahm ihren Mantel von der Stuhllehne und verließ den Raum, wobei sie darauf achtete, nicht die Tür hinter sich zuzuknallen. Als sie auf den Ausgang zusteuerte, erhaschte sie einen Blick auf eine Frau, die gerade links von ihr die Treppe hinunterging, und hielt inne. Irgendetwas an der kräftigen, gedrungenen Figur und dem kurzen braunen Haar kam ihr bekannt vor. Frieda schüttelte den Kopf und steuerte weiter auf den Ausgang zu, überlegte es sich dann aber doch anders und machte kehrt, um ebenfalls die Treppe zur Kantine hinunterzugehen. Sie hatte recht gehabt: Es war tatsächlich Carrie Dekker, Alans Ehefrau – die Frau, der sie es zu verdanken hatte, dass sie soeben diese Scharade über sich hatte ergehen lassen müssen. Irgendwie erschien sie Frieda kleiner, untersetzter, älter und müder als damals vor einem Jahr, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Ihr braunes Haar wirkte strähnig.

Frieda wartete auf einem Stuhl in der Ecke, gleich neben einem Heizkörper, bis Carrie mit ihrer Kaffeetasse von der Theke zurückkam, und trat dann neben sie.

»Darf ich mich für einen Moment zu Ihnen setzen?«

Carrie starrte sie an. Ihre Miene wirkte plötzlich sehr feindselig.

»Sie haben vielleicht Nerven!«, stellte sie fest.

»Ich dachte, wir sollten uns von Angesicht zu Angesicht unterhalten.«

»Warum werden Sie nicht mehr befragt? Sie waren doch erst ganz kurz da drin.«

»Ich möchte Sie etwas fragen.«

»Was denn?«

»Alan war mein Patient. Warum kommt die Beschwerde von Ihnen, und nicht von ihm selbst?«

Carrie starrte sie verblüfft an.

»Wissen Sie das denn nicht?«

»Was?«

»Sie haben wirklich keine Ahnung? Sie haben sich in unser Leben eingemischt. Sie haben Alan eingeredet, er könne sich bei Ihnen sicher fühlen und Ihnen vertrauen. Sie haben zu ihm gesagt, er brauche sich seiner Gefühle nicht zu schämen. Sie haben ihm einen Freibrief gegeben.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich wollte doch nur, dass er wieder gesund wird.« Für einen Moment wackelte ihre Stimme. »Er war krank, und ich wollte, dass es ihm wieder besser geht. Sie sollten ihn nur heilen. Ist es das, was Sie unter Heilung verstehen? Man findet sich selbst und verlässt seine Frau.«

»Wie bitte?«

»Sie haben ihn verändert.«

»Moment mal, Carrie. Wollen Sie damit sagen, Alan hat Sie verlassen?«

»Wussten Sie das nicht?«

»Nein. Ich habe Alan weder gesehen noch gesprochen, seit sein Bruder vorigen Dezember tot aufgefunden wurde.«

»Tja. Dann wissen Sie es jetzt.«

»Wann hat er Sie verlassen?«

»Wann?« Carrie hob den Kopf und sah Frieda in die Augen. »Am Weihnachtstag, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Das ist hart«, sagte Frieda leise. Allmählich begriff sie, warum Carrie sich beschwert hatte. »Dann ist es ja erst einen guten Monat her.«

»Nicht dieses Weihnachten. Letztes Jahr.«

»Oh.« Mehr brachte Frieda nicht heraus. Einen Moment lang schien der Raum um sie herum seine feste Form zu verlieren. »Sie meinen, kurz nach dem Selbstmord seines Bruders?«

»Als hätte er nur darauf gewartet. Sie wussten wirklich nicht Bescheid? Ich dachte, er hätte mit Ihnen darüber gesprochen. Ich dachte, Sie hätten ihn dazu ermutigt

»Warum ist er gegangen?«

»Weil er sich besser fühlte. Er brauchte mich nicht mehr. Vorher hat er mich immer gebraucht. Ich habe mich um ihn gekümmert. Aber nachdem Sie ihn in die Finger bekommen hatten, war er nicht mehr derselbe.«

»Hat er das so gesagt?«

»Nicht mit genau diesen Worten. Aber er hat sich so verhalten. Nach Deans Selbstmord war er ein paar Tage lang … ich kann es gar nicht beschreiben. Er war fröhlich, voller Energie, entschlossen. Es waren die besten Tage meines Lebens. Genau das hat es für mich ja so hart gemacht. Ich dachte, alles wäre gut. Ich hatte so lange solche Angst um ihn gehabt, und plötzlich war er wieder da, der alte Alan. Oder besser gesagt, ein neuer Alan. Er war so … so liebevoll. Ich war richtig glücklich.«

Mit einem zornigen Schnauben wandte sie den Kopf, damit Frieda die Tränen in ihren Augen nicht sah.

»Er muss doch irgendeine Erklärung abgegeben haben.«

»Nein, er hat nur gesagt, es sei gut gewesen, aber nun sei es vorbei. Wenn ich daran denke, was ich alles für ihn aufgegeben habe – wie ich mich um ihn gekümmert und dafür gesorgt habe, dass er sich in seiner Welt sicher fühlen konnte. Ich habe ihn geliebt und war mir sicher, dass er mich auch liebte. Was auch passierten würde, wir hatten einander. Dann ist er einfach gegangen, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen – und was ist mir jetzt noch geblieben? Er hat mir alles genommen: meine Liebe, mein Vertrauen, meine gebärfähigen Jahre. Das verzeihe ich Ihnen nie. Nie.«

Frieda nickte. Ihre Wut auf Carrie war längst verraucht.

»Wissen Sie, Alan hat ein schreckliches Trauma durchgemacht«, erklärte sie. »Vielleicht musste er einfach für eine Weile raus aus seinem alten Leben, weil er es nach dieser ganzen Sache nicht mehr ertragen konnte. Deswegen ist er davor weggerannt, aber das bedeutet ja nicht, dass das auf Dauer so bleiben wird. Das Wichtigste ist, dass Sie den Kontakt zu ihm nicht verlieren und die Türen offen halten.«

»Und wie soll ich das anstellen?«

»Spricht er denn nicht mit Ihnen?«

»Er ist weg. Spurlos verschwunden.«

Frieda war plötzlich kalt, obwohl der Heizkörper neben ihr Hitze verströmte.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht einmal wissen, wo er sich aufhält?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Er hat Ihnen keine Adresse hinterlassen?«

Er hat nur ein paar Klamotten und die Werkzeugtasche mitgenommen, die sein psychopathischer Bruder ihm kurz vor seinem Selbstmord geschenkt hat. Ach ja, und fast das ganze Geld von seinem Konto. Ich habe mir seine Auszüge angesehen. Ich habe versucht, ihn aufzuspüren, aber er will offenbar nicht gefunden werden.«

»Verstehe«, sagte Frieda.

»So, nun kennen Sie den Grund für meine Beschwerde: Sie haben mir mein Leben gestohlen. Sie mögen ja den kleinen Jungen gefunden und Deans Frau gerettet haben, auch wenn die wohl gar nicht gerettet werden wollte, aber meinen Alan haben Sie verloren.«

Carrie erhob sich und knöpfte ihre Jacke zu. Auf der Oberfläche ihres Milchkaffees, den sie nicht angerührt hatte, bildete sich bereits eine Haut. Frieda sah ihr nach, als sie ging, konnte sich aber mehrere Minuten lang nicht bewegen. Reglos saß sie da, die Hände auf der Tischplatte, das Gesicht starr wie eine Maske.