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Seth Boundy wählte Kathy Ripons Handynummer. Er lauschte dem Klingelton, bis sich die Mailbox einschaltete. Er hinterließ eine weitere Nachricht, die jedoch genauso lautete wie seine vorherigen Nachrichten: Ruf mich sofort zurück. Er warf noch einmal einen Blick in seine Mails, um sich zu vergewissern, dass in den wenigen Minuten, die vergangen waren, seit er zum letzten Mal nachgeschaut hatte, nicht doch noch eine Mail von ihr eingegangen war. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie in seiner Junk Mail gelandet war, sah er auch diesen Ordner durch. Ihr Schweigen ärgerte ihn so, dass er an gar nichts anderes mehr denken konnte. Was führte sie im Schilde?

Seine Frau klopfte kurz an seiner Arbeitszimmertür und kam herein, ehe er ihr sagen konnte, dass er beschäftigt sei. »Es gibt Mittagessen«, sagte sie.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Ich dachte, du wolltest zum Einkaufen. Du hast gesagt, du hättest einiges zu erledigen, bist aber offenbar noch zu gar nichts gekommen. Soll ich vielleicht ein Geschenk für deine Schwester besorgen?«

»Nein, das mache ich später.«

»Es sind nur noch drei Tage bis Weihnachten. Du hast Ferien.«

Boundy bedachte seine Frau mit einem derart vernichtenden Blick, dass sie freiwillig den Rückzug antrat und die Tür hinter sich schloss. Dieses Mal versuchte er es auf Kathys Festnetz. Es klingelte und klingelte, ohne dass jemand ranging. Er überlegte krampfhaft. Natürlich wohnte sie in Cambridge, aber wohin fuhr sie in den Ferien? Wo lebten ihre Eltern? Er konnte sich vage daran erinnern, dass sie ihm von ihrer Familie erzählt hatte. Obwohl er ihr damals nicht richtig zugehört hatte, war irgendetwas in seinem Gedächtnis hängen geblieben. Was war das bloß gewesen? Irgendetwas über Käse. Genau. In ihrer Heimatstadt gab es einen Käserollwettbewerb. Er gab das Stichwort Käserollen bei Google ein und stieß sofort auf Dutzende Einträge zu dem Käserollwettbewerb, der jedes Jahr auf Copper’s Hill in Gloucester stattfand.

Seth rief bei der Auskunft an und fragte nach der Nummer einer Familie Ripon in Gloucester, von der er leider keinen Vornamen wisse. Wie sich herausstellte, gab es nur einen einzigen Eintrag unter diesem Namen. Er wählte die Nummer. Eine Frau ging ran. Ja, sie sei Kathys Mutter. Nein, ihre Tochter sei nicht da. Sie komme zwar zu Weihnachten, sei aber noch nicht eingetroffen. Nein, sie wisse nicht, wo sich ihre Tochter gerade aufhalte. Seth Boundy beendete das Gespräch. Was zunächst Ärger gewesen war, verwandelte sich zuerst in Verwirrung und dann allmählich in Sorge. Diese Frau, Dr. Klein… Warum hatte sie eigentlich so dringend mit ihm reden wollen? Warum hatte die Sache keinen Aufschub geduldet? Die Aussicht auf ein neues, noch unentdecktes Zwillingspaar hatte ihn derart in Aufregung versetzt, dass er über den Hintergrund von Dr. Kleins Besuch kaum mehr nachgedacht hatte. War das womöglich ein schlimmer Fehler gewesen? Eine Weile saß er reglos in seinem Sessel, die Stirn in tiefe Falten gezogen. Dann griff er ein weiteres Mal nach seinem Handy.

 

Das hohe, schrille Geräusch war schon lange verstummt. Wie lange, wusste er nicht. Es gab keine Tage mehr, nur noch endlose Nacht. Das Geräusch hatte ihn nur so lange begleitet, wie seine Mutter brauchte, um ihm abends vor dem Zubettgehen eine Geschichte vorzulesen. Als er noch Matthew war. Rotkäppchen, das vom Wolf verschlungen wurde. Hänsel und Gretel, die sich im Wald verliefen und vergeblich darauf warteten, dass ihr Vater kam und sie fand. Da war ein Keuchen gewesen und ein Schnauben, und dann lautes Gekreische und ein Geratter wie von einer rostigen Maschine, die verrückt spielte und sich selbst zerhackte. Aber die schrecklichen Geräusche waren ganz schnell vorbei gewesen und hatten ihn wieder in Ruhe gelassen. Er war wieder allein gewesen mit dem Rascheln in der Ecke, dem Wassergetröpfel, dem Holpern seines Herzens und dem scheußlichen Gestank nach ihm selbst. Sein Körper war ausgelaufen. Er lag in seinen eigenen Überresten. Aber wenigstens war er allein. Er hatte sein Versprechen gehalten und keinen Laut von sich gegeben.

 

Frieda tigerte in ihrem Sprechzimmer auf und ab. Dass Alan vor der Tür saß, machte sie nervös. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, ehe Karlsson eintraf. Sie hatte schon genug Fehler gemacht. Als das Telefon klingelte, ging sie sofort ran.

»Frieda?«

»Chloë! Ich kann jetzt nicht telefonieren. Ich rufe dich später zurück, ja?«

»Nein, nein, nein, warte! Mein Dad fliegt Weihnachten nach Fidschi.«

»Ich bin gerade sehr beschäftigt.«

»Ist dir das wirklich scheißegal? Was mache ich jetzt bloß? Er sollte doch eigentlich mit mir wegfahren und nicht mit seiner Tussi. Nun sitze ich die ganzen Weihnachtsferien mit meiner Mutter in unserem dreckigen Rattenloch fest.«

»Chloë, wir reden später darüber!«

»Ich habe hier eine Rasierklinge, nur damit du es weißt. Ich sitze mit einer Rasierklinge in meinem Zimmer.«

»Ich lasse mich nicht erpressen!«

»Du bist meine Tante. Du müsstest mich doch lieben. Ich habe sonst niemanden, der mich liebt. Dad liebt mich jedenfalls nicht, und meine Mutter – die hat sie nicht mehr alle. Und ich drehe auch bald durch. Da kannst du Gift drauf nehmen.«

»Ich komme heute Abend vorbei. Dann reden wir darüber.«

»Dürfen wir an Weihnachten bei dir feiern?«

»Bei mir?«

»Ja.«

»Dafür ist mein Haus viel zu klein, und kochen kann ich auch nicht. Außerdem hasse ich Weihnachten. Bei mir gibt’s nicht mal einen Baum.«

»Bitte, Frieda. Du kannst mich doch hier nicht verrotten lassen.«

»Also gut, also gut.« Hauptsache, Chloë gab endlich Ruhe. »Ich muss jetzt aufhören.«

 

Frieda war beeindruckt von Karlsson. Er schien in der Lage zu sein, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Während er in dringlichem Ton mit jemandem auf dem Polizeirevier telefonierte und dabei klare, knappe Befehle erteilte, lotste er Frieda und den bestürzten Alan aus dem Gebäude und zu seinem Wagen. »Ich möchte, dass Sie und Dr. Klein mit mir kommen«, sagte er an Alan gewandt. »Wir erklären es Ihnen unterwegs.« Mit diesen Worten hielt er ihnen die Wagentür auf.

»Habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen?«, fragte Alan.

Frieda legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Karlsson stieg vorne ein. Frieda bekam Bruchstücke seiner Befehle mit. »Lasst die beiden ja nicht zusammen!«, bellte er, und dann: »Ich will, dass jeder Zentimeter dieses Hauses genau unter die Lupe genommen wird!«

Währenddessen sprach Frieda so klar und ruhig mit Alan, wie sie nur konnte. Dabei hatte sie ständig das seltsame Gefühl, die Geschichte zum zweiten Mal demselben Mann zu erzählen. Sie konnte nicht umhin, die beiden miteinander zu vergleichen. Wieso war ihr der Unterschied nicht gleich aufgefallen? Trotz des ähnlichen Mienenspiels wirkte Alan bei jeder neuen Information wie vom Schlag getroffen. Als Frieda etwa die Hälfte erzählt hatte, flüsterte er: »Ich habe noch eine Mutter! Und einen Zwillingsbruder! Wie lange wissen Sie das schon?«

»Noch nicht lange. Erst ein paar Tage.«

Er holte tief Luft und klang dabei ein wenig zittrig. »Meine Mutter …«

»Ihr Gedächtnis funktioniert nicht mehr allzu gut, Alan. Sie ist alt und krank.«

Er blickte auf seine Hände hinunter. »Ist er mir sehr ähnlich?«

»Ja.«

»Auch von der Art her?«

Frieda wusste, was er meinte. »In mancherlei Hinsicht schon«, antwortete sie. »Das ist alles ein bisschen kompliziert.«

Alan betrachtete sie plötzlich mit einer Schärfe, die Frieda bisher immer nur hatte erahnen können. »Es geht Ihnen dabei gar nicht um mich, oder? Nicht wirklich. Sie benutzen mich nur, um an ihn heranzukommen.«

Einen Moment schämte sich Frieda, war aber gleichzeitig fast stolz auf ihn. Er brach unter der Last der Neuigkeiten nicht einfach wimmernd zusammen, sondern wehrte sich. Er war wütend auf sie. »So dürfen Sie das nicht sehen. Ich bin hier, um Ihnen beizustehen. Trotzdem gibt es da …« – sie machte eine ausladende Geste – »… diese ganze Sache.«

»Sie glauben, er hat in die Tat umgesetzt, was ich mir nur gewünscht habe?«

»Es könnte sein, dass Sie gewisse Gefühle teilen«, antwortete Frieda.

»Dann bin ich also wie er?«

»Wer weiß?«, meldete Karlsson sich vorne so überraschend zu Wort, dass Alan erschrocken zusammenzuckte. »Auf jeden Fall hätten wir gerne eine Aussage von Ihnen«, fuhr Karlsson fort. »Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten würden.«

»In Ordnung.«

Als sie sich dem Polizeirevier näherten, sahen sie vor dem Gebäude eine Gruppe von Männern und Frauen, zum Teil mit Kameras.

»Was wollen die denn da?«, fragte Frieda.

»Sie haben sich häuslich niedergelassen«, erklärte Karlsson. »Wie Möwen rund um eine Müllkippe. Wir fahren zum Hintereingang.«

»Ist er da drin?«, fragte Alan plötzlich.

»Sie brauchen ihn nicht zu sehen.«

Alan drückte das Gesicht an die Scheibe wie ein kleiner Junge, der in eine Welt hinausspähte, die er nicht verstand.