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Am Freitagnachmittag war Frieda wieder in der Klinik, um sich aus der kleinen, hauseigenen Bibliothek ein paar Bücher zu holen. Sie brauchte sie für einen Vortrag, den sie in ein paar Wochen halten sollte. Die meisten Leute hatten bereits Feierabend gemacht, aber Paz war noch da und winkte Frieda zu sich.
Paz arbeitete erst seit sechs Monaten im Warehouse. Sie war in London aufgewachsen, aber ihre Mutter stammte aus Andalusien. Von ihr hatte Paz die dunklen Haare und Augen. Mit ihrer lebhaften Art brachte sie ein wenig Melodramatik in die Klinik – sogar an ruhigen Tagen. Im Moment machte sie den Eindruck, als hätte sie etwas besonders Dringendes auf dem Herzen.
»Ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen«, brach es aus ihr heraus. »Hast du mit Reuben gesprochen?«
»Das weißt du doch. Warum? Was hat er denn wieder angestellt ?«
»Zum einen ist er heute Nachmittag einfach nicht zu den Terminen mit seinen Patienten erschienen. Außerdem kann ich ihn nicht erreichen.«
»Das klingt in der Tat nicht gut.«
»Da ist noch mehr. Dieser Patient.« Paz blickte auf ihre Unterlagen. »Es ging ihm ziemlich schlecht, er hatte Panikattacken und wurde deshalb von seinem Hausarzt an Reuben überwiesen. Bei der ersten Sitzung ist irgendetwas schiefgelaufen. Richtig schief. Der Mann will sich an offizieller Stelle beschweren.«
»Weswegen denn?«
»Er behauptet, Reuben habe kein Wort von dem mitbekommen, was er ihm erzählt hat.«
»Und was sagt Reuben dazu?«
»Gar nichts. Wahrscheinlich glaubt er, er kommt damit durch. Vielleicht schafft er das ja auch. Aber er hat bei diesem Patienten gepfuscht, und darüber war der Mann sehr wütend. Extrem wütend.«
»Bestimmt findet sich eine Lösung für das Problem.«
»Genau darum geht es, Frieda. Tut mir leid, dass ich dir das aufhalsen muss. Aber ich habe ihn mehr oder weniger schon dazu überredet – Alan Dekker, meine ich –, mit seiner Beschwerde zu warten, bis er mit dir gesprochen hat. Ich dachte mir, du könntest ihn vielleicht übernehmen.«
»Als Patient?«
»Ja.«
»Lieber Himmel«, meinte Frieda, »kann Reuben sich denn nicht selbst um sein Schlamassel kümmern?« Paz gab ihr keine Antwort, sondern warf ihr lediglich einen flehenden Blick zu. »Hast du schon mit Reuben darüber gesprochen?«, fuhr Frieda fort. »Ich kann ihm nicht einfach seinen Patienten wegnehmen.«
»Mehr oder weniger.«
»Was soll das heißen?«
»Es soll heißen, dass man im Moment nicht viel aus ihm herausbekommt. Aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, möchte er, dass du den Mann übernimmst. Falls es dir recht ist.«
»Also gut, also gut! Ich schätze, ich kann ihn mir ja mal ansehen.«
»Morgen?«
»Morgen ist Samstag. Er kann am Montag einen Termin haben. Um halb zwei in meiner Praxis.«
»Danke, Frieda.«
»In der Zwischenzeit solltest du Reubens Terminkalender durchsehen. Vielleicht wäre es sinnvoll, weitere Patienten an Kollegen abzugeben.«
»Du meinst, es geht ihm so schlecht?«
»Vielleicht war Alan Dekker bloß der Erste, der es gemerkt hat.«
»Das wird Reuben nicht gefallen.«
Jeden Freitag ging Frieda zu Fuß nach Islington, um ihrer Nichte Chloë einen Besuch abzustatten. Sie besuchte sie nicht zum Vergnügen: Chloë war gerade sechzehn geworden und würde im Juni ihre Abschlussprüfung machen, und Frieda gab ihr Nachhilfe in Chemie, einem Fach, das Chloë (die sich vorstellen konnte, selbst ebenfalls Ärztin zu werden) mit einer Mischung aus Abscheu und Wut betrachtete, fast als handelte es sich dabei um eine Person, die es auf sie abgesehen hatte. Der Vorschlag war von Chloës Mutter Olivia gekommen, aber Frieda hatte sich erst bereit erklärt, nachdem sich ihre Nichte selbst – wenn auch widerstrebend – eine wöchentliche Nachhilfestunde verordnet hatte, am Freitagnachmittag von halb fünf bis halb sechs. Chloë hatte sich nicht immer daran gehalten. Einmal war sie überhaupt nicht aufgetaucht (nach Friedas heftiger Reaktion hatte sie das kein zweites Mal gewagt), und des Öfteren erschien sie mit einiger Verspätung. Missmutig knallte sie dann ihre Ordner inmitten von Stapeln ungespülten Geschirrs und ungeöffneter Rechnungen auf den Küchentisch und funkelte ihre Tante, die ihre Launen ignorierte, wütend an.
Heute würden sie die kovalente Bindung durcharbeiten. Chloë hasste die kovalente Bindung ebenso wie die Ionenbindung. Gleichungen mochte sie auch nicht, und ganz besonders verabscheute sie die Berechnung von Molekulargewicht. Während sie Frieda nun gegenübersaß, hing ihr das dunkelblonde Haar ins Gesicht, und sie hatte die Ärmel ihres übergroßen Kapuzenshirts über die Hände gezogen, sodass nur die Finger mit den schwarz lackierten Nägeln hervorlugten. Frieda fragte sich, ob sie etwas verbergen wollte. Knapp ein Jahr zuvor hatte Olivia völlig aufgelöst bei Frieda angerufen und ihr erzählt, dass Chloë sich ritzte. Sie benutzte dazu die Klinge ihres Bleistiftspitzers oder die Nadel ihres Kompasses. Olivia war nur dahintergekommen, weil sie die Badezimmertür geöffnet hatte, ohne anzuklopfen, und die Ritzspuren an den Armen und Oberschenkeln ihrer Tochter entdeckt hatte. Chloë hatte ihr einzureden versucht, das sei nicht der Rede wert, sie brauche deswegen kein solches Theater zu veranstalten, schließlich täten das alle, und es sei überhaupt nicht schlimm. Die Schuld daran gab sie sowieso Olivia, weil diese ihrer Meinung nach nicht verstand, wie man sich als Einzelkind fühlte, wenn einen die Mutter wie ein Baby behandelte und der Vater mit einer Frau davongelaufen war, die kaum älter war als die eigene Tochter. Widerlich. Wenn man das unter Erwachsensein verstand, wollte sie niemals erwachsen werden. Nach diesen Erklärungen hatte sie sich im Badezimmer eingeschlossen und sich geweigert, wieder herauszukommen – woraufhin Olivia Frieda anrief. Frieda eilte herbei und bezog auf den Stufen vor dem Bad Stellung. Sie rief zu ihrer Nichte hinein, dass sie da sei, falls Chloë mit ihr reden wolle, und dass sie eine Stunde warten werde. Zehn Minuten bevor ihre Zeit abgelaufen war, kam Chloë heraus. Ihr Gesicht war vom Weinen ganz verquollen, und sie hatte neue Ritzspuren an den Armen, die sie Frieda mit trotziger Wut zeigte: Da, schau, wozu sie mich gebracht hat … Dann redeten sie miteinander, besser gesagt stieß Chloë in bruchstückhaften Sätzen hervor, was für eine Erleichterung es sei, eine Klinge über ihre Haut zu ziehen und die kleinen roten Tropfen hervorquellen zu sehen, und was für eine Wut sie auf ihren erbärmlichen Vater empfinde, ganz zu schweigen von – o Gott! – ihrer hysterischen Mutter, und wie sehr sie sich vor ihrem eigenen heranwachsenden, sich verändernden Körper ekle. »Warum muss ich das alles durchmachen?«, schrie sie.
Frieda war nicht der Meinung, dass Chloë sich noch ritzte, fragte aber nie danach. Auch jetzt kommentierte sie weder die heruntergezogenen Ärmel noch die mürrische Miene ihrer Nichte, sondern konzentrierte sich wieder auf die Chemie.
»Wenn Metalle mit Nichtmetallen reagieren, was passiert dann, Chloë?«
Chloë gähnte laut und riss dabei den Mund weit auf.
»Chloë?«
»Keine Ahnung. Warum müssen wir uns an einem Freitagnachmittag mit diesem Mist beschäftigen? Ich wäre viel lieber mit meinen Freundinnen in die Stadt gegangen.«
»Diese Diskussion hatten wir doch schon. Sie teilen sich Elektronen. Beginnen wir mit einer kovalenten Einfachbindung. Zum Beispiel Wasserstoff. Chloë?«
Chloë murmelte irgendetwas Unverständliches.
»Hörst du überhaupt zu, was ich sage?
»Du hast Wasserstoff gesagt.«
»Stimmt. Möchtest du ein Heft herausholen?«
»Wozu?«
»Es ist oft hilfreich, wenn man etwas niederschreibt.«
»Weißt du, was Mum gemacht hat?«
»Nein, weiß ich nicht. Papier, Chloë.«
»Sie hat sich bei einer Partnervermittlungsagentur angemeldet.«
Frieda klappte das Schulbuch zu und schob es von sich weg. »Hast du etwas dagegen?«
»Was denkst du denn? Natürlich habe ich etwas dagegen.«
»Warum?«
»Das ist doch erbärmlich – als bräuchte sie ganz dringend Sex.«
»Vielleicht ist sie ja nur einsam.«
»Häh? Sie ist doch nicht allein!«
»Du meinst, sie hat dich?«
Chloë zuckte mit den Achseln. »Ich möchte nicht darüber sprechen. Du bist schließlich nicht meine Therapeutin.«
»Gut«, meinte Frieda sanft, »dann lass uns zum Wasserstoff zurückkehren. Wie viele Elektronen hat Wasserstoff?«
»Dir ist das alles egal, oder? Es interessiert dich kein bisschen. Mein Dad hatte recht mit dem, was er über dich gesagt hat!« Der Ausdruck auf Friedas Gesicht ließ sie verstummen. Chloë wusste inzwischen, dass jede Erwähnung von Friedas Verhältnis zu ihrer Familie streng verboten war, und trotz ihrer jugendlichen Aufsässigkeit hatte sie großen Respekt vor ihrer Tante und fürchtete ihre Missbilligung. »Eines«, stieß sie in mürrischem Ton hervor, »Wasserstoff hat nur ein einziges gottverdammtes Elektron.«