26

Wofür hältst du das?«, fragte Frieda.

Jack zog eine Grimasse. »Eine klassische Fantasie«, antwortete er.

Sie saßen in der Nummer 9, ihrem neuen Stammplatz für Jacks Tutorengespräche, die inzwischen häufiger stattfanden und wesentlich weniger steif verliefen. Mittlerweile waren Frieda und er sogar zum Du übergegangen. Jack schlürfte gerade seinen zweiten Cappuccino. Er fühlte sich in dem Café sehr wohl. Kerry scharwenzelte ständig um ihn herum, wobei sie ihn halb bemutterte und halb mit ihm flirtete. Hin und wieder kam auch Marcus aus der Küche und bestand darauf, dass Jack seine neueste Kreation probierte (an diesem Tag eine Bakewell-Torte mit Orangenmarmelade, von der Jack brav ein Stück aß, obwohl er eigentlich weder Mandeln noch Orangenmarmelade besonders mochte), und gelegentlich sauste Katya herbei und setzte sich auf Friedas Schoß. Jack hatte den Verdacht, dass Katya Frieda auf die gleiche Art mochte, wie Katzen Menschen mögen, die ihretwegen kein großes Theater veranstalten. Die meiste Zeit ignorierte Frieda sie nämlich. Manchmal hob sie die Kleine nach einer Weile wieder von ihrem Schoß und stellte sie einfach auf den Boden.

»Inwiefern?«

»Viele Männer träumen doch von so etwas: Eine sexuell aufreizende Frau taucht auf, reißt einen aus seinem langweiligen Alltagstrott und beschert einem ein wildes, aufregendes Leben.«

»Wofür steht diese Frau?«

»Möglicherweise für dich.« Jack nahm einen hastigen Schluck von seinem Kaffee.

»Mich? Eine vollbusige Sexbombe mit einer Jacke in Knallorange, engem Minirock und rotblondem Haar?«

Jack bekam einen roten Kopf und blickte sich im Café um, weil er befürchtete, jemand könnte ihren Wortwechsel mitbekommen haben. »Vielleicht handelt es sich um eine sexuell aufgeladene Version von dir«, erklärte er, »und somit um einen klassischen Fall von Übertragung: Du bist die Frau, die in sein langweiliges Leben tritt. Mit dir kann er auf eine Art sprechen, wie es ihm sonst nicht einmal mit seiner Partnerin möglich ist. Trotzdem braucht er dafür ein Deckmäntelchen, und das kommt in Gestalt dieser übermäßig sexuell geprägten weiblichen Person zum Ausdruck.«

»Interessant«, meinte Frieda. »Ein bisschen zu sehr wie aus dem Lehrbuch, aber interessant. Andere Theorien?«

Jack überlegte einen Moment. »Mir ist noch aufgefallen, dass er die ganze Zeit auf seinem Allerweltsgesicht herumreitet und ständig das Gefühl hat, mit anderen Leuten verwechselt zu werden. Es könnte ein Fall von Solipsismussyndrom sein. Du weißt schon, dieser gestörte Geisteszustand, in dem der Betroffene sich einbildet, die einzig reale Person zu sein, während alle anderen nur Schauspieler sind oder durch Roboter oder etwas Ähnliches ersetzt.«

»In diesem Fall müsste man eine MRT-Aufnahme machen lassen.«

»Es ist nur eine Theorie. Ich würde einen solchen Schritt erst empfehlen, wenn es darüber hinaus noch andere Anzeichen für eine kognitive Beeinträchtigung gibt.«

»Weitere Möglichkeiten?«

»Mir wurde eingebläut, wie wichtig es ist, dem Patienten gut zuzuhören. Vermutlich besteht durchaus die Möglichkeit, dass eine Frau ihn einfach nur mit jemandem verwechselt hat und wir der Sache gar keine große Bedeutung beizumessen brauchen.«

»Kannst du dir vorstellen, auf eine junge Frau zuzugehen und sie tatsächlich aus Versehen zu küssen?«

Jack war schwer in Versuchung, ein, zwei Exemplare zu nennen, bei denen ihm das nur allzu leicht passieren könnte, riss sich dann aber zusammen. »Er muss dem Mann, mit dem sie ihn verwechselt hat, ziemlich ähnlich sehen«, antwortete er. »Vorausgesetzt, die Begegnung hat wirklich stattgefunden. Aber wenn ich eine Sache von dir gelernt habe, dann die, dass unsere Aufgabe primär darin besteht, uns mit den Vorgängen im Kopf des Patienten auseinanderzusetzen. So gesehen ist es im Grunde gar nicht so wichtig, ob die Sache wirklich passiert ist oder nicht. Wir müssen uns vielmehr darauf konzentrieren, welche Bedeutung Alan selbst der Geschichte beimisst und aus welchem Grund er sie dir erzählt hat.«

Frieda runzelte die Stirn. Es war ein seltsames Gefühl, die eigenen Worte derart vorgekaut zu bekommen. Sie klangen dogmatisch und wenig überzeugend. »Nein«, entgegnete sie. »Es macht einen großen Unterschied, ob jemand – aus welchen Gründen auch immer – oft mit anderen verwechselt wird, oder ob er sich nur einbildet, mit anderen verwechselt zu werden. Meinst du nicht auch, dass es interessant wäre herauszufinden, ob die besagte Begegnung tatsächlich stattgefunden hat?«

»Interessant wäre es vielleicht schon«, entgegnete Jack, »aber es ist praktisch unmöglich. Du müsstest den ganzen Tag um den Victoria Park herumwandern und auf den unwahrscheinlichen Zufall hoffen, dass dir eine Frau über den Weg läuft, die zwei Tage zuvor mal in der Gegend war – und die du vermutlich nicht mal erkennen würdest, weil du nicht genau weißt, wie sie aussieht.«

»Ich hatte eigentlich gehofft, du würdest dich freiwillig melden«, sagte Frieda.

»Oh.« Jack war versucht, sie darauf hinzuweisen, dass das alles nichts mit seiner Ausbildung zu tun habe und dass es unprofessionell von ihr sei, ihn darum zu bitten. Außerdem waren seine Chancen, die Frau zu finden, gleich null, und selbst wenn er sie tatsächlich finden sollte, lohnte es die Mühe doch gar nicht. Er überlegte sogar einen Moment, ob es nicht irgendeine Vorschrift gab, die es einem Therapeuten untersagte, ohne Einwilligung des Patienten Nachforschungen über diesen anzustellen. Aber er hielt den Mund. Eigentlich freute es ihn ja, dass Frieda ihn darum bat. Auf eine seltsame Art freute es ihn sogar noch mehr, dass sie ihn bat, etwas so Ungewöhnliches für sie zu tun. Hätte es sich um normale zusätzliche Arbeit gehandelt, hätte er sie als lästige Pflicht empfunden. Diese Sache aber war ein bisschen ungehörig und hatte daher etwas Vertrauliches. Oder machte er sich da nur etwas vor?

»Na schön.«

»Sehr gut.«

»Frieda!«, rief eine Stimme hinter seinem Rücken, und bevor er sah, wer es war, registrierte er Friedas Miene, die sich schlagartig verfinsterte.

»Was machst du denn schon hier?«

Jack drehte sich um. Hinter ihm stand eine langbeinige junge Frau mit aschblondem Haar. Ihr Gesicht war stark geschminkt, wirkte unter der dicken Schicht Farbe aber noch sehr jung und unfertig.

»Ich komme zu meiner Chemiestunde. Du hast doch selbst gesagt, wir könnten uns zur Abwechslung heute mal hier treffen.« Neugierig musterte sie Jack, der prompt rot wurde.

»Du bist früh dran.«

»Das sollte dich doch eigentlich freuen.« Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch und zog ihre Handschuhe aus. Ihre Fingernägel waren abgekaut und dunkellila lackiert. »Draußen ist es so kalt. Ich brauche dringend was Warmes zu trinken. Willst du uns denn nicht vorstellen?«

»Jack wollte sowieso gerade aufbrechen«, antwortete Frieda kurz angebunden.

»Ich bin Chloë Klein.« Sie streckte ihm die Hand hin, und er schüttelte sie. »Friedas Nichte.«

»Jack Dargan«, stellte er sich vor.

»Woher kennt ihr beiden euch denn?«

»Das geht dich gar nichts an«, mischte Frieda sich hastig ein, »denn jetzt ist Chemie angesagt.« Sie nickte zu Jack hinüber. »Vielen Dank für deine Hilfe.«

Er verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und erhob sich.

»Es war nett, dich kennenzulernen«, sagte Chloë. Sie wirkte recht zufrieden mit sich.

 

Jack war in Hackney Wick ausgestiegen. Nach einem Blick auf seinen Stadtplan wandte er sich der Seite zu, wo der Grand Union Canal in östlicher Richtung vom Fluss Lea abzweigte. Er trug ein Sweatshirt, einen Pulli, eine Regenjacke, Fahrradhandschuhe und eine Wollmütze mit Ohrenklappen, bibberte aber trotzdem vor Kälte. Die Oberfläche des Kanals war mit einer Art körnigem Schneematsch überzogen, der sich noch nicht ganz zu Eis verhärtet hatte. Jack ging den Treidelpfad entlang, bis zu seiner Rechten das Parktor auftauchte. Er warf einen Blick auf die Notizen, die er sich zu Alans Geschichte gemacht hatte. Ein Stück weiter vorne konnte er den Spielplatz sehen. Der Wind, der ihm ins Gesicht wehte, war so eisig, dass er nicht mal mehr spürte, ob seine Wangen kalt oder heiß waren. Nichtsdestotrotz standen am Spielplatz Kinderwagen, und er sah dick vermummte kleine Gestalten herumsausen. Auf dem Tennisplatz waren sogar zwei Leute in Jogginganzügen zugange. Jack blieb stehen und spähte durch den Zaun. Zwei grauhaarige alte Männer droschen den Ball flach und hart hin und her. Jack war beeindruckt. Einer der beiden stürmte vor zum Netz, doch der andere lobbte den Ball über ihn hinweg. Der ausgetrickste Spieler raste zurück. Der Ball landete gerade noch im Feld.

»Aus!«, rief der andere laut. »Pech für dich!«

Jack hatte das Gefühl, als würden ihm in den Handschuhen die Finger gefrieren. Während er den Tennisplatz hinter sich ließ, zog er die Rechte aus dem Handschuh und schob sie unter sein Hemd, um sie an seiner Brust zu wärmen. Er bog nach links auf den Hauptweg ein. Rechter Hand entdeckte er den Bowlingplatz und kurze Zeit später auch den Musikpavillon und den Brunnen. Er blickte sich um. Hier war kaum jemand unterwegs. Lediglich ein paar Leute mit Hunden. Ein ganzes Stück weiter vorne machte er an der Parkseite eine Gruppe von Jugendlichen aus, die herumalberten und sich gegenseitig schubsten. Ansonsten trieb sich bei diesem Wetter kein vernünftiger Mensch draußen herum. Jack versuchte sich vorzustellen, wie Alan Dekker hier durch den Park marschiert war, um einen klaren Kopf zu kriegen. Falls das überhaupt den Tatsachen entsprach. Nun, da Jack selbst hier war, gelangte er allmählich zu der Überzeugung, dass Alan sehr wohl die Wahrheit gesagt hatte, oder zumindest eine Version davon. Die Einzelheiten über den Kanal, den Spielplatz und den Musikpavillon waren zu präzise. Warum hätte er sich die Mühe machen sollen, derart ins Detail zu gehen, wenn alles nur ein Traum war? Während Jack der heftige Nordwind um die Ohren pfiff, hatte er das Gefühl, ebenfalls einen klareren Kopf zu bekommen. In letzter Zeit hatte ihn die Aussicht, Therapeut zu werden, immer weniger befriedigt. War es wirklich so wichtig, des Langen und Breiten über jede Kleinigkeit zu sprechen? Führte dieses ganze Gerede nicht letztendlich dazu, dass man sich selbst zu sehr in die Probleme des Patienten verstrickte, während man ihm doch eigentlich helfen sollte, besser damit umzugehen? Vielleicht war das ein weiterer Grund, warum er sich bereit erklärt hatte, für Frieda Detektiv zu spielen. Es tat gut, sich in die Welt hinauszubegeben und zu überprüfen, ob Alan die Wahrheit gesagt hatte oder nicht. Wobei es andererseits fraglich war, ob es ihm überhaupt gelingen würde, irgendetwas in Erfahrung zu bringen.

Jack kam an der südlichen Ecke des Parks heraus, überquerte die Straße und schlenderte an den Läden entlang. Alles war genau so, wie Alan es beschrieben hatte. Als er die Eisenwarenhandlung erreichte, ging er sogar hinein. Es handelte sich um die Art Laden, von der er gedacht hatte, sie wäre längst ausgestorben. Es schien dort buchstäblich alles zu geben, was er für das Haus, das er sich mit ein paar Leuten teilte, längst hätte kaufen sollen, auch wenn er irgendwie nie dazugekommen war: metallene Spülschüsseln, Trittleitern, Schraubenzieher, Taschenlampen. Vielleicht sollte er demnächst mit dem Wagen eines Freundes hier vorbeifahren und eine Ladung von dem Zeug erstehen. Nach ein paar weiteren Schritten stand er vor dem Trödelladen mit der ausgestopften Eule im Fenster. Sie wirkte schmuddelig und verlor Federn. Während Jack sie betrachtete, schien sie mit ihren großen Glasaugen zurückzustarren. Jack versuchte sich vorzustellen, wie es wohl war, wenn man eine Eule schoss und dann ausstopfte. Er konnte kein Preisetikett entdecken. Wahrscheinlich stand sie gar nicht zum Verkauf.

Suchend blickte er sich um. Hier war Alan der Frau begegnet, falls das überhaupt stimmte. Er hatte behauptet, die Straße sei menschenleer gewesen, und dann sei plötzlich die Frau auf ihn zugekommen. Konnte es sein, dass sie hier irgendwo lebte? Jack trat einen Schritt zurück und ließ den Blick nach oben schweifen. Über den Läden schienen sich tatsächlich Wohnungen zu befinden, und zwischen den Ladenfronten gab es etliche Hauseingänge. Bei einigen der Häuser waren die Türen mit Brettern zugenagelt und darüber hingen »Zu verkaufen«-Schilder. Aber er konnte ja wohl kaum aufs Geratewohl überall klingeln, um zu sehen, ob ihm irgendwo eine vollbusige Blondine aufmachte. Beim nächsten Laden handelte es sich um eine Wäscherei mit einem Sprung im Fenster. Alan hatte nichts von Wäsche erwähnt, andererseits aber auch nicht gesagt, dass die Frau mit leeren Händen unterwegs gewesen sei. Dankbar atmete Jack den warmen Dampf ein, der ihm entgegenschlug, als er die Tür öffnete. Im hinteren Teil des Raums war eine Frau gerade damit beschäftigt, ein paar Kleidungsstücke zusammenzulegen. Als sie Jack bemerkte, trat sie auf ihn zu. Sie hatte schwarzes Haar und einen dunklen Leberfleck über der Lippe.

»Haben Sie was zu waschen?«, fragte sie.

»Eine Bekannte von mir war möglicherweise vor ein paar Tagen mal hier«, erklärte er, »eine Frau in einer orangeroten Jacke.«

»Nie gesehen.«

Jack ging durch den Kopf, dass er wegen des Leberflecks eigentlich etwas sagen sollte. Zunächst entschied er sich dagegen, überlegte es sich dann aber doch anders. »Ich bin übrigens Arzt. Diesen Leberfleck sollten Sie bei Gelegenheit anschauen lassen.«

»Was?«

Jack tippte auf eine Stelle über seinem Mund. »Am besten wäre es, ein Hautarzt würde mal einen Blick darauf werfen.«

»Kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Mist!«, fauchte die Frau.

»Ja, klar, Entschuldigung«, stammelte Jack und trat den Rückzug an. Nebenan gab es ein altmodisches, leicht schmuddelig wirkendes Café. Er ging hinein. Der einzige andere Gast war ein zahnloser alter Mann, der in einer Ecke laut und vernehmlich seinen Tee schlürfte. Er betrachtete Jack mit wässrigen Augen. Jack schaute auf sein Handy: zwanzig nach eins. Nachdem er sich niedergelassen hatte, schlurfte eine Frau mit einer blauen Nylonschürze auf seinen Tisch zu. Obwohl der Boden nicht allzu sauber wirkte, trug sie Hausschuhe. Jack blickte zur Tafel hoch und bestellte gebratene Eier, Schinkenspeck, Würstchen, gegrillte Tomaten, Pommes und eine Tasse Tee.

»Sonst noch was?«, fragte die Frau.

»Ich suche eine Frau, eine Blondine mit einer knallig orangeroten Jacke und viel Modeschmuck. Kennen Sie sie?«

»Was wollen Sie?« Die Frau sprach mit starkem Akzent.

Sie musterte ihn misstrauisch.

»Mich interessiert nur, ob sie schon mal hier war.«

»Sie sagen, Sie wollen Sie hier treffen?«

»Sie treffen?«

»Nicht hier!«

Nach einer ganzen Reihe weiterer derartiger Fragen und Antworten wusste Jack noch immer nicht, ob die Kellnerin die Frau kannte. Er war nicht mal sicher, ob sie seine Fragen überhaupt verstanden hatte. Als schließlich sein Essen gebracht wurde, überkam ihn ein ganz eigenartiges Gefühl von Freude. Eine solche Mahlzeit konnte er nur allein zu sich nehmen, an einem fremden Ort, wo ihn niemand kannte.

Gerade tunkte er seine letzten Pommes in einen Rest Eidotter und überlegte, was er als Nächstes tun solle, als er sie plötzlich sah. Zumindest sah er eine langhaarige Blondine in einer orangeroten Jacke und engen schwarzen Leggings am Fenster vorbeistöckeln. Einen Moment saß er wie gebannt da. Litt er neuerdings an Halluzinationen, oder hatte er sie tatsächlich gerade gesehen? Und wenn ja, was sollte er jetzt tun? Er konnte sie nicht einfach ziehen lassen. Dies war das richtige Leben. Er musste sie ansprechen. Aber wie? Was sollte er bloß zu ihr sagen? Er sprang so ungestüm auf, dass ein wenig Tee auf die fettigen Überreste seines Essens schwappte, und durchwühlte seine Taschen nach Kleingeld. Vor lauter Eile warf er viel zu viele Münzen auf den Tisch. Ein paar sprangen davon und fielen zu Boden. Ohne auf die Rufe der Kellnerin zu achten, stürmte er hinaus. Er konnte die Frau noch sehen. Zwischen den Grau- und Brauntönen der anderen Passanten leuchtete ihre Jacke wie ein greller Farbfleck.

Keuchend rannte er hinter ihr her. Obwohl sie so hohe Absätze trug, legte sie ein erstaunliches Tempo an den Tag und wackelte dabei auch noch mit den Hüften. Als er näher kam, bemerkte er, dass sie keine Strümpfe trug und geschwollene Füße hatte. Ihre Sandalen machten den Eindruck, als wären sie ihr eine Nummer zu klein. Sobald er sie eingeholt hatte, legte er ihr eine Hand auf den Arm. »Entschuldigen Sie!«

Als sie sich umdrehte, lief ihm ein Schauder über den Rücken. Er hatte mit einer Frau gerechnet, die jung und schön oder zumindest sexy war – jedenfalls hatte er das aus Alans Geschichte herausgelesen. Aber diese Frau war nicht jung. Sie hatte einen Hängebusen, ihr Gesicht war von Falten und Furchen durchzogen, und unter dem dick aufgetragenen Make-up wirkte ihre Haut blass. An der Stirn hatte sie einen Ausschlag. Ihre schwarz umrandeten, von dick getuschten Wimpern umrahmten Augen wiesen rote Flecken auf. Auf Jack machte sie einen müden, kranken und mitgenommenen Eindruck. »Was kann ich für dich tun, Süßer?« Sie verzog das Gesicht zu einem angedeuteten Lächeln.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach so anspreche. Ich wollte Sie nur etwas fragen.«

»Ich heiße Heidi.«

»Also … Heidi … ich … es ist schwer zu erklären, aber …«

»Du bist einer von der schüchternen Sorte, was? Für dreißig Pfund blase ich dir einen.«

»Ich wollte nur kurz mit Ihnen sprechen.«

»Sprechen?« Er spürte ihren kühlen Blick und lief knallrot an. »Wir können uns gerne unterhalten, wenn du möchtest«, fuhr sie fort, »aber es kostet trotzdem dreißig Pfund.«

»Es geht doch nur um …«

»Dreißig Pfund.«

»Ich glaube nicht, dass ich so viel bei mir habe.«

»War wohl eine spontane Idee von dir, mich aufzuhalten, was? Da vorne ist ein Bankautomat.« Sie deutete in die Richtung. »Danach kannst du mich gerne besuchen kommen, wenn du immer noch reden möchtest. Ich wohne in 41 B. Oberste Klingel.«

»Ich glaube, Sie haben mich missverstanden.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Dreißig Pfund, und ich verstehe dich so gut, wie du nur willst.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und überquerte die Straße.

Jack schaute ihr nach. Am liebsten hätte er auf der Stelle das Weite gesucht. Aus irgendeinem Grund schämte er sich. Andererseits konnte er jetzt ja wohl kaum kneifen, nachdem er sie tatsächlich gefunden hatte. Also ging er zum Bankautomaten, hob vierzig Pfund ab und begab sich dann zu Nummer 41 B. Die Wohnung lag über einer ehemaligen Halal-Metzgerei, die einem Schild zufolge inzwischen zugemacht hatte. Die heruntergelassenen Metallrollläden zierten Graffiti. Jack holte tief Luft. Er hatte das Gefühl, dass alle Passanten ihn anstarrten und in sich hineingrinsten, während er den obersten Klingelknopf drückte. Heidi betätigte den Türöffner.

Sie trug ein weit ausgeschnittenes, lindgrünes Oberteil. Laut Alan roch sie nach Hefe, doch nun war sie eindeutig mit Parfüm eingesprüht. Außerdem hatte sie sich die Lippen frisch nachgezogen und ihr Haar gebürstet.

»Komm rein und setz dich.«

Jack betrat ein kleines, schummrig beleuchtetes Wohnzimmer, in dem eine drückende Hitze herrschte. Die violetten Vorhänge waren zugezogen. An der gegenüberliegenden Wand hing über einem großen, niedrigen Sofa eine Reproduktion der Mona Lisa. Auf jedem freien Fleck standen Porzellanfigürchen.

»Ich sollte vorab gleich klarstellen, dass ich nicht das bin, wofür Sie mich halten«, verkündete Jack mit viel zu lauter Stimme, nachdem er sich gesetzt hatte. »Ich bin Arzt.«

»Schon gut.«

»Ich würde Sie gerne etwas fragen.«

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Ihr Blick wurde wachsam und misstrauisch. »Du bist gar kein Freier?«

»Nein.«

»Was willst du dann von mir? Ich brauche keinen Arzt. Ich bin gesund, und clean bin ich auch, falls du das meinst.«

Jack wusste sich langsam keinen Rat mehr. »Sie kennen da so einen Mann«, sagte er, »mit rotem Haar.«

Heidi ließ sich aufs Sofa sinken. Jack fiel auf, wie müde sie wirkte. Sie griff nach einer Flasche süßem Dubonnet, der neben ihren Füßen auf dem Boden stand, goss ein kleines Glas bis zum Rand voll und kippte es so schnell hinunter, dass ihre Kehle sichtlich Mühe damit hatte. An ihrem Kinn schimmerte eine schmale Speichelspur. Sie griff nach der Schachtel Zigaretten, die vor ihr auf dem Tisch lag, zündete sich eine an und inhalierte gierig. Sofort hing Rauchgeruch in der drückend heißen Luft.

»Sie haben ihn kürzlich auf der Straße geküsst.«

»Was du nicht sagst!«

Jack zwang sich weiterzusprechen, obwohl er sich so unbehaglich fühlte, dass er nervös auf seinem Platz herumrutschte. Er sah sich selbst plötzlich mit den Augen dieser Heidi. Vermutlich wirkte er auf sie wie ein verklemmter, ein wenig linkischer junger Mann, der seine pubertären Ängste in Bezug auf Frauen trotz seines Alters und Berufs noch nicht abgelegt hatte. Er spürte die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Seine Haut juckte, als würde seine Kleidung plötzlich kratzen.

»Sie haben ihn auf der Straße getroffen und geküsst. Ungefähr auf Höhe des Cafés und des Ladens mit der Eule im Fenster.«

»Soll das ein schlechter Witz sein?«

»Nein.«

»Wer schickt dich?«

»Nein, wirklich, Sie verstehen mich falsch – aber mein Freund, der Mann mit dem roten Haar, er war sehr überrascht, und deswegen wollte ich nachfragen …«

»Der Drecksack.«

»Wie bitte?«

»Dein Kumpel. Du hast seltsame Freunde, das muss ich schon sagen. Aber wenigstens zahlt er. Es macht ihm Spaß, Frauen zu bezahlen. Das gibt ihm das Recht, uns wie Dreck zu behandeln.«

»Alan?«

»Was?«

»Er heißt Alan.«

»Nein, so heißt er nicht.«

»Wie nennt er sich denn bei Ihnen?«

Heidi schenkte sich ein weiteres randvolles Glas Dubonnet ein und kippte es hinunter.

»Bitte.« Er zog das Geld aus seiner Hosentasche, nahm eine Zehnpfundnote und reichte ihr den Rest.

»Dean Reeve. Aber wenn du ihm sagst, dass du das von mir hast, werde ich dafür sorgen, dass du es bereust, das schwöre ich dir.«

»Ich sag es ihm nicht. Wissen Sie zufällig, wo er wohnt?«

»Ich hab ihn ein einziges Mal dort besucht, als seine Frau nicht da war.«

Jack durchwühlte seine Jackentasche und fand einen Stift und eine alte Quittung. Er reichte Heidi beides, woraufhin sie ihm auf der Rückseite der Rechnung die Adresse notierte.

»Was hat er angestellt?«

»Das weiß ich noch nicht so genau«, antwortete Jack.

Bevor er ging, drückte er ihr seinen letzten Zehnpfundschein in die Hand. Am liebsten hätte er sich bei ihr entschuldigt, auch wenn ihm selbst nicht so ganz klar war, wofür.

 

Er saß gegenüber einem kahlköpfigen Mann, der seinen Schnurrbart mit Pomade in Form gebracht hatte und eine Zeitschrift über Waffen las. Nachdem Jack bei Frieda angerufen und ihr berichtet hatte, dass Alans geheimnisvolle Frau tatsächlich existierte, hatte sie darauf bestanden, sofort bei ihm vorbeizukommen. Jack hatte schwach protestiert: Er wollte nicht, dass sie wusste, wo er wohnte. Mit Schrecken dachte er daran, wie es dort ausgesehen hatte, als er an diesem Morgen aus dem Haus gegangen war. Außerdem fragte er sich besorgt, welche seiner Mitbewohner da sein und was sie wohl zu Frieda sagen würden. Zu allem Überfluss blieb der Zug auch noch eine Weile in einem Tunnel stehen – ein Personenunfall, verkündete der Lautsprecher. Als er schließlich seinen Schlüssel ins Schloss schob, sah er sie bereits die Straße entlangkommen. Obwohl es schon dunkel wurde und Frieda wegen der Kälte warm angezogen war, hätte er sie überall sofort erkannt – allein an der Art, wie sie ging, aufrecht und zielstrebig. Sie wusste genau, was sie wollte, dachte er, und empfand dabei ein plötzliches Hochgefühl, weil er erfolgreich gewesen war und etwas für sie in Erfahrung hatte bringen können.

Sie erreichte ihn, als er gerade die Tür aufschob. Die Diele war voller Schuhe, und auf dem Boden lagen stapelweise Werbesendungen herum. An der Wand lehnte ein Fahrrad, an dem sie sich mühsam vorbeiquetschen mussten. Von oben schallte laute Musik nach unten.

»Es könnte ein bisschen unordentlich sein«, erklärte er.

»Das macht nichts.«

»Ich weiß nicht, ob noch Milch da ist.«

»Ich brauche keine Milch.«

»Die Heizung funktioniert auch nicht so richtig.«

»Ich bin warm angezogen.«

»In der Küche ist geheizt.« Nachdem er jedoch einen Blick hineingeworfen hatte, zog er schnell den Kopf wieder zurück. »Ich glaube, im Wohnzimmer ist es doch gemütlicher«, meinte er. »Ich schalte den Heizlüfter an.«

»Das ist schon in Ordnung, Jack«, beruhigte ihn Frieda. »Ich möchte nur ganz genau hören, was passiert ist.«

»Es war unglaublich«, antwortete Jack.

Im Wohnzimmer sah es fast so schlimm aus wie in der Küche. Er betrachtete es durch Friedas Augen: Das Sofa war ein schreckliches Lederding, das ihnen die Eltern eines Mitbewohners zum Einzug geschenkt hatten. Entlang der einen Armlehne verlief ein breiter Riss, aus dem weiße Flusen quollen. Die Wände waren in einem hässlichen Grün gestrichen. Im ganzen Raum lagen verstreut Flaschen, Tassen, Teller und seltsame Kleidungsstücke herum. Auf dem Fensterbrett standen ein paar vertrocknete Blumen. Seine Squashtasche lag offen vor ihnen – mit einem schmutzigen Shirt und einem zusammengerollten Paar Socken obenauf. Das anatomisch korrekte Skelett, das er seit seinem ersten Studienjahr besaß, stand – behängt mit blinkendem Christbaumschmuck – mitten im Raum. Auf seinem Schädel türmten sich mehrere Hüte, und von seinen langen Fingern hing ein Spitzenslip. Rasch fegte Jack die Zeitschriften vom Tisch und griff nach einem auf dem Sofa liegenden Mantel, um sie damit zu bedecken. Wäre Frieda seine Therapeutin gewesen, hätte er ihr von dem Chaos erzählen können, in dem er hauste und das auch ihm selbst ein wenig das Gefühl gab, sein Leben nicht ganz unter Kontrolle zu haben. Wäre er derjenige gewesen, der besagte Zeitschriften las (was nicht der Fall war, auch wenn er hin und wieder einen verstohlenen Blick darauf warf), hätte er auch darüber mit ihr sprechen und ihr erklären können, dass er sich vorkam, als befände er sich in einer Art Schwebezustand zwischen seinem alten Studentenleben und jener Erwachsenenwelt, die er immer nur mit anderen in Verbindung brachte, aber nie mit sich selbst. Er wäre also durchaus in der Lage gewesen, ihr das Durcheinander in seiner Seele zu beschreiben. Er wollte nur nicht, dass sie es mit eigenen Augen sah.

»Setz dich doch. Entschuldige, lass mich das wegräumen.« Er nahm den Laptop und die Ketchupflasche vom Stuhl. »Das ist nur eine Übergangslösung«, bemerkte er. »Ein paar von meinen Mitbewohnern sind ein bisschen unordentlich.«

»Ich habe auch mal studiert«, antwortete Frieda.

»Wir sind aber keine Studenten mehr«, gab Jack zu bedenken. »Ich bin Arzt, oder zumindest etwas Ähnliches, und Greta ist Buchhalterin, auch wenn es nicht danach aussieht.«

»Du hast die Frau gefunden«, kam Frieda auf ihr eigentliches Thema zu sprechen.

»Ja.« Jacks Miene hellte sich auf. »Kaum zu glauben, oder? Ich hatte schon fast aufgegeben, da sah ich sie plötzlich. Wobei mich ihr Aussehen ehrlich gesagt ein bisschen irritiert hat. Eigentlich ergibt das alles gar keinen rechten Sinn – einerseits war sie die Frau, von der Alan dir erzählt hat, aber … na ja, andererseits war sie es auch wieder nicht. Nicht wirklich.«

»Von Anfang an«, befahl Frieda.

Jack erzählte ihr in allen Einzelheiten, was er erlebt hatte. Während er sein Gespräch mit der Frau so wörtlich wiedergab, wie er nur konnte, hörte Frieda ihm konzentriert zu. Als er fertig war, schwiegen sie beide eine Weile.

»Und?«, fragte Jack schließlich.

Die Tür ging auf, und ein Gesicht lugte herein. Bei Friedas Anblick zog es sich anzüglich grinsend wieder zurück. Jack wurde bis unter die Haarwurzeln rot.

»Sie hat ihn Drecksack genannt?«, hakte Frieda nach.

»Ja. Wobei sie allerdings behauptete, sein Name sei Dean.«

»Alles, was Alan gesagt hat, entsprach also der Wahrheit.« Frieda schien jetzt mehr mit sich selbst zu reden als mit Jack. »All die Dinge, von denen er dachte, dass sie möglicherweise nur in seinem Kopf existierten, spielten sich sehr wohl in der realen Welt ab. Er hat sie nicht erfunden. Aber die Frau – die er angeblich noch nie gesehen hatte – kannte ihn.«

»Sie kannte diesen Dean Reeve«, stellte Jack richtig, »zumindest hat sie das behauptet.«

»Warum sollte sie lügen?«

»Ich glaube nicht, dass sie gelogen hat.«

»Sie hat alles, was er gesagt hat, bestätigt – mit dem einzigen Unterschied, dass es sich ihr zufolge um jemand anderen handelte.«

»Hm.«

»Lügt er uns an? Und wenn ja, weswegen?«

»Sie war nicht die glamouröse Frau, mit der ich gerechnet hatte«, erklärte Jack. Es war ihm peinlich, über Heidi zu reden, aber er wollte Frieda wissen lassen, wie er sich gefühlt hatte, als er in dem stickigen, unangenehm süßlich riechenden Raum stand und versuchte, nicht an all die Männer zu denken, die schon die schmale Treppe zu ihr hinaufgestiegen waren. Er erinnerte sich an die roten Flecken in Heidis Augen, wobei ihm leicht übel wurde, als wäre das seine Schuld.

»Ein paar ehemalige Kollegen von mir kümmern sich um Prostituierte«, brach Frieda das Schweigen. Dabei sah sie Jack an, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Die meisten von ihnen sind suchtkrank, werden misshandelt und haben kein Geld. So ein Leben hat nicht viel Glamouröses.«

»Alan geht also unter dem Namen Dean zu Prostituierten, schafft es dir gegenüber aber nicht, das offen zuzugeben, sondern muss es in diese seltsame Geschichte verpacken, die ihn von jeder Verantwortung entbindet und die Frau weniger wie ein Opfer wirken lässt. So lautet doch deine Theorie, oder?«

»Es gibt eine Möglichkeit herauszufinden, ob sie stimmt.«

»Ich könnte dich begleiten.«

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich das allein mache«, entgegnete Frieda. »Du hast mir sehr geholfen, Jack. Ich weiß das zu schätzen und bin dir wirklich dankbar dafür. Vielen Dank.«

Er murmelte irgendetwas Unverständliches. Sie wusste nicht so recht, ob er sich über ihr Lob freute oder enttäuscht war, weil sie ihn nicht mitnahm.