19

Mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung trat Frieda in ihr Haus und ließ die Einkaufstüte zu Boden fallen, während sie Mantel und Schal ablegte. Draußen war es kalt und dunkel, die Luft roch nach Frost und dem nahenden Winter, aber drinnen war es gemütlich. Im Wohnzimmer brannte Licht, und die Scheite fürs Kaminfeuer waren bereits aufgeschichtet. Sie heizte an, ehe sie mit der Tüte in die Küche ging. Reuben sagte immer, es gebe zwei Sorten von Köchen: den Künstler und den Wissenschaftler. Er war eindeutig der Künstlertyp, der wild improvisierte, während sie selbst zur wissenschaftlichen Sorte zählte, die es beim Kochen ganz genau nahm und fast schon pedantisch jede Anweisung des Rezepts bis ins Kleinste befolgte. Ein gestrichener Teelöffel gehörte tatsächlich gestrichen. Wenn ein Rezept Rotweinessig vorschrieb, kam auch kein anderer in Frage, und ein bestimmter Kuchenteig musste auf die Minute genau eine Stunde im Kühlschrank bleiben. Frieda kochte nur sehr selten. Sandy war der Koch in ihrer Beziehung gewesen, aber jetzt… Nein, sie wollte nicht an Sandy denken, weil das zu wehtat – wie ein schlagartig einsetzender Zahnschmerz, der ihr den Atem raubte. Während sie die Zutaten auf ihrer Platte anordnete, versuchte sie sich nicht vorzustellen, wie er mit seinen Töpfen, Pfannen und Holzlöffeln hantierte, um sich ein Ein-Personen-Menü zu brutzeln. Bei ihr stand heute ein eher schlichtes Rezept auf dem Programm, das Chloë ihr aus unerfindlichen Gründen gemailt hatte, mit der dringenden Bitte, es möglichst bald auszuprobieren: Blumenkohlcurry mit Kichererbsensalat. Skeptisch studierte sie die Anleitung.

Sie band ihre Schürze um, wusch sich die Hände, ließ die Jalousie herunter und begann gerade, die Zwiebeln zu schneiden, als es an der Tür klingelte. Sie erwartete niemanden, und unangemeldete Besucher standen bei ihr nur höchst selten vor der Tür – mal abgesehen von dem einen oder anderen jungen Mann, der ihr mit aufgesetztem Lächeln Staubtücher andrehen wollte, zwanzig Stück für einen Fünfer. Vielleicht war es ja Sandy. Wünschte sie sich das? Sofort fiel ihr wieder ein, dass er es gar nicht sein konnte, weil er an diesem Morgen mit dem Eurostar zu einer Konferenz nach Paris aufgebrochen war. Noch wusste sie über all seine Termine Bescheid und konnte sich daher vorstellen, wie er das Leben weiterlebte, aus dem sie sich verabschiedet hatte, aber schon bald würde sich das ändern. Er würde Dinge tun, von denen sie nichts wusste, Leute treffen, die sie weder vom Sehen noch vom Hören kannte, Klamotten tragen, in denen sie ihn nie zu Gesicht bekommen hatte, und Bücher lesen, die er nicht mehr mit ihr diskutierte.

Als es erneut klingelte, legte sie das Messer beiseite, spülte sich die Hände mit kaltem Wasser ab und ging zur Tür.

»Komme ich ungelegen?«, fragte Karlsson.

»Könnte man so sagen.«

»Hier draußen ist es ziemlich kalt.«

Frieda trat einen Schritt zurück und ließ ihn vorbei. Ihr fiel auf, wie sorgfältig er sich an ihrer Türmatte die Schuhe abputzte – ziemlich elegante schwarze Exemplare mit blauen Schnürsenkeln –, ehe er seinen schwarzen, regengesprenkelten Mantel neben den ihren hängte.

»Sie waren gerade beim Kochen.«

»Brillant. Jetzt weiß ich, warum Sie Detective geworden sind.«

»Ich werde Ihre Zeit nur ganz kurz in Anspruch nehmen.«

Sie führte ihn in das Wohnzimmer, wo das Feuer noch recht zögerlich brannte und kaum Wärme abstrahlte. Frieda kauerte sich vor den Kamin und blies ein paarmal vorsichtig in die Flammen, ehe sie gegenüber Karlsson Platz nahm und bedächtig die Hände im Schoß verschränkte. Ihm fiel auf, wie kerzengerade sie dasaß, während sie ihrerseits bemerkte, dass einer seiner Schneidezähne leicht angeschlagen war. Sie fand das insofern bemerkenswert, als Karlsson ansonsten sehr penibel auf sein Äußeres zu achten schien, ja fast ein wenig dandyhaft wirkte: Zu seinem weichen, anthrazitgrauen Jackett trug er ein schönes weißes Hemd und eine rote Krawatte, die so schmal war, dass sie auf seiner Brust eine Art ironischen Streifenakzent setzte.

»Geht es um Alan?«, fragte sie.

»Ich dachte mir, Sie würden vielleicht gerne wissen, was bei seiner Überprüfung herausgekommen ist.«

»Haben Sie mit ihm gesprochen?«

Sie setzte sich noch aufrechter hin. Obwohl sie keine Miene verzog, wirkte sie auf Karlsson ein wenig angespannt, vermutlich, weil sie mit einer schlechten Nachricht rechnete. Sie war blasser als bei ihrem ersten Gespräch und sah außerdem müde aus. Er fand, dass sie einen unglücklichen Eindruck machte.

»Ja. Mit ihm und mit seiner Frau.«

»Und?«

»Er hat mit dem Verschwinden von Matthew Faraday nichts zu tun.«

Er spürte, wie sie sich entspannte.

»Sind Sie sicher?«

»Matthew ist am Freitag, den dreizehnten November, verschwunden. Ich glaube, Mr. Dekker hatte an diesem Nachmittag einen Termin bei Ihnen.«

Frieda überlegte einen Moment.

»Ja. Bis zehn vor drei.«

»Seine Frau sagt, sie habe sich gleich darauf mit ihm getroffen. Die beiden sind zusammen nach Hause. Kurz nachdem sie dort eintrafen, schaute jemand aus der Nachbarschaft vorbei und blieb auf eine Tasse Tee. Wir haben das überprüft.«

»Dann wäre das ja geklärt.« Frieda biss sich auf die Unterlippe und verkniff sich die Frage, die ihr auf der Zunge brannte. »Das Ganze war für die beiden ein ziemlicher Schock«, erklärte Karlsson.

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Sie fragen sich vermutlich, was ich zu ihnen gesagt habe.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Ich habe behauptet, wir würden eine Routinebefragung durchführen.«

»Was bedeutet das?«

»Es ist nur so eine Phrase.«

»Ich werde es ihm selbst sagen.«

»Das dachte ich mir.« Karlsson streckte die Beine vor dem Kaminfeuer aus, das inzwischen fröhlich vor sich hin knisterte. Er wünschte sich halb, Frieda würde ihm eine Tasse Tee oder ein Glas Wein anbieten, sodass er eine Weile in diesem Kokon aus schummrig beleuchteter Wärme bleiben konnte, aber sie machte keine Anstalten in diese Richtung. »Er ist ein eigenartiger Typ, nicht? So verspannt. Aber nett. Seine Frau mochte ich auch.«

Frieda zuckte mit den Achseln. Sie hatte keine Lust, über Alan zu reden. Vermutlich hatte sie auch so schon genug Schaden angerichtet. »Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe«, bemerkte sie in sachlichem Ton.

»Das braucht Ihnen nicht leidzutun.« Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Träume sind doch laut Freud am tiefgründigsten, wenn sie am verrücktesten scheinen.‹«

»Sie kommen mir mit Freud

»Selbst Polizisten lesen hin und wieder mal ein Buch.«

»Ich halte Träume nicht für tiefgründig. Eigentlich kann ich es nicht ausstehen, wenn die Leute mir ihre Träume erzählen, als handelte es sich dabei um magische Fabeln. Aber in diesem Fall…« Sie brach ab. »Nun ja, ich habe mich getäuscht. Und darüber bin ich froh.«

Karlsson erhob sich, und Frieda folgte seinem Beispiel.

»Ich lasse Sie zurück an Ihre Kochtöpfe.«

»Darf ich Sie noch etwas fragen?«

»Was denn?«

»Geht es dabei um Joanna Vine?«

Karlsson starrte sie einen Moment verblüfft an, dann wurde sein Blick misstrauisch.

»Sie brauchen gar nicht so überrascht zu schauen. Vor zweiundzwanzig Jahren, darauf sind Sie angesprungen. Ich brauchte nur fünf Minuten im Netz, um es herauszufinden. Dabei bin ich am Computer nicht mal besonders gut.«

»Sie haben recht«, antwortete er. »Irgendwie war das… nun ja, ich weiß auch nicht, ein seltsamer Zufall.«

»Und damit ist die Sache jetzt erledigt?«

»Sieht ganz danach aus.« Er zögerte. »Darf ich Sie auch noch etwas fragen?«

»Schießen Sie los.«

»Wie Sie sicher wissen, leben wir in einem Zeitalter, in dem viele Firmen Aufträge an externe Mitarbeiter vergeben.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.«

»Sie wissen ja, wie das läuft: Man hat in den Büchern weniger Personal stehen, auch wenn es am Ende mehr kostet. Selbst wir bei der Polizei müssen mit bestimmten Dingen Außenstehende beauftragen.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie mir vielleicht eine zweite Meinung liefern könnten. Natürlich gegen Honorar.«

»Eine zweite Meinung wozu?«

»Könnten Sie sich vorstellen, ein Gespräch mit der großen Schwester von Joanna Vine zu führen? Sie war damals neun und sollte eigentlich auf Joanna aufpassen, als diese verschwand.«

Frieda sah Karlsson nachdenklich an. Er machte einen leicht verlegenen Eindruck. »Warum ich? Sie wissen doch gar nichts über mich, und bestimmt haben Sie für solche Fälle Ihre eigenen Leute.«

»Das stimmt natürlich. Es war nur so eine Idee von mir. Ein Bauchgefühl.«

»Ein Bauchgefühl!« Frieda musste lachen. »Das klingt ja nicht sehr rational.«

»Ist es auch nicht. Und Sie haben recht, ich kenne Sie nicht, aber Sie haben da eine Verbindung gesehen …«

»Eine falsche Verbindung, wie sich herausgestellt hat.«

»Tja, das kann passieren.«

»Sie müssen ganz schön verzweifelt sein«, stellte Frieda fest, klang dabei aber nicht unfreundlich.

»In den meisten Fällen läuft alles ganz glatt. Man führt eine Routineermittlung durch und folgt dabei den üblichen Regeln. Man verfügt über Blutspuren, Fingerabdrücke, DNA, Aufzeichnungen aus Überwachungskameras und Zeugen. Die Lösung liegt mehr oder weniger auf der Hand. Hin und wieder aber hat man es mit einem Fall zu tun, auf den sich die üblichen Regeln irgendwie nicht anwenden lassen. Matthew Faraday hat sich einfach in Luft aufgelöst, und es gibt keinerlei Hinweise. Wir haben keinen einzigen Anhaltspunkt. Also müssen wir nehmen, was wir kriegen können – jedes Gerücht, jede Idee, jede mögliche Verbindung mit einem anderen Verbrechen, egal, wie unwahrscheinlich sie auch erscheinen mag.«

»Mir ist trotzdem noch nicht klar, was ich da zuwege bringen sollte, was ein anderer nicht auch könnte.«

»Vermutlich gar nichts. Wie gesagt, es war nur so eine Idee von mir, und wahrscheinlich bekomme ich dafür nur eine auf den Deckel, weil ich öffentliche Gelder verschwende, indem ich die Arbeit unnötigerweise zweimal machen lasse. Aber wer weiß, vielleicht finden Sie ja etwas heraus, das jemand anderer nicht herausfinden würde. Außerdem kommen Sie von außen. Möglicherweise fallen Ihnen Dinge auf, für die wir blind geworden sind, weil wir uns schon so lange und so intensiv damit beschäftigen.«

»Diese Idee, die Sie da hatten …«

»Ja?«

»Wegen der Schwester.«

»Ihre Name ist Rose Teale. Die Mutter hat noch einmal geheiratet.«

»Hat sie etwas gesehen?«

»Angeblich nicht. Aber sie macht den Eindruck, als wäre sie vor lauter Schuldgefühlen wie gelähmt.«

»Ich weiß nicht so recht«, meinte Frieda.

»Sie meinen, Sie wissen nicht so recht, ob Sie helfen können ?«

»Das kommt darauf an, was Sie unter helfen verstehen. Wenn ich Sie so reden höre, würde ich der Frau am liebsten helfen, über ihre Schuldgefühle hinwegzukommen und ihr Leben weiterzuleben. Aber wahrscheinlich wollen Sie eher von mir wissen, ob ich der Meinung bin, dass sie irgendwo in ihrem Gedächtnis eine Erinnerung versteckt hat, die man aufspüren könnte? Ich glaube nicht, dass das Gedächtnis tatsächlich so einfach funktioniert. Jedenfalls ist das nicht mein Ding.«

»Was ist dann Ihr Ding?«

»Den Leuten zu helfen, besser mit ihren Ängsten, Begierden, Neidgefühlen und Sorgen fertig zu werden.«

»Wie wäre es, wenn Sie zur Abwechslung mal mithelfen würden, einen verschwundenen Jungen zu finden?«

»Was ich meinen Patienten bieten kann, ist ein geschützter Raum.«

Karlsson blickte sich um. »Sie haben es hier sehr schön«, bemerkte er. »Ich kann gut verstehen, dass Sie keine Lust haben, diese Oase der Ruhe zu verlassen und sich ins Chaos der Welt zu stürzen.«

»Das Chaos im Kopf eines anderen Menschen ist auch nicht unbedingt ungefährlich, das dürfen Sie mir glauben.«

»Würden Sie trotzdem über meinen Vorschlag nachdenken?«

»Sicher. Aber rechnen Sie nicht damit, von mir zu hören.«

An der Tür sagte er: »Unsere Berufe sind recht ähnlich.«

»Finden Sie?«

»Bei Ihnen geht es genau wie bei mir um Symptome, Anhaltspunkte, lauter solche Dinge.«

»Ich sehe da kaum Parallelen.«

 

Nachdem er gegangen war, kehrte Frieda in die Küche zurück. Sie teilte den Blumenkohl gerade in einzelne Rosetten auf, wie in Chloës Rezept beschrieben, als es erneut an der Tür klingelte. Sie hielt inne und lauschte. Das war bestimmt nicht noch einmal Karlsson. Olivia konnte es auch nicht sein, denn die klopfte und klingelte immer gleichzeitig oder schrie obendrein auch noch ein energisches Juu-huu durch den Briefschlitz. Während Frieda die Pfanne mit den Zwiebeln von der Platte nahm, ging ihr durch den Kopf, dass sie ohnehin keinen großen Hunger hatte. Im Grunde brauchte sie nur ein paar Cracker mit Käse. Oder gar nichts, nur eine Tasse Tee, und dann ab ins Bett – auch wenn sie wusste, dass sie sowieso nicht schlafen konnte.

Sie öffnete die Tür einen Spalt weit, ließ die Kette aber vorgelegt.

»Wer ist da?«

»Ich bin’s.«

»Wer ist ich?«

»Ich bin’s, Josef.«

»Josef?«

»Mir ist kalt.«

»Was wollen Sie hier?«

»Sehr kalt.«

Friedas erster Impuls war, ihm zu sagen, er solle Leine ziehen, und ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Was fiel ihm ein, hier einfach bei ihr auf der Matte zu stehen? Dann überkam sie plötzlich wieder jenes Gefühl, mit dem sie sich schon herumschlug, seit sie ein Mädchen war. Sie stellte sich vor, dass jemand sie prüfend betrachtete, ein Urteil über sie fällte und ihr Tun kommentierte. Was würde die betreffende Person jetzt wohl sagen? »Nun seht euch diese Frieda an. Sie ruft diesen armen Kerl an und bittet ihn um einen Gefallen, und er tut sofort, was sie will, ohne Fragen zu stellen. Dann kommt er durchgefroren und einsam zu ihr, aber sie schlägt ihm die Tür vor der Nase zu.« Manchmal wünschte Frieda, diese imaginäre Person möge einfach verschwinden.

»Na, dann kommen Sie mal rein.«

Frieda löste die Kette und öffnete die Tür.

Ein schneidender Wind fegte aus der Dunkelheit in ihre Diele, begleitet von Josef.

»Woher wissen Sie überhaupt, wo ich wohne?«, fragte sie misstrauisch. Als er ihr das Gesicht zuwandte, zog sie scharf die Luft ein. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

Josef antwortete nicht gleich, ging stattdessen in die Knie und versuchte seine Schnürsenkel aufzuknüpfen, die zu einem komplizierten und noch dazu klatschnassen Knoten verschlungen waren.

»Josef?«

»Ich darf keinen Dreck in Ihr schönes Haus tragen.«

»Das macht doch nichts.«

»Na bitte.« Er zog einen dicken Stiefel aus, dessen Sohle sich bereits löste. Seine roten Socken hatten ein Rentiermuster. Er wandte sich dem zweiten Stiefel zu. Frieda betrachtete währenddessen sein Gesicht. Die linke Wange war blau und geschwollen, und an seiner Stirn klaffte eine Platzwunde. Nun hatte er auch den zweiten Stiefel geschafft. Nachdem er ihn ordentlich neben den ersten an die Wand gestellt hatte, richtete er sich auf.

»Kommen Sie.« Frieda führte ihn in die Küche. »Setzen Sie sich.«

»Sind Sie gerade am Kochen?«

»Nicht Sie auch noch!«

»Bitte ?«

»Ich wollte, bin aber irgendwie wieder davon abgekommen.« Sie ließ kaltes Wasser über ein zusammengelegtes Handtuch laufen und reichte es ihm. »Drücken Sie das gegen Ihre Wange, und lassen Sie mich einen Blick auf Ihren Kopf werfen. Ich werde die Wunde erst einmal säubern. Das wird ein bisschen brennen.«

Als sie ihm das Blut von der Stirn wischte, blickte Josef starr geradeaus. Frieda sah den wilden Ausdruck in seinen Augen. Was ihm wohl durch den Kopf ging? Er roch nach Schweiß und Whisky, kam ihr aber nicht richtig betrunken vor.

»Was ist passiert?«

»Da waren ein paar Männer.«

»Sind Sie in eine Schlägerei geraten?«

»Sie haben mich angeschrien und geschubst. Ich habe zurückgeschubst.«

»Geschubst?«, wiederholte Frieda entgeistert. »Josef, Sie müssen vorsichtiger sein. Eines Tages zieht einer ein Messer.«

»Die haben mich einen verdammten Polen genannt.«

»Das ist es doch gar nicht wert«, meinte Frieda. »Das ist es nie wert.«

Josef blickte sich um. »London«, sagte er, »da ist es nicht überall so wie in Ihrem schönen Haus. Jetzt können wir zusammen Wodka trinken«

»Ich habe keinen Wodka da.«

»Whisky? Bier?«

»Ich kann Ihnen einen Tee machen, bevor Sie wieder gehen.« Sie betrachtete die Wunde an seiner Stirn, die immer noch ein wenig blutete. »Ich klebe Ihnen da ein Pflaster drauf. Es braucht wahrscheinlich nicht genäht zu werden. Sie könnten allerdings eine kleine Narbe zurückbehalten.«

»Wir helfen uns gegenseitig«, stellte er fest. »Sie sind meine Freundin.«

Frieda überlegte, ob sie widersprechen sollte, aber es erschien ihr zu kompliziert.

Er wusste, dass die Katze nicht wirklich eine Katze war, sondern eine Hexe, die nur so tat, als wäre sie eine Katze. Sie sah grau aus und nicht schwarz wie meistens in den Büchern, und sie hatte dicke Fellklumpen am Körper hängen. Normale Katzen besaßen solche Klumpen nicht. Ihre Augen waren gelb und starrten ihn an, ohne zu blinzeln. Sie hatte eine raue Zunge und Krallen, die ihn kratzten. Manchmal tat sie, als würde sie schlafen, aber dann ging plötzlich ein gelbes Auge auf, und er merkte, dass sie ihn die ganze Zeit beobachtet hatte. Wenn Matthew auf seiner Matratze lag, kletterte sie auf seinen nackten Rücken und schlug ihm die Krallen in die Haut, und ihr schmutziges graues Fell brachte seine Nase zum Jucken. Sie lachte ihn aus.

Wenn die Katze da war, konnte Matthew nicht aus dem Fenster schauen. Es war sowieso schwer hinauszusehen, weil seine Beine so zitterten und das Licht hinter der Jalousie seine Augen blendete, das Licht aus einer anderen Welt. Das lag daran, dass er sich in etwas anderes verwandelte. Er verwandelte sich in Simon. Er hatte rote Flecken auf der Haut. Im Mund hatte er auch Flecken. Sie brannten, wenn er Wasser trank. Die eine Hälfte von ihm war Matthew, die andere Simon. Er hatte das Essen hinuntergeschluckt, das ihm in den Mund geschoben wurde. Kalte Bohnen und labberige fette Pommes, die ihn an Würmer erinnerten.

Wenn er den Kopf gleich neben seiner Matratze auf den Boden presste, konnte er Geräusche hören. Ein leises Scheppern. Böse Stimmen. Etwas Brummendes. Einen Moment lang erinnerte es ihn an vorher, als er noch ganz war und seine Mummy – als sie noch seine Mummy war und er ihre Hand noch nicht losgelassen hatte – das Haus putzte und alles so machte, dass ihm nichts passieren konnte.

Als er heute durch die untere Ecke des Fensters spähte, hatte sich die Welt schon wieder verändert. Nun war sie weiß und glänzend, und eigentlich hätte sie schön sein sollen, aber ihm tat der Kopf weh, und Schönheit war nur grausam.