28

Frieda hatte für diesen Vormittag sämtliche Patiententermine abgesagt, kam aber rechtzeitig zurück, um ihre Nachmittagssitzungen wahrnehmen zu können, einschließlich der mit Alan. Während sie zu ihrer Praxis marschierte, hatte sie das Gefühl, immer noch nach Dean Reeves Haus zu riechen: nach kaltem Rauch und Katzenscheiße. Die Dämmerung brach bereits herein. Nur noch drei Tage bis zum kürzesten Tag des Jahres. Aus dem Schneefall des Vormittags war mittlerweile ein Schneeregen geworden, der auf der Straße zu matschigen Rinnsalen schmolz. Frieda hatte in ihren Stiefeln feuchte Füße, und ihre Haut fühlte sich wund an. Sie sehnte sich nach ihrem Haus, ihrem Sessel am Kaminfeuer.

Alan war der Letzte ihrer Patienten. Sie hatte sich vor dem Wiedersehen mit ihm gefürchtet, ihm mit fast körperlichem Widerwillen entgegengeblickt und musste sich noch einmal wappnen, als er schließlich zur Tür hereinkam. Sein Gesicht war von der Kälte ganz rot, und auf seinem Dufflecoat zeichneten sich dunkle Wasserflecken ab. Obwohl Frieda unter den langen Ärmeln ihres Pullis vor Anspannung die Fäuste ballte, zwang sie sich, ihn in ruhigem Ton aufzufordern, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Sein Gesicht sah nicht anders aus als bei ihrem letzten Treffen, und auch nicht anders als das des Mannes, dem sie ein paar Stunden zuvor begegnet war. Es fiel ihr schwer, ihn nicht offen anzustarren. Sollte sie ihm sagen, was sie wusste? Aber wie konnte sie das? Was sollte sie sagen? Ich habe ohne Ihr Wissen und Einverständnis in Ihrem Leben herumgeschnüffelt, weil ich herausfinden wollte, ob das, was Sie mir innerhalb dieser vier Wände unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut haben, der Wahrheit entsprach, und bei der Gelegenheit herausgefunden, dass Sie einen eineiigen Zwilling haben? Oder wusste er das schon? War das sein Geheimnis, das er sowohl ihr als auch seiner Frau verschwieg? War da womöglich irgendeine seltsame Verschwörung im Gange?

»Was soll ich machen, wenn ich Weihnachten nicht zurechtkomme ?«

Er sprach mit ihr. Sie bemühte sich, seine Worte zu verstehen und ihm eine vernünftige Antwort zu geben. In seiner unsicheren Stimme schwang für sie die ganze Zeit die kräftigere, fast ein wenig spöttisch klingende von Dean Reeve mit. Bei der Begegnung mit Dean hatte sie Alan in ihm gesehen, und nun sah sie in Alan Dean. Ihre Sitzung war schon wieder vorüber, Alan bereits aufgestanden und zwängte seinen stämmigen Körper mühsam in den Dufflecoat, um anschließend mit größter Sorgfalt die Knebelverschlüsse zu schließen. Zum Abschied dankte er Frieda und erklärte, er wüsste gar nicht, wie er das alles ohne sie durchstehen sollte, woraufhin sie ihm steif die Hand schüttelte. Nun, da er endlich weg war, ließ sie sich erschöpft in ihren Sessel zurücksinken und presste die Finger an die Schläfen.

 

Dean stand auf der anderen Straßenseite und rauchte eine weitere Zigarette. Obwohl er dort schon seit fast zwei Stunden wartete, war sie bisher nicht herausgekommen. Wenn sie endlich kam, würde er ihr folgen und sehen, wohin das führte, aber in ihrem Zimmer brannte immer noch Licht, und gelegentlich konnte er durchs Fenster schemenhafte Gestalten ausmachen. Er schaute sich jede Person, die das Gebäude betrat oder verließ, ganz genau an. Manche waren wegen des Schneeregens so vermummt, dass er ihre Gesichter nicht sehen konnte. Ihm selbst machte das kalte, scheußliche Wetter nicht so viel aus. Er gehörte nicht zu den Waschlappen, die keine nassen Füße bekommen durften und schon bei den ersten Regentropfen den Schirm aufspannten oder sich in die Eingänge der Läden und Büros drängten, um zu warten, bis es wieder aufhörte.

Auf der anderen Straßenseite ging erneut die Tür auf, und eine Gestalt kam heraus. Er selbst kam heraus. Als der Mann sich umblickte, war sein Gesicht ganz deutlich zu erkennen. Es bestand kein Zweifel. Dean erstarrte. Reglos blieb er stehen, bis die Gestalt fast außer Sichtweite war. Dann breitete sich auf seinem Gesicht plötzlich ein Lächeln aus, und er streckte eine Hand in Richtung des Mannes aus, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war, als könnte er ihn auf diese Weise zurückholen.

Na so was. Ma, du verschlagener alter Fuchs!

 

Frieda blieb zehn Minuten mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel sitzen, ohne sich ein einziges Mal zu bewegen. Sie versuchte, wieder Ordnung in das Durcheinander ihrer Gedanken zu bringen. Dann stand sie abrupt auf, zog ihren Mantel an, schaltete das Licht aus, drehte zweimal den Schlüssel im Schloss um und ging.

Ihr Weg führte sie schnurstracks zu Reubens Haus. Sie zweifelte nicht daran, dass er da sein würde. Er und Josef hatten sich angewöhnt, abends immer gemeinsam Bier und Wodka zu trinken und sich dabei irgendeine Quizsendung anzusehen. Reuben schrie die Antworten laut hinaus, und jedes Mal, wenn er richtig lag, prostete Josef ihm bewundernd zu.

Wider Erwarten stand Reuben allein in der Küche und briet sich ein Omelett. Von Josef war nichts zu sehen, obwohl sein alter weißer Lieferwagen vor der Tür parkte, und zwar mit dem Vorderreifen auf dem Gehsteig.

»Er ist oben«, erklärte Reuben.

»Allein?«

Reuben grinste Frieda herausfordernd an, fast als wollte er sie zu einer missbilligenden Bemerkung provozieren. Sie warf einen Blick auf das Foto von Josefs Frau und Söhnen, das immer noch per Magnet an der Kühlschranktür befestigt war. Mit ihrer steifen Pose, ihrer altmodischen Kleidung und den dunklen Augen sahen die drei aus, als gehörten sie in eine ganz andere Welt. »Ich wollte sowieso erst mit dir reden. Ich brauche deinen Rat.«

»Seltsam, dass du den ausgerechnet jetzt brauchst, wo ich als Ratgeber nicht gerade in Bestform bin.«

»Es ist etwas passiert.«

Während Frieda zu erzählen begann, verspeiste Reuben sein Omelett gleich direkt aus der Bratpfanne. Hin und wieder schüttelte er Tabascosoße darüber oder griff nach seinem Glas, um einen Schluck Wasser zu trinken. Nach einer Weile aber hörte er zu essen auf, legte seine Gabel beiseite und schob die Pfanne von sich weg. Während des gesamten Rests der Geschichte verhielt er sich mucksmäuschenstill, auch wenn Frieda in den kurzen Pausen das Gefühl hatte, oben ein Bett ächzen zu hören.

»So«, sagte sie, als sie fertig war. »Wie denkst du darüber?«

Reuben stand auf. Er ging zu seiner neu eingebauten Terrassentür und blickte auf den matschigen, ungepflegten Garten hinaus. In der Dunkelheit waren nur die von Schnee und Nässe niedergedrückten Formen der Büsche und ein paar kahle Bäume auszumachen und dahinter die beleuchteten Fenster einer anderen Küche. Das Ächzen im oberen Stockwerk schien aufgehört zu haben. Reuben drehte sich um.

»Du hast eine Grenze überschritten«, meinte er grinsend. Aus unerfindlichen Gründen schien ihn das sehr heiter zu stimmen.

»Nicht nur eine, sondern gleich mehrere.«

»Also, ich denke folgendermaßen darüber: Erstens solltest du zur Polizei gehen. Was das betrifft, lasse ich kein Nein gelten.« Er zählte die Punkte an den Fingern ab: »Zweitens solltest du Alan alles sagen, was du über ihn weißt, und drittens solltest du mit diesem Experten aus Cambridge sprechen. Die Reihenfolge ist mir egal, Hauptsache, du machst das alles möglichst schnell.«

»Ja, gut.«

»Ach – und viertens, melde dich selbst zu einer Therapiesitzung an. Ich war ja schließlich nicht dein einziger Tutor. Hast du noch zu jemandem aus der alten Riege Kontakt?«

»Da fällt mir nur eine Tutorin ein, die ich recht gern mochte, aber die habe ich als Betreuerin schon vor Jahren auf Eis gelegt.«

»Vielleicht ist es an der Zeit, sie wieder aufzutauen. Jedenfalls solltest du dich wegen der Sache nicht so quälen. Das passt nicht zu dir.«

Frieda erhob sich. »Eigentlich wollte ich Josef fragen, ob er mich nach Cambridge fährt, aber es ist wohl kein besonders guter Zeitpunkt, ihn darum zu bitten.«

»Ich glaube, die sind schon fertig.« Reuben ging hinaus in die Diele und rief durchs Treppenhaus nach oben: »Josef! Hast du mal eine Minute?«

Oben war eine gedämpfte Antwort zu hören, und kurz darauf kam Josef barfuß die Treppe herunter. Als er Frieda entdeckte, schaute er leicht betreten drein.

 

Frieda ging durch den Regent’s Park zurück, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Der kalte Nordwind fühlte sich gut an, als würde er ihre Gedanken ersticken. Nachdem sie die Euston Road überquert hatte, machte sie einen kurzen Abstecher in einen Laden und kaufte sich eine Packung Nudeln, ein Glas Soße, einen Beutel Salat und eine Flasche Rotwein. Zu Hause angekommen, suchte sie gerade nach ihrem Schlüssel, als sie plötzlich erschrocken zusammenzuckte, weil jemand sie an der Schulter berührte.

»Alan«, stieß sie hervor, »was, zum Teufel, machen Sie hier?«

»Es tut mir leid. Ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Ich konnte nicht warten.«

Frieda blickte sich hilflos um. Sie kam sich vor wie ein wildes Tier, das ein Jäger bis zu seinem Bau zurückverfolgt hatte. »Sie kennen die Regeln«, sagte sie, »wir müssen uns daran halten.«

»Ich weiß, ich weiß, aber …«

Sein Ton klang flehend. Sein Dufflecoat war falsch zugeknöpft, sein Haar zerzaust. Sein Gesicht wirkte von der Kälte fleckig. Frieda hielt inzwischen ihren Schlüssel in der Hand und brauchte ihn nur noch ins Schloss zu stecken. Sie hatte viele Regeln, aber die wichtigste – diejenige, die sie auf keinen Fall verletzen wollte –, besagte, nie einen Patienten in ihr Haus zu lassen. Es war der Wunschtraum eines jeden Patienten, sich Zutritt zu ihrem Leben zu verschaffen und herauszufinden, wie sie wirklich war – um sie dadurch irgendwie zu fassen zu kriegen und bei ihr das Gleiche zu versuchen, was sie bei ihren Patienten versuchte: hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Andererseits hatte sie bereits so viele Regeln gebrochen, dass es darauf nun auch nicht mehr ankam.

Sie schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.

»Fünf Minuten«, sagte sie.

 

Er betrachtete seine Hand. Die Finger hatten sich in dürre Zweige verwandelt. Niemand würde ihn nun noch essen wollen. Auch seine schmutzigen nackten Füße waren keine Füße mehr, sondern Wurzeln, die langsam in die Erde krochen. Bald würde er sich nicht mehr bewegen können, da war er sich ganz sicher.

Aber sie rissen ihn hoch und wickelten ihn ein. Er spürte, wie seine Zweige knackten und seine Wurzeln in einen Sack gesteckt wurden. Dann stopften sie ihm den Mund mit Erde voll und versenkten ihn in neuer Dunkelheit. Das kleine Schwein musste zum Markt. Wer würde eine Goldmünze für ihn zahlen? Er wurde gepackt und hochgehoben, woraufhin er noch tiefer in den Sack sank und die Stimmen keuchten und grobe Worte sagten. Die Hexe rief, dass Simon sagte, Simon sagte, aber Simon sagte gar nichts, denn sein Mund war verschlossen, und er hatte keine Stimme mehr.

Holterdipolter, holterdipolter. Dann lag er plötzlich auf etwas Hartem, und über ihm knallte etwas. Die Dunkelheit wurde noch dunkler, und es gab einen neuen Geruch, ölig und tief. Er hörte ein lautes Husten, ein Prusten und dann ein Summen, das klang wie das Geräusch, das die Hexenkatze machte, wenn sie ihm die Krallen in seine wunde Haut schlug, nur lauter. Sein Körper prallte auf und ab. Mehrere Male schlug sein Kopf gegen den harten Untergrund.

Dann lag er wieder ganz still. Er hörte ein Klicken und spürte, wie grobe Finger durch den Sack nach ihm tasteten – auf der Suche nach seiner Schulter, seinem weichen Oberschenkel. Er wusste, dass sein Körper sich auflöste, denn er spürte, wie der Schmerz durch ihn strömte wie ein Fluss und dabei in jede Ritze von ihm drang. Das Wort für »warum?« hatte er vergessen, und auch an das Wort für »bitte« konnte er sich nicht mehr erinnern. Es war nichts mehr übrig. Kein Matthew. Holterdipolter über den Boden. Kalt. So kalt. Kalt wie Feuer. Etwas klapperte und ruckte, dann keuchten die Stimmen wieder, und plötzlich wurde er aus dem Sack gezogen.

Zwei Gesichter in der Finsternis. Münder, die sich öffneten und schlossen. Simon sagte, aber er konnte nicht sprechen. Sie schoben ihn in ein Loch. War das ein Ofen? Obwohl seine Finger inzwischen Zweige waren, Eiszapfen, viel zu scharfkantig, um gegessen zu werden? Aber es konnte gar kein Ofen sein, denn da war keine Hitze, sondern nur eine pochende, kalte Dunkelheit. Sein Mund wurde freigelegt, und er öffnete ihn, aber es kam nichts heraus. Nur Atem.

»Einen einzigen Laut, und du wirst in kleine Stücke geschnitten und an die Vögel verfüttert«, verkündete die Stimme des Hexenmeisters. »Hörst du?«

Hörte er? Nun hörte er jedenfalls nichts mehr, außer dem Geräusch eines Steins, der über den Boden geschleift wurde. Dann war schwarze Nacht, kalte Nacht, stille Nacht und verlorene Nacht, und nur sein Herz sagte noch etwas. Wie eine Trommel unter seiner trockenen Haut. Ich-bin, ich-bin, ich-bin.