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Wie immer?«, fragte Alan. »Sie wollen, dass ich einfach darauflosrede?«

»Nein«, entgegnete Frieda, »heute möchte ich mit Ihnen über ein besonderes Thema sprechen. Über Geheimnisse.«

»Was das betrifft, habe ich jede Menge zu bieten. Wie sich gerade herausstellt, hatte ich von den meisten Geheimnissen in meinem Leben selbst keine Ahnung.«

»Solche Geheimnisse meine ich nicht. Ich meine solche, von denen Sie wissen

»Welche Art Geheimnisse?«

»Was ist beispielsweise mit denen, die Sie vor Carrie haben?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Jeder Mensch braucht Geheimnisse«, antwortete Frieda, »sogar in einer ganz engen Beziehung. Man braucht persönlichen Freiraum. Ein abschließbares Zimmer, einen Schreibtisch, vielleicht auch nur eine Schublade.«

»Sie meinen, eine Schublade, in der ich meine Pornohefte aufbewahre?«

»Zum Beispiel«, bestätigte Frieda. »Haben Sie eine solche Schublade?«

»Nein. Ich habe das nur gesagt, weil es so ein Klischee ist.«

»Klischees existieren, weil sie immer einen wahren Kern haben. Selbst wenn Sie tatsächlich in irgendeiner Schublade ein paar Pornohefte aufbewahren würden, wäre das doch kein Verbrechen.«

»Ich habe keine Pornohefte. Weder in einer Schublade noch in einer Schachtel, und auch nicht im Garten vergraben. Ich weiß nicht, was Sie von mir hören wollen. Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss, aber ich habe vor Carrie keine Geheimnisse. Ich habe ihr sogar ausdrücklich gesagt, dass sie jederzeit einen Blick in meine Schubladen, meine Post oder meine Brieftasche werfen darf. Ich habe vor ihr nichts zu verbergen.«

»Vielleicht ist ›Geheimnis‹ das falsche Wort. Lassen Sie es mich anders nennen«, sagte Frieda. »Was mir vorschwebt, ist eine Art andere Welt, in die Sie sich zurückziehen können. Nennen wir es mal ein Hobby. Viele Männer haben ein Hobby und einen besonderen Raum, in den sie gehen können, um es auszuüben. So eine Art Zufluchtsort, ein Refugium. Sie verschwinden in ihren Schuppen und bauen Flugzeugmodelle oder die Tower Bridge aus Zündholzern.«

»Sie sagen das, als wäre es etwas Dummes.«

»Ich versuche nur, es möglichst harmlos klingen zu lassen. Ich versuche herauszufinden, wie Sie sich Ihren persönlichen Freiraum schaffen. Haben Sie einen Gartenschuppen?«

»Ich weiß zwar nicht, worauf Sie hinauswollen, aber ich habe tatsächlich einen Schuppen, allerdings mit Carrie zusammen. Ich habe ihn selbst gebaut und bin gerade erst damit fertig geworden. Wir bewahren dort ein paar Werkzeuge auf und mehrere Kisten mit irgendwelchem Krimskrams. Der Schlüssel hängt neben der Tür, durch die man in den Garten gelangt. Wir haben beide Zugang dazu.«

»Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, Alan. Mich interessiert lediglich, ob Sie ein stilles Plätzchen haben, an das Sie sich zurückziehen können, wenn Sie persönlichen Freiraum brauchen. Es geht mir überhaupt nicht darum, Ihnen irgendwelche Heimlichkeiten nachzuweisen. Ich möchte nur, dass Sie mir folgende Frage beantworten: Gab es in Ihrem Leben jemals einen Ort, der sich nicht dort befand, wo Sie lebten, und an den Sie sich zurückziehen konnten, um irgendeinem Hobby nachzugehen oder einfach nur allein zu sein? Einen Ort, von dem kein anderer Mensch etwas wusste? Wo niemand Sie finden konnte?«

»Ja«, antwortete Alan. »Als ich noch ein Teenager war, hatte ein Freund von mir, Craig, eine angemietete Garage, in der er einen Wagen und ein Motorrad stehen hatte. Da bin ich immer hin und habe mit ihm zusammen an dem Motorrad herumgebastelt. Zufrieden?«

»Genau so etwas habe ich gemeint«, antwortete Frieda. »War das für Sie so eine Art Zuflucht?«

»Man kann sich so ein Motorrad ja wohl kaum ins Wohnzimmer stellen, oder?«

Frieda atmete tief durch. Sie versuchte seine Feindseligkeit zu ignorieren. »Gab es noch etwas anderes in der Art?«

Alan überlegte einen Moment. »Mit neunzehn oder zwanzig habe ich viel an Automotoren herumgeschraubt. Ein Freund von mir hatte eine kleine Werkstatt unten in Vauxhall. Im Grunde war es nur ein Verschlag unter einer Eisenbahnbrücke. Ich habe einen Sommer lang für ihn gearbeitet.«

»Sehr gut«, sagte Frieda. »Ein Verschlag unter einer Eisenbahnbrücke. Eine angemietete Garage. Gab es sonst noch einen Ort, wo Sie hin sind, wenn Sie mal von zu Hause wegwollten?«

»Als Kind bin ich manchmal in einen Jugendklub gegangen, so eine Art Hütte am Rand einer Wohnsiedlung. Da haben wir immer Tischtennis gespielt. Ich war darin nie besonders gut.«

Frieda überlegte einen Moment. Ihr war klar, dass das alles viel zu sehr an der Oberfläche blieb und sie auf diese Weise nicht weiterkam. Bis vor ein paar Wochen hatte Alan nicht gewusst, dass er ein Zwilling war. Nun wusste er es. Die Quelle war kontaminiert, wie Seth Boundy gesagt hätte. Er war nicht mehr unbefangen, sondern spielte für sie eine Rolle. Vielleicht musste sie ihn ein bisschen austricksen.

»Ich möchte, dass Sie sich etwas vorstellen«, sagte sie. »Wir haben ja gerade davon gesprochen, dass man gelegentlich einen Ort braucht, wo man hinkann, wenn man zu Hause mal rausmöchte. Wohin man sich zurückziehen kann. Eine Art Zuflucht. Ich möchte, dass Sie sich jetzt etwas vorstellen, zum Beispiel, dass Sie doch ein Geheimnis hätten. Sie hätten etwas, das niemand sehen dürfte und das Sie zu Hause nirgendwo verbergen könnten. Wo würden Sie es verstecken? Denken Sie nicht rational darüber nach. Lassen Sie Ihr Herz entscheiden oder Ihren Bauch. Was fällt Ihnen da spontan ein?«

Zunächst kam keine Reaktion. Alan schloss die Augen. Dann riss er sie plötzlich wieder auf und starrte Frieda mit einem gehetzten Ausdruck an. »Ich weiß, warum Sie das fragen. Es geht dabei gar nicht um mich, oder?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie spielen ein Spiel mit mir. Sie benutzen mich, um etwas über ihn herauszufinden.«

Frieda schwieg.

»Sie stellen mir diese Fragen nicht, weil Sie mir helfen wollen, meine Probleme zu lösen, sondern weil Sie sich davon irgendeinen Anhaltspunkt für die Suche nach dem kleinen Jungen erhoffen. Irgendetwas, womit Sie zur Polizei gehen können.«

»Sie haben recht«, antwortete Frieda schließlich. »Das war wahrscheinlich nicht richtig von mir. Nein, es war definitiv falsch. Aber es hätte ja durchaus etwas Hilfreiches dabei herauskommen können. Deswegen dachte ich, wir sollten es zumindest versuchen.«

»Wir?«, wiederholte Alan. »Was meinen Sie mit ›wir‹? Ich war der Meinung, ich käme zu Ihnen, um zu lernen, besser mit meinen Problemen umzugehen. Ich dachte, Sie stellen mir Fragen, um mich zu heilen. Sie kennen mich doch! Ich würde alles tun, um zur Rettung dieses Jungen beizutragen. Sie dürfen alle Ihre Experimente mit mir machen, damit habe ich kein Problem. Schließlich geht es um einen kleinen Jungen. Aber Sie hätten es mir sagen sollen. Sie hätten es mir verdammt noch mal sagen sollen!«

»Das konnte ich nicht«, entgegnete Frieda. »Wenn ich es Ihnen gesagt hätte, dann hätte es nicht funktioniert – wobei es natürlich auch so nicht funktioniert hat. Es war nur so eine Idee von mir, aus der Not geboren. Ich wollte einfach wissen, was Ihnen spontan dazu einfällt.«

»Sie haben mich benutzt«, sagte Alan.

»Ja, ich habe Sie benutzt.«

»Damit die Polizei anfangen kann, in angemieteten Garagen und unter Eisenbahnbrücken nach ihm zu suchen.«

»Ja.«

»Wo sie ihn vermutlich ohnehin schon suchen.«

»Ja, vermutlich.«

Es folgte eine weitere Pause.

»Ich glaube, damit hätte sich das erledigt«, sagte Alan.

»Wir vereinbaren einen neuen Termin«, schlug Frieda vor, »einen richtigen.«

»Darüber muss ich erst nachdenken.«

Sie standen beide ziemlich verlegen auf. Wie zwei Menschen, die gerade festgestellt hatten, dass sie zufällig zur selben Zeit eine Party verlassen wollten.

»Ich habe noch ein paar Weihnachtseinkäufe zu erledigen«, erklärte Alan. »Auf diese Weise kann ich die restliche Zeit wenigstens noch sinnvoll nutzen. Von hier aus ist es ja nicht weit bis zur Oxford Street, oder?«

»Zu Fuß brauchen Sie etwa zehn Minuten.«

»Gut.«

Frieda begleitete Alan zur Tür und hielt sie ihm auf. Im Gehen wandte er sich noch einmal um. »Ich habe meine Familie gefunden«, meinte er, »aber es ist keine besonders beglückende Familienzusammenführung.«

»Was haben Sie sich davon erwartet?«

»Und schon bricht wieder die Therapeutin durch.« Alan bedachte sie mit einem kleinen Lächeln. »Ich habe darüber nachgedacht. Im Grunde habe ich mir wohl gewünscht, was man manchmal in Filmen sieht oder in Büchern liest: wenn die Leute ans Grab ihrer Eltern und Großeltern gehen, um mit ihnen zu reden oder einfach nur an sie zu denken. Wobei meine Mutter natürlich noch am Leben ist. Wahrscheinlich wird es mir leichter fallen, mit ihr zu reden, wenn sie erst mal tot ist. Dann kann ich wenigstens so tun, als wäre sie gewesen, was sie niemals war – eine Mutter, die einem zuhört und einen versteht, wenn man ihr sein Herz ausschüttet. Das würde ich mir wünschen: neben einem Grab zu liegen und mit meinen Vorfahren zu reden. Natürlich passiert das im Film meistens auf einem besonders idyllischen Friedhof, an einem Berghang oder so.«

»Wir wünschen uns alle eine Familie.«

»Das klingt wie ein Spruch aus einem dieser Knallbonbons, die wir Engländer an Weihnachten so gern aufmachen«, meinte Alan, »also genau passend für die Jahreszeit.«