41
In der U-Bahn herrschte das übliche abendliche Gedränge. Während der gesamten Rückfahrt sprachen sie kein einziges Wort miteinander. Als Frieda schließlich die Tür ihres Hauses aufschloss, hörte sie das Telefon klingeln. Es war Karlsson.
»Ich habe Ihre Handynummer nicht«, erklärte er.
»Ich habe kein Handy«, antwortete Frieda.
»Sie gehören wohl nicht zu den Ärzten, die man in einem Notfall verständigt.«
»Was gibt es Neues?«
»Deswegen rufe ich an. Reeve und Partnerin sind seit etwa einer halben Stunde wieder auf freiem Fuß.«
»Sie konnten die beiden nicht länger festhalten?«
»Ein bisschen hätten wir es vielleicht noch hinauszögern können, wenn wir wirklich gewollt hätten. Aber ist es nicht besser, wenn sie wieder draußen sind? Vielleicht macht er ja einen Fehler. Vielleicht führt er uns zu seinem Versteck.«
Frieda überlegte einen Moment. »Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte sie. »Bei meinem Gespräch mit ihm hatte ich nicht das Gefühl. Es kam mir eher so vor, als hätte er seine Entscheidung bereits getroffen.«
»Wenn er einen Fehler macht, erwischen wir ihn.«
»Dem ist doch klar, dass Sie ihn beschatten. Wahrscheinlich genießt er das inzwischen sogar. Dank uns hat er jetzt das Gefühl, Macht zu besitzen. Er weiß, was wir durchmachen. Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas tun oder ihm geben könnten, woran er genauso viel Freude hätte.«
»Für Sie ist es ja nicht so tragisch«, sagte Karlsson. »Sie haben Ihre Arbeit, die Sie ablenkt.«
»Sie sagen es«, antwortete Frieda. »Für mich ist es nicht tragisch.«
Im Anschluss an dieses Gespräch starrte Frieda erst einmal eine ganze Weile ins Leere. Dann ging sie nach oben und starrte aus ihrem Schlafzimmerfenster auf die zum Teil mit Schnee bedeckten Dächer. Es war ein kalter, klarer Abend. Sie ließ sich ein Bad einlaufen und blieb fast eine Stunde in der Wanne. Danach zog sie sich an und stieg in ihr Speicherstübchen hinauf, wo sie sich an ihr Zeichenbrett setzte. Wann hatte sie das letzte Mal hier gesessen? Wann hatte sie das letzte Mal Zeit für sich gehabt? Sie konnte sich nicht erinnern. Nachdenklich griff sie nach ihrem weichen Bleistift und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, machte aber keine Anstalten zu zeichnen. Sie musste wieder an Matthew denken, der irgendwo dort draußen in der eisigen Kälte lag, möglicherweise noch am Leben und voller Angst, höchstwahrscheinlich aber längst tot. Und an Kathy Ripon, die an die falsche Tür geklopft hatte. Daran, dass Dean und Terry als freie Bürger das Polizeirevier verlassen hatten.
Am Ende legte sie ihren Bleistift auf das leere Blatt und ging wieder nach unten. Sie machte im Wohnzimmer Feuer und wartete, bis die ersten Flammen an den Kohlen leckten. Dann ging sie in die Küche, wo sie im Kühlschrank einen noch halb vollen Behälter mit Kartoffelsalat fand. Sie aß ihn gleich im Stehen, ans Fenster gelehnt. Anschließend nahm sie ein Glas aus dem Waschbecken, spülte es aus und goss ein wenig Whisky hinein. Sie trank ihn ganz langsam, in der Hoffnung, auf diese Weise ein wenig Zeit totzuschlagen. Sie wünschte, diese Nacht wäre bereits vorüber. Das Telefon schrillte.
»Sie dachten wohl, nun hätten Sie eine Weile Ruhe vor mir?«
»Karlsson?«
»Natürlich, wer sonst.«
»Sie vergessen wohl, dass Sie sich an einem Telefon befinden. Ich kann Sie schließlich nicht sehen.«
»Hat Reeve versucht, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen?«, fragte er.
»Nicht seit Ihrem letzten Anruf.«
»Immerhin stand er schon einmal vor Ihrer Tür.«
»Was ist los?«
»Wir haben sie verloren.«
»Wen, sie?«
»Reeve. Und seine Terry.«
»Ich dachte, Sie beschatten die beiden.«
»Ich muss mich vor Ihnen nicht rechtfertigen.«
»Mir ist völlig egal, vor wem Sie sich rechtfertigen müssen oder nicht. Ich wundere mich nur, wie so etwas passieren kann.«
»Tja, was soll ich sagen? Menschenmassen in der U-Bahn, kombiniert mit ein bisschen verflucht schlechter Polizeiarbeit. Vielleicht hatten die beiden es darauf angelegt, uns zu entwischen. Vielleicht auch nicht, keine Ahnung. Jedenfalls habe ich keinen blassen Schimmer, was sie nun vorhaben.«
Frieda warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Bereits nach Mitternacht. »Sie werden wohl kaum nach Hause gehen, oder doch?«
»Möglich wäre es. Warum nicht? Sie stehen nicht unter Anklage. Außerdem ist es mitten in der Nacht. Wo sollten sie sonst hin?«
Frieda zwang sich nachzudenken. »Möglicherweise ist das Ganze ja sogar ein Glücksfall«, meinte sie. »Vielleicht werden sie jetzt leichtsinnig, weil sie sich unbeobachtet fühlen.«
»Ich weiß nicht«, antwortete Karlsson. »Ich weiß nicht mal genug, um irgendwelche Mutmaßungen anzustellen. Wahrscheinlich spielt es auch gar keine Rolle mehr. Welche Verstecke kommen denn in Frage? Wenn sie den Jungen und die Frau in irgendeiner verlassenen Wohnung gefesselt in einen Schrank gesperrt haben, wie lange können sie dann ohne Wasser überleben? Wenn sie nicht sowieso längst … na ja, Sie wissen schon. Jedenfalls könnte es sein, dass er Kontakt zu Ihnen aufnimmt. Es sind schon seltsamere Dinge passiert. Seien Sie vorbereitet.«
Nachdem Frieda aufgelegt hatte, schenkte sie sich zwei weitere Fingerbreit Whisky ein und kippte ihn hinunter. Sie spürte das vertraute Brennen in der Kehle, das sie dennoch jedes Mal aufs Neue verblüffte. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, doch das Feuer war ausgegangen, und der Raum fühlte sich kalt und trist an. Ihr war klar, dass sie dringend Schlaf brauchte, doch die Vorstellung, sich wieder mit offenen Augen im Bett herumzuwälzen, während ihr all die Bilder durch den Kopf wirbelten, machte ihr Angst. Sie legte sich für eine Weile aufs Sofa und deckte sich mit einer Wolldecke zu, doch an Schlaf war nicht zu denken. Stattdessen wurde sie immer wacher, und eine nervöse Unruhe ergriff von ihr Besitz. Schließlich stand sie wieder auf und ging in die Küche, von wo sie in ihren kleinen Garten hinaustrat. Obwohl die kalte Luft sie keuchen ließ und ihr die Tränen in die Augen trieb, empfand Frieda sie gleichzeitig auch als sehr wohltuend. Die Kälte riss sie aus ihrem Delirium der Erschöpfung, klärte ihren Kopf und schärfte ihre Sinne. Ohne Mantel und Handschuhe stand sie da, bis sich ihr Gesicht schon ganz steif anfühlte und sie es nicht mehr ertragen konnte. Erst dann kehrte sie ins Haus zurück.
Sie ging hinaus in die Diele und trat vor den Stadtplan, den sie neben der Tür hängen hatte. Da sie in dem schwachen Licht nicht alle Details und Straßennamen erkennen konnte, riss sie ihn von der Wand und nahm ihn mit ins Wohnzimmer, wo sie ihn auf dem Tisch ausbreitete und das Deckenlicht einschaltete. Selbst das reichte nicht aus. Sie holte die Leselampe, die sie neben dem Bett stehen hatte, trug sie ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Stadtplan. Dann holte sie einen Bleifstift und zeichnete ein Kreuz auf die Straße, wo Dean Reeve lebte. Plötzlich hatte sie das schwindelerregende Gefühl, an einem völlig wolkenfreien Tag in einem Flugzeug zu sitzen und aus einer Höhe von knapp einem Kilometer auf London hinunterzublicken. Sie sah die großen Erkennungszeichen: die Windungen der Themse, den Millenium Dome, den City Airport, den Victoria Park und den Bereich von Lea Valley. Als sie genauer hinschaute, konnte sie auch die Straßen erkennen, die sie mit Josef abgegangen war. Sie sah die schraffierten Flächen, mit denen die Wohnsiedlungen und Fabriken eingezeichnet waren.
Frieda musste daran denken, wie sie bei Alan versagt hatte, nicht nur als Therapeutin, sondern auch als Ermittlerin. Alan und Dean hatten das gleiche Gehirn, dachten die gleichen Gedanken und träumten die gleichen Träume – so wie zwei Vögel, die derselben Art angehörten, identische Nester bauten. Doch der einzige Weg in ihr Gehirn führte über das Unbewusste, und bei ihrem letzten Gespräch mit Alan war es so ähnlich gewesen, als hätte sie einen Radfahrer gebeten, ihr zu erklären, wie man mit einem Rad fuhr. Alan war nicht nur unfähig gewesen, in Worte zu fassen, was sie von ihm wissen wollte, sondern hatte darüber hinaus auch seine Unbefangenheit verloren. Wenn man während des Radfahrens darüber nachdachte, wie man mit einem Rad fuhr, fiel man aller Wahrscheinlichkeit nach herunter. Alan war ihr auf die Schliche gekommen und sauer auf sie geworden. Vielleicht war das ein Zeichen von Stärke. Man konnte es auch als Zeichen dafür deuten, dass die Therapie Erfolg zeigte – und damit womöglich bereits zu Ende war. Frieda hatte das Gefühl, dass sie durch ihre Fragen die Verbindung zwischen ihnen beiden zerstört hatte. Vermutlich ließ sich dieser Schaden nicht wiedergutmachen. Alan würde sich ihr nie wieder so öffnen können, wie das für einen Patienten erforderlich war. Wieder musste sie an ihr letztes Gespräch denken. Bezeichnenderweise hatte der beste Teil dieses Gesprächs – der einzige Moment echter Vertrautheit zwischen ihnen – erst nach der eigentlichen Sitzung stattgefunden, als sie beide bereits im Gehen begriffen waren und Alan sie nicht mehr als seine Therapeutin sah. Wie hatte er es noch mal formuliert? Sie versuchte sich an seine Worte zu erinnern. Es war um seine Mutter gegangen. Seine Familie.
Ihr kam ein Gedanke. War das möglich? In dem Moment hatte er aufgehört, krampfhaft über Verstecke nachzudenken. Konnte es sein, dass er …?
Frieda ließ den Finger einmal um den Standort von Dean Reeves Haus kreisen und arbeitete sich dann spiralförmig nach außen vor, bis sie plötzlich an einer bestimmten Stelle verharrte. Sie schnappte sich Mantel und Schal und rannte aus dem Haus. Es war noch dunkel. Um diese Zeit waren die Nebenstraßen menschenleer. Nur ihre eigenen Schritte hallten nach. Erst als sie die Euston Road erreichte, wo der Verkehr auch nachts nie ganz einschlief, entdeckte sie ein Taxi, das sie herbeiwinken konnte. Während der Wagen losbrauste, ging sie im Geist noch einmal alles durch. Hätte sie die Polizei anrufen sollen? Was hätte sie sagen können? Sie musste an Karlsson und seine Leute denken, die von Tür zu Tür zogen und Aussagen aufnahmen. Der Fluss war bereits von Tauchern abgesucht worden. Die Polizei brauchte endlich etwas Handfestes, ein Stück Stoff oder auch nur eine Faser oder einen Fingerabdruck, doch alles, was Frieda bisher zu bieten gehabt hatte, waren Erinnerungen, Fantasien und Träume, die zum Teil übereinzustimmen schienen. Aber sah sie womöglich nur imaginäre Muster, ähnlich wie Kinder in den Wolken Formen und Gestalten zu erkennen glaubten? Es hatte so viele Rückschläge gegeben. Würde auch diese nächtliche Fahrt in einer Sackgasse enden?
»Wo soll ich Sie denn rauslassen?«, fragte die Fahrerin. Eine Frau am Steuer eines Londoner Taxis. Das war ungewöhnlich.
»Gibt es einen Haupteingang?«
»Es ist sowieso nur der eine offen«, antwortete die Frau. »Zwar befindet sich an der Rückseite noch ein zweiter Eingang, aber der ist abgeschlossen.«
»Dann nehme ich den an der Vorderseite.«
»Wobei ich mir selbst da nicht sicher bin, ob Sie um diese Zeit schon reinkommen. Normalerweise ist von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geöffnet.«
»Die Sonne geht gerade auf. Schauen Sie.«
Es war kurz vor acht – und Weihnachten.
Ein paar Minuten später hielt das Taxi. Frieda bezahlte und stieg aus. Auf einem verzierten viktorianischen Schild stand: »Chesney Hall Cemetery«. Alan hatte gesagt, er wünsche sich ein Familiengrab, wo er sich ins Gras legen und mit seinen Vorfahren sprechen könne. Der arme Alan. Er hatte kein solches Grab, das er besuchen konnte – zumindest keines, von dem er wusste. Aber vielleicht Dean Reeve? Das große Friedhofstor war geschlossen, doch daneben gab es eine kleine Pforte für Fußgänger. Frieda ging hinein und blickte sich um. Der Friedhof war riesig wie eine Stadt. Es gab unzählige, wie Alleen angelegte Reihen von Grabsteinen, viele mit Figuren, bröckelnden Säulen oder Kreuzen versehen. Hier und dort ragte zwischen den normalen Gräbern ein Mausoleum auf. Linker Hand entdeckte sie einen Bereich, der so überwuchert war, dass die Gräber fast unter dem ganzen Grünzeug verschwanden. Frieda blickte sich suchend um. In der kalten Luft bildete ihr Atem kleine Wölkchen.
Ein Stück weiter vorne erkannte sie eine schlichte Holzhütte, die an der Hauptallee lag. Die Tür stand offen, und durchs Fenster sah man Licht. Führten Friedhöfe so etwas wie Register? Während sie sich in Bewegung setzte, glitt ihr Blick über die Gräber auf beiden Seiten. Eines erregte ihre Aufmerksamkeit. Das Grab der Familie Brainbridge. Emily, Nicholas, Thomas und William Brainbridge waren in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gestorben, alle vier noch keine zehn Jahre alt. Ihre Mutter, Edith, war 1883 gestorben. Wie hatte sie es geschafft, alleine weiterzuleben, während ihre toten Kinder in die Vergangenheit entschwanden? Vielleicht hatte sie noch andere Kinder gehabt, um die sie sich kümmern musste – Kinder, die als Erwachsene fortgezogen waren und nun anderswo begraben lagen.
Irgendein Rascheln veranlasste Frieda dazu, sich umzudrehen. Durch den Zaun sah sie eine Gestalt, anfangs nur undeutlich, weil sie in Bewegung war, doch als sie dann am Eingang auftauchte, erkannte Frieda sie. Ihre Blicke trafen sich: Frieda starrte Terry Reeve an, und Terry Reeve starrte Frieda an. Dabei lag in ihrem Blick eine Intensität, die Frieda bei ihr bis dahin nicht erlebt hatte. Frieda rannte den Weg zurück, den sie gerade gekommen war, doch als sie schließlich durch die kleine Pforte hinausstürmte, war von Terry nichts mehr zu sehen. Verzweifelt blickte Frieda sich um. Erneut machte sie kehrt und lief die Hauptallee entlang, bis sie die Holzhütte erreichte. Hinter einem provisorischen Schreibtisch saß eine alte Frau. Vor ihr standen eine Thermoskanne und ein kleines Schild mit der Aufschrift: »Freunde des Friedhofs von Chesney Hall«. Wahrscheinlich hatte sie draußen auch einen geliebten Menschen liegen, einen Ehemann oder ein Kind. Vielleicht fühlte sie sich hier zu Hause, umgeben von ihrer Familie. Frieda kramte ihren Geldbeutel heraus und wühlte darin herum.
»Haben Sie hier ein Telefon?«, fragte sie.
»Ja, aber ich bin kein…«, begann die Frau.
Frieda fand die gesuchte Karte. »Es ist ganz dringend«, erklärte sie, »ich muss die Polizei anrufen.«
Nachdem sie mit ein paar hektischen Worten Karlsson informiert hatte, wandte Frieda sich wieder der alten Frau zu.
»Ich muss ein Familiengrab finden. Ist das möglich?«
»Wir haben hier Pläne des Friedhofs vorliegen«, antwortete die Frau. »Darauf sind fast alle Gräber verzeichnet. Wie lautet denn der Name?«
»Reeve. R-E-E-V-E.«
Die Frau erhob sich und ging zu einem in der Ecke stehenden Aktenschrank. Sie schloss ihn auf und kehrte mit einem dicken Buch zu Frieda zurück. Wie sich herausstellte, war es voller handschriftlicher Aufzeichnungen. Die Tinte war ursprünglich wohl schwarz gewesen, inzwischen aber zu Grau verblasst. Langsam und bedächtig begann die alte Frau die Seiten durchzublättern, wobei sie hin und wieder mit der Zunge ihren Zeigefinger befeuchtete.
»Wir haben hier drei Reeves aufgelistet«, erklärte sie schließlich. »Theobald Reeve, der 1927 starb, seine Frau Ellen Reeve, 1936, und eine Sarah Reeve, 1953.«
»Wo sind sie begraben?«
Die Frau kramte in einer Schublade herum und zog eine gedruckte Karte des Friedhofs heraus.
»Hier.« Sie legte ihren Finger auf die Stelle. »Sie sind alle recht nah beieinander beerdigt. Wenn sie den Mittelpfad entlanggehen und dann den dritten Pfad zu Ihrer …«
Doch Frieda hatte ihr bereits das Blatt Papier aus der Hand gerissen und war davongestürmt. Die alte Frau blickte ihr einen Moment nach. Dann schraubte sie ihre Thermoskanne auf und wartete weiter auf die Hinterbliebenen, die an diesem Tag auf den Friedhof kommen würden, um die Toten zu besuchen. An Weihnachten herrschte immer viel Betrieb.
Frieda eilte den Hauptweg entlang und bog in den betreffenden Pfad zu ihrer Rechten ein. Es war ein schmaler, aber offenbar viel begangener Weg. Zu beiden Seiten ragten Grabsteine auf, darunter auch einige recht neue aus weißem Marmor, auf denen die Namen der Verstorbenen in klaren schwarzen Buchstaben prangten. Andere Steine waren älter und bereits mit Flechten oder Efeu überwachsen. Zum Teil hatten sich die Steine im Lauf der Jahre auch nach hinten geneigt. Die Namen mancher der dort ruhenden Verstorbenen waren kaum noch lesbar, sodass Frieda mit den Fingern über die Buchstaben streichen musste, um sie entziffern zu können. Die Philpotts, die Bells, die Farmers, die Thackerays. Einige von ihnen waren sehr alt geworden, andere nicht einmal über die Teenagerjahre hinausgekommen. Manche bekamen noch Blumen hingestellt, viele waren längst vergessen.
So schnell, wie sie nur konnte, setzte Frieda ihren Weg zwischen den Grabsteinen fort, musste sich aber fast bei jedem bücken und die Augen zusammenkneifen, um im schwachen Licht die Namen lesen zu können. Die Lovatts, die Gorans, die Booths. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, während ihre Brust vor Hoffnung schmerzte. Von einem kahlen Dornbusch starrte sie eine Amsel an, und in der Ferne hörte sie Motorengeräusche. Fairley, Fairbrother, Walker, Hayle. Dann erstarrte sie plötzlich mitten in der Bewegung. In ihren Ohren begann es zu rauschen. Reeve. Hier war ein Reeve – ein kleiner, bröckelnder Grabstein, der sich leicht zur Seite neigte. Sie hatte das Versteck gefunden.
Dann aber begriff sie mit einem niederschmetternden Gefühl des Scheiterns, dass sie gar nichts gefunden hatte. Denn wie sollte hier, zwischen all den mickrigen Gräbern, die sie umgaben, ein Kind versteckt sein? Mit einem Anflug von Entsetzen blickte sie sich nach einer frisch umgegrabenen Stelle um, wo jemand eine Leiche verscharrt haben könnte, doch alles war dicht mit Unkraut überwuchert. Hier hatte man niemand versteckt oder verscharrt. Sie sank neben dem Grabstein von Theobald Reeve auf die Knie. Das Gefühl, versagt zu haben, überfiel sie mit einer solchen Heftigkeit, dass ihr davon fast übel wurde. Matthew war also doch nicht hier. Es war nur eine Illusion von ihr gewesen, ein letztes Aufflammen von Hoffnung.
Sie konnte nicht sagen, wie lange sie so in der bitteren Kälte kniete, nachdem ihr klar geworden war, dass sie verloren hatte. Doch als sie schließlich den Kopf hob, um sich wieder auf die Beine zu kämpfen, entdeckte sie es – ein hohes steinernes Mausoleum, das hinter einem Gestrüpp aus Dornbüschen und Nesseln kaum zu erkennen war. Während sie darauf zustürmte, spürte sie, wie die dornigen Ranken an ihr rissen. Ihre Füße sanken in den matschigen Boden ein, und der Wind peitschte ihr das Haar ins Gesicht, sodass sie kaum etwas sehen konnte. Trotzdem sah sie genug, um zu wissen, dass erst vor Kurzem jemand hier gewesen war. Die Dornbüsche und Nesseln waren zu einer Art schmalem Pfad niedergetrampelt. Als sie den Eingang erreichte, musste sie feststellen, dass er mit einem schweren steinernen Tor verschlossen war, doch an den Furchen im nassen Boden konnte man deutlich erkennen, dass jemand dieses Tor vor nicht allzu langer Zeit zur Seite geschoben hatte.
»Matthew!«, schrie sie dem kahlen, verwitterten Stein entgegen. »Gib nicht auf! Halt durch! Wir sind gleich bei dir. Halt durch!«
Dann begann sie mit den Fingern an dem Stein zu rütteln. Verzweifelt versuchte sie, irgendwo Halt zu finden, und lauschte gleichzeitig angestrengt, um vielleicht etwas zu hören, das darauf hinwies, dass er dort drin war, und noch am Leben.
Die Steintür gab ein wenig nach. Einen Spalt weit stand sie schon offen. Sie zerrte mit aller Kraft daran. Jenseits des Hügels leuchtete Licht auf, und dann hörte sie auch schon mehrere Wagen, die zum Stehen kamen. Stimmen wurden laut, und eine ganze Schar von Leuten rannte auf sie zu. Unter ihnen entdeckte sie Karlsson. Beim Anblick seiner Miene fragte sie sich, ob sie wohl auch so aussah.
Dann waren sie bei ihr – eine Armee aus Polizeibeamten, die den Stein wegziehen und mit ihren Taschenlampen in die feuchte Dunkelheit hineinleuchten konnten, ehe sie hineinkrochen.
Frieda trat zurück. Eine schreckliche Ruhe senkte sich über sie.
Er konnte sein Herz nicht mehr hören. Das machte nichts. Es hatte zu wehgetan, als es noch wie wild schlug. Der Blechmann hatte unrecht. Richtig atmen konnte er auch nicht mehr. Die Luft kam nur in ganz kleinen Stößen und füllte ihn nicht aus. Das Feuer war weg, und das Eis auch. Sogar der harte Boden war nun nicht mehr hart, weil sein Körper nur noch wie eine Feder auf dem Untergrund zitterte und bald vom Wind hochgehoben und davongetragen werden würde.
O nein. Bitte nicht. Nein. Er wollte die lauten Geräusche nicht hören, und er wollte auch nicht, dass ihm das weiße Licht die Augen zerriss. Er wollte das alles nicht: die starrenden Gesichter, die Hände, die nach ihm griffen, den Wirrwarr der Stimmen und die ruckartigen Bewegungen. Er war zu müde für eine Fortsetzung der Geschichte. Er hatte geglaubt, die Geschichte wäre endlich vorbei.
Dann sah er plötzlich die Tänzerin, die Frau mit den Schneeflocken im Haar. Sie schrie nicht herum, und sie lief auch nicht wie die anderen hektisch hin und her. Sie stand einfach nur ganz still auf der anderen Seite der Welt, um sie herum lauter Grabsteine. Sie sah ihn an. Ihr Gesicht war besser als jedes Lächeln. Er hatte sie gerettet, und nun hatte sie ihn gerettet. Sie beugte sich über ihn. Ihre Lippen berührten seine Wange. Der böse Zauber war gebrochen.