5

Detective Constable Yvette Long blickte zu ihrem Chef hinüber, Detective Chief Inspector Malcolm Karlsson. »Sind Sie bereit für die Meute?«, fragte sie.

»Spielt das eine Rolle?«, entgegnete er, woraufhin sie ins Freie traten.

Obwohl es sich um den Seitenausgang des Gerichtsgebäudes handelte, gab es vor den Reportern und Kameras kein Entrinnen. Er versuchte, trotz des Blitzlichtgewitters keine Miene zu verziehen, weil das sonst später, wenn die Bilder in den Nachrichten kamen, wie die Nervosität eines Verlierers wirken würde. Einige der Gesichter erkannte er wieder, er hatte sie in den vergangenen Wochen oft genug auf den Presserängen des Gerichtssaals gesehen. Ein Wirrwarr aus Fragen schallte ihm entgegen.

»Bitte der Reihe nach«, sagte er. »Mr. Carpenter«, wandte er sich an einen kahlköpfigen Mann, der ein Mikrofon umklammert hielt.

»Sehen Sie die Tatsache, dass das Verfahren eingestellt wurde, als persönliche Niederlage oder als ein Versagen des Systems?«

»Ich habe mich in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft dazu entschlossen, den Fall vor Gericht zu bringen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

Eine Frau hob die Hand. Sie arbeitete für eine der seriösen Zeitungen, auch wenn ihm gerade nicht einfiel, für welche.

»Man hat Ihnen vorgeworfen, den Fall vorschnell vor Gericht gebracht zu haben. Was sagen Sie dazu?«

»Ich habe die Ermittlungen geleitet. Ich übernehme die volle Verantwortung.«

»Werden Sie Ihre Ermittlungen nun von vorne aufrollen?«

»Falls neue Hinweise auftauchen sollten, werden wir diesen selbstverständlich nachgehen.«

»Glauben Sie, das ganze Unterfangen war eine Verschwendung von Arbeitskraft und öffentlichen Geldern?«

»Ich war der Meinung, wir hätten genügend stichhaltige Beweise gesammelt«, erwiderte Karlsson, während er versuchte, ein Gefühl von Übelkeit zu unterdrücken. »Das Gericht war offenbar anderer Meinung.«

»Werden Sie zurücktreten?«

»Nein.«

 

Einer alten Tradition folgend, traf man sich später im Duke of Westminster. In einer Ecke des Pubs, wo in einer Glasvitrine allerlei Seemannsknoten zu bewundern waren, hatten sich ein paar Beamte zu einem ziemlich lauten Haufen zusammengefunden. DC Long ließ sich neben Karlsson nieder. Sie hielt zwei Whiskygläser in Händen, stellte dann aber fest, dass er dasjenige, das vor ihm stand, noch kaum angerührt hatte.

Karlsson schaute zu den anderen Beamten hinüber. »In Anbetracht der Umstände«, bemerkte er, »sind sie recht guter Laune.«

»Weil Sie die ganze Schuld auf sich genommen haben«, antwortete sie. »Das hätten Sie nicht tun sollen.«

»Es gehört zu meinem Beruf«, erwiderte er.

Yvette Long sah sich um. »Nicht zu fassen«, stieß sie erbost hervor, »Crawford ist auch da! Dieser Mistkerl hat vielleicht Nerven, sich hier blicken zu lassen. Schließlich hat er Ihnen das Ganze doch eingebrockt.«

Karlsson lächelte. Er hatte sie noch nie so aufgebracht erlebt. Demnach war sie wirklich wütend.

Der Polizeipräsident blieb einen Moment an der Bar stehen, ehe er herüberkam und sich zu ihnen setzte. Die zornigen Blicke von DC Long schien er nicht zu bemerken. »Hier haben Sie noch ein Exemplar für Ihre Sammlung.« Mit diesen Worten schob er ein Whiskyglas zu Karlsson hinüber. »Sie haben es sich verdient.«

»Danke, Sir«, antwortete Karlsson.

»Sie haben heute für das Team den Kopf hingehalten«, fuhr Crawford fort. »Glauben Sie bloß nicht, ich hätte das nicht registriert. Mir ist klar, dass ich Sie da zu etwas gedrängt habe, aber dafür gab es politische Gründe. Es galt zu demonstrieren, dass wir nicht untätig waren.«

Karlsson stellte seine Gläser enger zusammen, als überlegte er, aus welchem er zuerst trinken solle. »Es war meine Entscheidung«, antwortete er, »ich habe die Ermittlungen geleitet.«

»Sie sprechen jetzt nicht mit der Presse, Mal«, meinte Crawford. »Cheers!« Er leerte sein Glas auf einen Zug und erhob sich. »Ich kann nicht bleiben«, erklärte er. »Man erwartet mich zu einem Abendessen mit dem Innenminister. Sie wissen ja, wie so was ist. Ich gehe nur noch kurz rüber und spreche ein paar mitfühlende Worte mit den Jungs.« Dann neigte er sich Karlsson entgegen, als wollte er ihm etwas Persönliches anvertrauen. »Trotzdem hätte Ihnen ein Erfolg zugestanden. Viel Glück fürs nächste Mal!«

 

Reuben McGill rauchte immer noch, als lebte er in den Achtzigern. Oder in den Fünfzigern. Nachdem er sich eine seiner Gitanes angezündet hatte, ließ er das Feuerzeug zuschnappen und hüllte sich erst einmal in Schweigen. Frieda schwieg ebenfalls. Sie saß ihm gegenüber am Schreibtisch und musterte ihn prüfend. In gewisser Weise sah er besser aus als bei ihrer ersten Begegnung fünfzehn Jahre zuvor. Sein dichter Haarschopf war inzwischen grau, sein Gesicht faltiger. Er hatte sogar leichte Hängebacken bekommen, was jedoch seinem lässigen Charme keinen Abbruch tat, ganz im Gegenteil. Er trug immer noch Jeans und ließ bei seinen Hemden den Kragen offen. Dies war ein Mann, der jedem – auch seinen Patienten – zu verstehen gab, dass er nicht zum Establishment gehörte.

»Schön, dich zu sehen«, sagte er schließlich.

»Paz hat mich angerufen.«

»Ach ja? Es kommt mir vor, als wäre ich von lauter Spionen umgeben. Bist du auch eine Spionin? Also, wie schätzt du die Lage ein? Schließlich hat man dich nicht ohne Grund zu Hilfe gerufen.«

»Ich bin im Aufsichtsrat der Klinik«, antwortete Frieda. »Das bedeutet, dass ich reagieren muss, wenn jemand Bedenken äußert.«

»Na dann reagier mal schön«, meinte Reuben. »Was sollte ich deiner Meinung nach tun? Meinen Schreibtisch aufräumen?«

Die Tischplatte war unter Stapeln von Büchern, Unterlagen, Akten und Zeitschriften verborgen. Hinzu kam eine Sammlung von Stiften, Tassen und Tellern.

»Es ist gar nicht das Chaos an sich«, antwortete Frieda, »aber ich kann nicht umhin festzustellen, dass es sich um dasselbe Chaos wie bei meinem letzten Besuch vor drei Wochen handelt. Mir ist nicht klar, warum du nicht für neues Chaos gesorgt hast. Warum sich nichts verändert hat.«

Er lachte. »Du bist gefährlich, Frieda. Ich sollte mich nur auf neutralem Boden mit dir treffen. Wie du wahrscheinlich schon gehört hast, sind Paz und die anderen der Meinung, ich hätte nicht genug Kästchen abgehakt, nicht genug i-Tüpfelchen gemacht. Es tut mir leid, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, mich um Menschen zu kümmern.«

»Paz macht sich doch nur Sorgen um dich«, entgegnete Frieda. »Genau wie ich. Du sprichst davon, Kästchen abzuhaken. Vielleicht ist das ein Alarmsignal. Und vielleicht ist es besser, das von den Leuten zu hören, die dich mögen, bevor es denen auffällt, die dich nicht mögen. Angeblich soll es solche ja auch geben.«

»Ja, angeblich«, antwortete Reuben. »Weißt du, was du tun könntest, wenn du wirklich den Wunsch hättest, mir zu helfen ?«

»Was denn?«

»Wieder Vollzeit hier an der Klinik arbeiten.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.«

»Warum nicht? Du könntest trotzdem deine eigenen Patienten behalten. Und gleichzeitig ein Auge auf mich haben.«

»Ich will kein Auge auf dich haben, Reuben. Ich bin nicht für dich verantwortlich, und du nicht für mich. Ich lege Wert auf meine Unabhängigkeit.«

»Was habe ich falsch gemacht?«

»Wie meinst du das?«

»Mehr oder weniger ab dem Moment, als du damals als eifrige junge Studentin zu uns kamst, bin ich davon ausgegangen, dass du die Klinik eines Tages von mir übernehmen würdest. Was ist passiert?«

Frieda runzelte ungläubig die Stirn. »Erstens würdest du dein Baby niemals jemand anderem übergeben. Zweitens möchte ich keine solche Institution leiten, ich möchte mein Leben nicht damit verbringen, zu überprüfen, ob die Telefonrechnungen bezahlt und die Brandschutztüren geschlossen sind.« Frieda hielt einen Moment inne. »Als ich damals an die Klinik kam, war mir sofort klar, dass es für mich – zu dem Zeitpunkt – auf der ganzen Welt keinen besseren Platz zum Arbeiten gab. Es ist schwer, etwas auf einem solchen Niveau zu halten. Ich wäre dazu nicht fähig.«

»Du meinst, mir ist es auch nicht gelungen? Ist es das, was du sagen willst – dass die Klinik heruntergekommen ist?«

»Es ist wie mit einem Restaurant«, antwortete Frieda.

»Eines Abends kocht man ein großartiges Essen. Aber dann muss man es am nächsten und übernächsten Abend wieder so gut hinbringen. Die meisten Leute schaffen das nicht.«

»Ich backe doch keine verdammte Pizza. Ich helfe Leuten dabei, mit ihrem Leben fertig zu werden. Was mache ich falsch? Sag es mir!«

»Ich habe nicht gesagt, dass du etwas falsch machst.«

»Aber du zerbrichst dir meinetwegen den Kopf.«

»Vielleicht«, meinte Frieda vorsichtig, »solltest du ein bisschen mehr delegieren.«

»Ist es das, was ihr alle denkt?«

»Das Warehouse ist dein Werk, Reuben. Du hast damit Außerordentliches vollbracht. Die Klinik hat vielen Leuten geholfen. Aber du darfst sie nicht zu sehr als dein Eigentum betrachten. Sonst bricht alles zusammen, wenn du eines Tages gehst. Das willst du doch bestimmt nicht. Es ist nicht mehr dieselbe Klinik wie damals, als du in deinem kleinen Hinterzimmer angefangen hast.«

»Natürlich nicht.«

»Ist dir je in den Sinn gekommen, dass dein momentaner Kontrollverlust vielleicht deine Art ist loszulassen, ohne dir und deiner Umwelt eingestehen zu müssen, dass du loslässt?«

»Kontrollverlust? Weil auf meinem Schreibtisch Chaos herrscht?«

»Und dass es vielleicht besser wäre, dabei ein wenig rationaler vorzugehen?«

»Verschwinde. Mir ist heute nicht nach Therapie zumute.«

»Ich wollte sowieso gerade gehen.« Frieda erhob sich. »Ich habe eine Besprechung.«

»War das jetzt so eine Art Abmahnung?«, fragte Reuben.

»Wieso widerstrebt es dir derart, Kästchen abzuhaken und i-Tüpfelchen zu machen? Ohne Tüpfelchen weiß man doch nicht, dass es ein i sein soll.«

»Mit wem hast du eine Besprechung? Geht es dabei um mich?«

»Ich treffe mich mit meinem Praktikanten. Es handelt sich um unseren üblichen wöchentlichen Termin, und wir werden dabei nicht über dich sprechen.«

Reuben drückte in einem bereits überquellenden Aschenbecher seine Zigarette aus. »Du kannst dich nicht den Rest deines Lebens verstecken, indem du dich in dein kleines Zimmer setzt und mit den Leuten redest, Frieda. Du musst hinaus in die Welt und dir die Hände schmutzig machen.«

»Ich dachte immer, genau das wäre unser Job: in einem kleinen Zimmer zu sitzen und mit den Leuten zu reden.«

 

Als Frieda aus Reubens Büro kam, hing Jack Dargan bereits auf dem Gang herum. Er war ein schlaksiger junger Mann, der sich durch leidenschaftlichen Lerneifer, Intelligenz und Ungeduld auszeichnete – und von der Klinik genau so begeistert war wie Frieda in seinem Alter. Er nahm als Zuhörer an Gruppentherapiesitzungen teil und betreute einen eigenen Patienten. Einmal die Woche traf Frieda sich mit ihm, um über seine Fortschritte zu sprechen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Jack sich Hals über Kopf in sie verliebt. Er wusste, dass es sich dabei um ein Klischee handelte und dass Frieda sich über seinen Zustand im Klaren war, und verachtete sich selbst dafür.

»Ich muss hier raus«, erklärte sie nun, »lassen Sie uns einen Kaffee trinken gehen.«

Während sie sich in Bewegung setzten, kam ihnen ein rundgesichtiger Mann entgegen, der einen ziemlich verlorenen Eindruck machte und sich mit Spanielaugen suchend umblickte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Frieda.

»Ich bin auf der Suche nach Dr. McGill.«

»Das ist sein Wartezimmer.« Sie nickte zu einer geschlossenen Tür hinüber.

Beim Verlassen der Klinik kamen sie an Paz vorbei, die an der Strippe hing und gerade einen ganzen Schwall von Worten ausstieß, während sie gleichzeitig schwungvoll mit ihren beringten Händen herumfuchtelte. Frieda fühlte sich plötzlich wie eine Entenmutter mit einem einsamen Küken im Schlepptau. Als sie mit Jack auf die Straße trat, zuckelte soeben ein Bus den Hügel herauf. Nervös stieg Jack hinter ihr ein. Er wusste nicht, ob er sich neben sie setzen oder lieber den Platz vor oder hinter ihr nehmen sollte. Als er sich schließlich neben sie sinken ließ, klemmte er aus Versehen ihren Rock ein und sprang wie von der Tarantel gestochen wieder hoch.

»Wohin fahren wir?«

»Bekannte von mir haben vor Kurzem ein Café eröffnet. Ein Tagescafé. Von dort habe ich nicht mehr weit nach Hause.«

»Wunderbar«, sagte Jack. »Großartig. Ja.« Dann fiel ihm nichts mehr ein.

Während Frieda wortlos aus dem Fenster starrte, musterte er sie verstohlen. Noch nie war er ihr so nahe gewesen. Sein Oberschenkel berührte den ihren, und er konnte ihr Parfüm riechen. Als der Bus um eine Ecke bog, presste ihn die Fliehkraft noch fester an ihren Körper. Jack ging durch den Kopf, dass er nicht das Geringste über ihre Lebensumstände wusste. Sie hatte keinen Ring an der linken Hand, war also vermutlich nicht verheiratet. Aber lebte sie mit jemandem zusammen? Hatte sie einen Geliebten? Womöglich war sie ja lesbisch – er konnte es nicht sagen. Was tat sie, wenn sie die Klinik verließ? Wie kleidete sie sich, wenn sie nicht ihre maskulinen Anzüge oder einfachen Röcke trug? Ließ sie ihr Haar jemals offen über die Schultern fallen, tanzte wild und trank zu viel?

Nachdem sie ausgestiegen waren, hatte Jack Mühe, mit Frieda Schritt zu halten, die ihn durch ein Labyrinth aus Nebenstraßen in die Beech Street führte. Es gab dort etliche Restaurants, die nur aus einem einzigen Gastraum bestanden, überladen eingerichtete Cafés, kleine Kunstgalerien und diverse Läden, die Käse, Keramikfliesen oder Schreibwaren verkauften. Außerdem entdeckte Jack eine Schnellreinigung, einen Eisenwarenladen und einen Supermarkt, der mit einem Zeitungssortiment in Polnisch, Griechisch, aber auch Englisch warb.

In Nummer 9 war es warm und die Einrichtung schlicht. Es roch nach frischem Brot und Kaffee. Der Raum war alles andere als vollgepfercht, es gab nur ein halbes Dutzend Holztische, von denen die meisten im Moment unbesetzt waren.

Die Frau hinter der Theke hob grüßend die Hand. »Na, Frieda, wie ist es dir denn seit heute Morgen ergangen?«

»Gut. Kerry, das ist mein Kollege Jack. Jack, das ist Kerry Headley.«

Vor lauter Freude darüber, dass Frieda ihn als Kollegen vorstellte, bekam Jack einen roten Kopf und stammelte ein paar verlegene Worte.

Kerry strahlte ihn an. »Was darf ich euch bringen? Kuchen ist nicht mehr viel da – Marcus wird nachher frischen backen. Er holt gerade Katya aus der Schule ab. Im Moment kann ich euch bloß ein paar kleine Haferküchlein anbieten.«

»Danke, für mich nur einen Kaffee«, antwortete Frieda, »aus eurer schimmernden neuen Maschine. Jack?«

»Ich schließe mich an«, sagte Jack, obwohl er vor lauter Koffein und Anspannung schon ganz hibbelig war.

Sie setzten sich an einen Fenstertisch. Jack nahm gegenüber Frieda Platz. Als er seinen dicken Mantel auszog, sah sie, dass er über seiner braunen Cordhose ein bunt gestreiftes Hemd trug, unter dem ein limonengrünes T-Shirt hervorblitzte. Seine Turnschuhe wirkten abgetragen, und sein gelbbrauner Haarschopf sah aus, als würde er sich den ganzen Tag vor Verzweiflung die Haare raufen.

»Sind Sie auch so angezogen, wenn Sie sich mit Ihrem Patienten treffen?«, fragte Frieda.

»Nicht genau so, aber in dem Stil. So kleide ich mich eben. Ist das ein Problem?«

»Ich finde, Sie sollten etwas Neutraleres tragen.«

»Sie meinen, Anzug und Krawatte?«

»Nein, nicht Anzug und Krawatte. Irgendetwas Langweiliges, ein Hemd in einer gedeckten Farbe oder eine schlichte Jacke. Etwas Unauffälligeres, das bei Ihrem Patienten nicht allzu viel Interesse für Sie weckt.«

»Die Gefahr besteht sowieso nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Der Typ, den ich therapieren soll, ist völlig auf sich selbst fixiert. Das ist sein eigentliches Problem. Und meines auch. Ist das nicht übel? Wenn man als Therapeut feststellt, dass einem sein erster Patient total auf den Geist geht?«

»Sie müssen ihn nicht mögen. Sie müssen ihm nur helfen.«

»Dieser Kerl«, fuhr Jack fort, »hat Probleme in seiner Ehe. Wie sich nun aber herausstellt, sind diese Probleme deswegen entstanden, weil es in seinem Büro eine Frau gibt, mit der er schlafen möchte. Im Grunde macht er die Therapie nur, weil er von mir hören will, dass seine Frau ihn nicht versteht und es daher in Ordnung ist loszuziehen und andere Möglichkeiten auszuloten. Mir kommt es so vor, als fühlte er sich gezwungen, diese ganze Prozedur durchzumachen, damit er sich hinterher die Lizenz zum Fremdgehen geben und ein gutes Gefühl dabei haben kann.«

»Und?«

»Während meiner Ausbildung wurde mir beigebracht, Menschen zu heilen. Körperlich und geistig. Ich bin nicht allzu glücklich darüber, wenn meine Aufgabe als Therapeut nur darin besteht, ihm beim Betrügen seiner Frau ein gutes Gefühl zu vermitteln.«

»Sehen Sie Ihre Arbeit hier wirklich so?« Frieda musterte ihn aufmerksam und registrierte dabei eine Mischung aus Nervosität und leidenschaftlichem Eifer. Ihr entging weder der Ausschlag an seinen Handgelenken noch die Tatsache, dass er Nägel kaute. Jack wollte ihr gefallen und sie gleichzeitig herausfordern. Er sprach schnell, die Worte quollen nur so aus ihm heraus, und die Farbe seiner Wangen wechselte zwischen Röte und Blässe.

»Ich weiß nicht, wie ich meine Arbeit hier sehen soll«, antwortete Jack. »Genau das will ich damit ja zum Ausdruck bringen. Ihnen gegenüber kann ich doch ehrlich sein, oder? Ich habe kein gutes Gefühl dabei, ihn zum Fremdgehen zu ermutigen. Andererseits kann ich auch nicht einfach zu ihm sagen: ›Ehebruch ist eine Sünde.‹ Das ist keine Therapie.«

»Warum sollte er denn Ihrer Meinung nach keinen Ehebruch begehen? Sie wissen doch gar nicht, wie seine Frau ist. Vielleicht treibt sie ihn ja regelrecht in die Arme einer anderen. Oder womöglich begeht sie selbst auch Ehebruch.«

»Über seine Frau weiß ich nur, was er mir erzählt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sollen die Leute doch einen roten Faden in der Geschichte ihres Lebens finden. Dieser Typ hat offenbar einen gefunden – und zwar einen, der ihm verdammt gelegen kommt. Ich versuche, mich in ihn hineinzufühlen, auch wenn er mir das nicht gerade leicht macht, aber er selbst versucht seinerseits überhaupt nicht, sich in seine Frau hineinzufühlen. Oder in sonst jemanden. Damit habe ich ein Problem. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich möchte ihn nicht einfach darin bestärken, ein Mistkerl zu sein. Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?«

Mit diesen Worten lehnte er sich zurück, griff nach seiner Tasse und verschüttete prompt ein wenig Kaffee. Hinter ihm kam ein untersetzter Mann mit einem Mädchen im Schlepptau zur Tür herein. Mit ihrem riesigen Schulranzen sah die Kleine aus wie eine Schildkröte. Der Mann nickte Frieda zu und hob grüßend die Hand.

»Sie können nicht die ganze Welt therapieren«, erklärte Frieda. »Genauso wenig können Sie losziehen und die Welt verändern, bis sie Ihren Vorstellungen entspricht. Sie können sich lediglich um das kleine Stück Welt kümmern, das sich im Kopf Ihres Patienten befindet. Sie brauchen ihm nicht die Erlaubnis für irgendetwas zu geben. Das ist nicht Ihre Aufgabe. Aber Sie sollten ihn dazu bringen, ehrlich zu sich selbst zu sein. Wenn ich vom roten Faden einer Lebensgeschichte spreche, meine ich damit nicht irgendeinen beliebigen roten Faden. Ihr Ausgangspunkt könnte sein, dass Sie versuchen, ihm begreiflich zu machen, warum er sich für sein Handeln Ihren Segen wünscht. Warum marschiert er nicht einfach los und setzt sein Vorhaben in die Tat um?«

»Wenn ich es so formuliere, tut er vielleicht genau das.«

»Zumindest müsste er dann selbst die Verantwortung dafür übernehmen, statt sie auf Sie abzuwälzen.« Frieda überlegte einen Moment. »Wie kommen Sie denn in den Gruppentherapiesitzungen mit Dr. McGill klar?«

Jack formulierte seine Antwort ziemlich vorsichtig. »Ich glaube, er hat einfach nicht genug Zeit, um sich mit mir abzugeben. Oder überhaupt mit uns Praktikanten. Bevor ich diese Stelle hier am Warehouse bekam, hatte ich so viel von ihm gehört, aber in natura erscheint er mir nun recht gestresst und zerstreut. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir auf seiner Prioritätenliste besonders weit oben stehen. Vielleicht täusche ich mich auch. Sie kennen ihn viel besser als ich.«

»Ja, vermutlich.«