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Mit dem Wagen kam Karlsson nicht ganz bis ans Wasser heran. Er hielt an einer Brücke, die den Kanal kreuzte. Dort stand schon ein Beamter bereit und führte ihn die Treppe zum Treidelpfad hinunter.
»Wer hat die Leiche denn entdeckt?«, fragte Karlsson.
»Ein alter Mann, der mit seinem Hund unterwegs war«, antwortete der Beamte. »Er hatte kein Handy dabei und konnte auch keine Telefonzelle finden, deswegen ist er den ganzen Weg zurück nach Hause marschiert, noch dazu mit einem wehen Bein. Es hat eine ganze Stunde gedauert, bis endlich jemand vor Ort war. Hätte der Mann ein Handy gehabt, dann hätte der Notarzt vielleicht noch etwas machen können.«
Weiter vorne auf dem Treidelpfad sah Karlsson etliche Schaulustige, vor allem Jugendliche, die versuchten, einen Blick auf die Leiche zu erhaschen. Er und der Beamte schoben sich unter dem Absperrband hindurch und bogen vom Hauptweg zu einer kleinen Bucht ab, die eine Art Sackgasse aus Wasser bildete. Früher hatte sie als Hafen für Frachtkähne gedient, die auf diese Weise direkt neben einer Fabrik anlegen konnten. Mittlerweile war die Fabrik stillgelegt und bot mit ihren rissigen Wänden, aus denen bereits Büsche wucherten, ein trostloses Bild. Mehrere Beamte standen dort beisammen, wirkten aber alle recht entspannt. Ein Stück weiter vorne sah Karlsson eine Beamtin aus seinem Team, Melanie Hackett, mit einem Kollegen sprechen. Er rief sie zu sich.
»Sie haben ihn schon runtergeholt«, informierte sie ihn und deutete auf die grüne Abdeckplane am Boden. »Wollen Sie einen Blick auf ihn werfen?«
Karlsson nickte. Sie zog die Plane zurück. Obwohl er auf den Anblick vorbereitet war, verzog er dennoch das Gesicht. Die Augen, deren Pupillen deutlich vergrößert waren, starrten ins Leere. Zwischen den Zähnen ragte die geschwollene Zunge heraus. Hackett zog die Plane ein Stück weiter zurück. Das Seil war entfernt worden, doch am Hals war deutlich zu sehen, wo es in die Haut eingeschnitten hatte. Die Spur zog sich bis hinters Ohr.
»Er ist nicht einmal mehr dazu gekommen, sich umzuziehen«, stellte sie fest. »Er trägt noch dieselben Sachen wie auf dem Revier.«
»Er war seitdem nicht mehr zu Hause.« Karlsson zog eine Grimasse. Es roch definitiv nach Fäkalien. Als Hackett seinen Gesichtsausdruck bemerkte, deckte sie die Leiche rasch wieder zu.
»Das passiert, wenn man sich erhängt«, erklärte sie. »Wenn die Leute das wüssten, würde es vielleicht ein paar von ihnen abschrecken.«
Karlsson blickte sich um. Die alte Fabrik wies eine Reihe von Fenstern auf, aber die waren längst mit Brettern vernagelt.
»Ist der Bereich hier aus irgendeiner Richtung einsehbar?«
»Nein«, antwortete Hackett. »An diesem Abschnitt des Kanals ist ausgesprochen wenig los. Hier kommt so gut wie nie jemand her.«
»Aus dem Grund hat er sich die Stelle vermutlich ausgesucht.«
»Er wusste wohl, dass das Spiel für ihn gelaufen war.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Wir haben in seiner Jackentasche einen Brief gefunden.«
»Was für einen Brief?«
»Er liegt da in der Kiste, zusammen mit dem restlichen Zeug aus seinen Taschen.« Sie ging zu einer kleinen blauen Kiste und nahm eine Klarsichtmappe heraus. »Er hatte ein Handy dabei, außerdem eine Schachtel Zigaretten, ein Feuerzeug, einen Stift und das hier. Der Brief steckte in einem nicht adressierten Umschlag.«
Sie reichte ihm die transparente Mappe. Karlsson konnte die Nachricht lesen, ohne die Mappe aufschlagen zu müssen. Er ging ein paar Schritte den Pfad entlang, bis er aus dem Schatten der Brücke getreten war. Es handelte sich um eine kleinformatige Seite aus einem Spiralblock. Er kannte die große, geschwungene Handschrift von der Unterschrift, die Reeve unter die letzte Seite seiner Aussage gesetzt hatte. Der Text war kurz und gut lesbar:
Ich weiß, was mir bevorsteht. Das will ich alles nicht. Richtet Terry aus, dass es mir leid tut. Sorry, dass ich dich allein lasse, Süße! Sie weiß, dass sie immer die einzig Richtige für mich war. Sie hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun, auch wenn sie selbst vermutlich nichts zu ihrer Verteidigung vorbringen wird. Sagt ihr, dass ich mein Bestes gegeben habe. Zeit zu gehen.
Dean Reeve
Karlsson schaute zu Melanie Hackett hinüber. »Er lässt sie die Sache allein ausbaden.«
»Was sollen wir jetzt machen?«, erwiderte sie.
»Ihr so heftig zusetzen, wie wir nur können. Sie ist alles, was wir noch haben.«
Karlsson rief Frieda an und informierte sie über Deans Abschiedsbrief.
»Irgendwie konnte ich ihn mir nie in einem Gerichtssaal vorstellen.«
»Ich weiß nicht, was Sie mir damit sagen wollen«, knurrte Karlsson. »Wie auch immer, ich habe Ihnen versprochen, Sie auf dem Laufenden zu halten, und hiermit meine Schuldigkeit getan.«
»Ich halte Sie auch auf dem Laufenden«, gab Frieda zurück.
»Wie meinen Sie das?«
»Das weiß ich selbst nicht so genau«, antwortete Frieda, »aber falls sich noch irgendetwas ergeben sollte, melde ich mich bei Ihnen.«
Nachdem Frieda das Gespräch beendet hatte, blieb sie eine Weile reglos sitzen. Auf dem Tisch vor ihr stand eine Kaffeetasse aus weißem Steingut. Durchs Fenster fiel Licht auf die Tasse, sodass sie auf der anderen Seite einen starken, fast bläulichen Schatten warf. Frieda hatte einen Zeichenblock vor sich liegen und versuchte gerade, das Ganze mit einem Kohlestift festzuhalten, ehe sich Licht und Schatten veränderten und das Bild verloren war. Sie starrte auf die Tasse und dann wieder auf ihr Blatt. Irgendetwas stimmte nicht. Der Schatten auf ihrer Zeichnung sah zwar aus, wie ein Schatten aussehen sollte, passte aber nicht zu dem, was sie tatsächlich vor Augen hatte. Sie fetzte die Seite aus dem Block, riss sie in der Mitte durch und dann gleich noch einmal. Während sie überlegte, ob sie es schaffen würde, von vorne anzufangen, klingelte das Telefon. Es war Sasha Wells.
»Frohe Weihnachten!«, sagte sie. »Ich habe Neuigkeiten für Sie.«
Sie verabredeten sich in der Nummer 9, weil das Café ganz in der Nähe von Sashas Arbeitsstelle lag. Als Frieda dort eintraf, musste sie feststellen, dass der ganze Raum mit Lametta, Sternen und kleinen Christbaumkugeln geschmückt war. Kerry begrüßte sie und deutete auf die Schaufensterdekoration. »Gefällt dir unser Santa Claus?«
»Ich sähe ihn lieber an ein Kreuz genagelt«, antwortete Frieda.
Kerry bedachte sie mit einem schockierten und höchst missbilligenden Blick. »Er ist doch für die Kinder gedacht«, erklärte sie, »und außerdem das Werk von Katya.«
Frieda bestellte den stärksten Kaffee, den sie zustande brachten. Als Sasha hereinkam, fiel Frieda sofort auf, wie sehr sie sich schon rein optisch von der zitternden, ängstlichen jungen Frau unterschied, die sie ein paar Wochen zuvor kennengelernt hatte. Natürlich hieß das nicht automatisch, dass es ihr besser ging, aber sie trug das Haar ordentlich zurückgebunden und sah in ihrem schicken Hosenanzug aus, als fühlte sie sich der Welt durchaus gewachsen. Als sie Frieda entdeckte, begann sie übers ganze Gesicht zu strahlen. Frieda stand auf, machte sie mit Kerry bekannt und bestellte ihr einen Kräutertee und einen Muffin. Gemeinsam nahmen sie wieder Platz. Sashas eben noch lächelnde Miene wirkte plötzlich besorgt.
»Wann haben Sie denn das letzte Mal richtig geschlafen?«
»Ich hatte die letzten Tage viel zu tun«, antwortete Frieda ausweichend. »Also, was gibt’s?«
Sasha trank einen Schluck Tee und biss fast gleichzeitig ein Stück von ihrem Muffin ab. »Ich bin am Verhungern«, murmelte sie mit vollem Mund. Es dauerte einen Moment, bis sie alles hinuntergeschluckt hatte. »Als Erstes möchte ich Sie darauf hinweisen, wie dankbar Sie mir sein sollten. Ich arbeite zwar im Bereich Genetik, führe aber keine derartigen Tests durch. Allerdings kenne ich ein paar Leute, die ihrerseits auch wieder ein paar Leute kennen, die ich extra aus einer Weihnachtsfeier holen und erst mal dazu überreden musste, im Schnellverfahren diesen Test für mich zu machen.«
»Was ist dabei herausgekommen?«
»Erst müssen Sie ›danke‹ sagen.«
»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Sasha.«
»Zugegebenermaßen stehe ich tief in Ihrer Schuld, weil Sie diesem Widerling eine verpasst und dafür sogar riskiert haben, ins Gefängnis zu wandern. Aber selbst auf die Gefahr hin, dass Sie das extrem ermüdend finden, muss ich dem Ganzen vorausschicken, dass diese Sache absolut nicht offiziell ist, sondern unter uns bleiben muss.«
»Natürlich.«
»Ferner muss ich Ihnen sagen, dass ich schwer hin- und hergerissen bin zwischen meiner Neugier bezüglich der Frage, warum Sie unbedingt über dieses Stück Taschentuch Bescheid wissen müssen, und meinem Verdacht, dass es besser ist, wenn ich so wenig wie möglich darüber weiß.«
»Sie dürfen mir glauben, dass es sich wirklich um eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit handelt«, antwortete Frieda. »Alles andere fällt ohnehin unter die Schweigepflicht.«
»Und natürlich sind Sie Ärztin, bla, bla, bla, und als solche darüber informiert, dass es hier um juristische Dinge geht, die mit Datenschutz zu tun haben, weshalb Sie die betreffenden Informationen auf keinen Fall als Beweismaterial vor Gericht verwenden können.«
»Keine Sorge. Das ist kein Problem.«
»Ich will damit eigentlich nur sagen, dass ich mich einerseits zwar sehr freue, von Ihnen zu hören – ich hatte ohnehin gehofft, wir würden uns mal auf einen Drink und einen Plausch treffen –, andererseits aber wirklich hoffe, dass ich nicht demnächst aufgefordert werde, irgendwo als Zeugin auszusagen.«
»Dazu wird es nicht kommen, das verspreche ich Ihnen.«
»Dann verraten Sie mir jetzt doch mal, warum Sie unbedingt einen mitochondrialen DNA-Test wollten.«
»Liegt das denn nicht auf der Hand?«
»Na ja, irgendwie schon, aber es ist trotzdem sehr ungewöhnlich.«
Sie schwiegen beide einen Moment. »Also, wie ist das Ergebnis ausgefallen?« Frieda spürte das Zittern in ihrer Stimme.
Sashas Miene wurde plötzlich ernst.
»Positiv.«
»Ah.« Frieda hatte vor Anspannung die Luft angehalten. Als sie nun ausatmete, klang es wie ein langer Seufzer.
»Dann wäre das also geklärt«, meinte Sasha und musterte sie dabei eindringlich.
»Aber was bedeutet das genau? Ich meine, was bedeutet es wirklich? DNA-Tests treffen doch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu, oder nicht?«
Sashas Gesichtszüge entspannten sich. »In diesem Fall nicht. Sie sind doch Ärztin. Sie kennen sich in Biologie aus. Die mitochondriale DNA wird in der weiblichen Linie unverändert weitergegeben. Sie stimmt überein oder nicht. In diesem Fall tut sie es.«
»Demnach besteht also kein Zweifel.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich wissen will, wo diese Proben herstammen.«
»Sie haben recht, Sie wollen es nicht wissen. Danke. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Der Dank gebührt meinen Kollegen.«
»Aber Sie haben das Ganze in die Wege geleitet.«
»Ich bin mir dabei vorgekommen wie eine Spionin«, erklärte Sasha. »Deswegen habe ich auch alle Spuren vernichtet, sowohl die Proben als auch die Testbelege. Ich habe Ihnen nur das Ergebnis mitgeteilt. Mehr bekommen Sie von mir nicht.«
»Damit bin ich auch voll und ganz zufrieden. Das hatte ich Ihnen ja von Anfang an versprochen.«
Sasha trank ihren Tee aus. »Was machen Sie denn an Weihnachten?«
»So genau weiß ich das selbst nicht. Gerade ist alles noch ein bisschen komplizierter geworden.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«