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Carrie sah ihn schon aus der Ferne, trotz des bereits schwächer werdenden Lichts. Die Hände tief in den Taschen vergraben, kam er mit leicht hängenden Schultern quer über die Wiese auf sie zu. Dabei pflügte er mit den Schuhen durch feuchte Haufen braunen Laubs. Er sah Carrie nicht, denn er hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet. Seine Bewegungen wirkten so langsam und schwerfällig, als wäre er gerade erst aus einem tiefen Schlaf erwacht. Als fühlte er sich immer noch etwas benommen, eingehüllt in seine Träume. Oder Albträume, dachte Carrie, während sie ihren Ehemann beobachtete. Als er schließlich doch hochblickte, hellte sich seine Miene auf, und er beschleunigte seine Schritte ein wenig.

»Danke, dass du gekommen bist!«

Sie hakte sich bei ihm unter. »Was ist denn los, Alan?«

»Ich musste einfach weg von der Arbeit. Ich habe es dort nicht mehr ausgehalten.«

»Ist etwas passiert?«

Achselzuckend zog er den Kopf ein. Sie dachte, dass er noch immer aussah wie ein Junge, auch wenn sein Haar vorzeitig ergraut war. Er besaß die Schüchternheit, aber auch die Unbefangenheit eines Kindes. Man konnte alle seine Empfindungen von seinem Gesicht ablesen. Oft wirkte er ein wenig verloren und weckte bei den Leuten den Wunsch, ihn zu beschützen. Vor allem bei Frauen. Auch sie wollte ihn beschützen, es sei denn, sie wünschte sich ausnahmsweise mal selbst einen Beschützer. Bei solchen Gelegenheiten trat an die Stelle ihrer sonst so zärtlichen Gefühle eine Mischung aus Frustration und Verärgerung.

»Der Montag ist immer ein schlimmer Tag.« Sie bemühte sich um einen lockeren, frischen Ton. »Vor allem im November, wenn der ewige Nieselregen anfängt.«

»Ich musste dich unbedingt sehen.«

Sie zog ihn den Pfad entlang. Sie waren diesen Weg schon so oft miteinander gegangen, dass ihre Füße sie von selbst in die richtige Richtung zu lotsen schienen. Inzwischen hatte es zu dämmern begonnen. Sie kamen am Spielplatz vorbei. Carry vermied es hinüberzublicken, wie sie es inzwischen immer tat, aber es war ohnehin niemand da, abgesehen von ein paar Tauben, die auf dem gummierten Asphalt herumpickten. Sie bogen auf den Hauptweg ein und schlenderten am Musikpavillon vorbei. Vor Jahren hatten sie mal dort gepicknickt. Carrie wusste selbst nicht, warum sie sich so deutlich daran erinnerte. Es war im Frühling gewesen, an einem der ersten milden Tage des Jahres. Während sie damals ihre Schweinefleischpasteten aßen und ihr mitgebrachtes, schon viel zu warmes Bier tranken, sahen sie den Kindern zu, die vor ihnen im Gras herumtollten und sogar über ihre eigenen Schatten stolperten. Carrie erinnerte sich noch genau, wie sie an jenem Tag auf dem Rücken gelegen hatte, den Kopf auf Alans Schoß, und er ihr das Haar aus dem Gesicht gestrichen und ihr dann gesagt hatte, dass sie ihm alles bedeute. Er war kein Mann vieler Worte. Vielleicht war das der Grund, warum sich solche Dinge derart in ihr Gedächtnis eingruben.

Sie wanderten über den Hügel zu den Teichen hinüber. Früher hatten sie gelegentlich Brot mitgebracht, um die Enten zu füttern, auch wenn das normalerweise wohl eher eine Beschäftigung für Kinder war. Wobei die Enten mittlerweile sowieso von den Kanadagänsen vertrieben wurden, die sich oft angriffslustig in die Brust warfen und mit lang gestrecktem Hals auf einen zustürmten.

»Vielleicht sollten wir uns einen Hund zulegen«, sagte Carry unvermittelt.

»Sowas hast du noch nie erwähnt.«

»Einen Cockerspaniel. Die sind nicht zu groß, aber auch nicht so klein, dass sie ständig kläffen … Möchtest du mir vielleicht erzählen, was dir so zusetzt?«

»Wenn du einen Hund willst, dann lass uns einen besorgen. Wie wäre es, wenn wir uns gemeinsam einen zu Weihnachten schenken?« Er versuchte sich für die Vorstellung zu begeistern.

»Einfach so?«

»Einen Cockerspaniel, sagst du. Gerne.«

»Es war nur so eine Idee.«

»Wir können ihm einen Namen geben, je nachdem, ob es eine Sie oder ein Er ist. Vielleicht nehmen wir ein Männchen. Dann wäre ich für Billy, Freddie oder Joe.«

»So habe ich es nicht gemeint. Ich hätte den Mund halten sollen.«

»Entschuldige, es liegt an mir. Ich bin nicht …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Irgendwie wusste er selbst nicht so recht, was er nicht war.

»Ich wünschte, du würdest mir erzählen, was passiert ist.«

»So ist das nicht. Ich kann es nicht erklären.«

Inzwischen waren sie wieder am Spielplatz gelandet, als würden sie wie magisch von ihm angezogen. Die Schaukeln und die Wippe waren leer. Alan blieb stehen. Er entzog ihr seinen Arm und umklammerte mit beiden Händen das Geländer. Ein paar Augenblicke blieb er reglos stehen, dann presste er plötzlich eine Hand flach auf die Brust.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Carrie.

»Ich fühle mich so seltsam.«

»Auf welche Weise seltsam?«

»Das kann ich nicht sagen. Einfach seltsam. Als stünde ein Sturm bevor.«

»Was denn für ein Sturm?«

»Warte.«

»Nimm meinen Arm. Stütz dich auf mich.«

»Warte einen Moment, Carrie.«

»Sag mir, was du spürst. Hast du Schmerzen?«

»Ich weiß nicht«, flüsterte er. »Das Gefühl ist in meiner Brust.«

»Soll ich einen Arzt rufen?«

Er stand inzwischen vornüber gebeugt, sodass sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte.

»Nein. Lass mich nicht allein.«

»Ich hab mein Handy dabei.« Sie fummelte unter ihrem dicken Mantel herum, bis sie das Handy aus der Hosentasche gefischt hatte.

»Mein Herz schlägt so heftig, dass ich das Gefühl habe, als würde es mir gleich die Brust zerreißen.«

»Ich rufe einen Krankenwagen.«

»Nein. Es vergeht gleich. Es vergeht immer ganz schnell.«

»Ich kann doch nicht einfach danebenstehen und zusehen, wie du dich quälst!«

Sie versuchte, einen Arm um ihn zu legen, was aber wegen seiner gekrümmten Haltung schlecht ging, so dass sie sich völlig nutzlos vorkam. Sie hörte ihn wimmern. Einen Moment verspürte sie den starken Drang, einfach davonzulaufen und ihn, gebückt und hoffnungslos, wie er war, in der Dämmerung stehen zu lassen. Natürlich brachte sie das nicht übers Herz. Außerdem spürte sie, dass das, was ihn im Griff hatte – was auch immer es sein mochte –, allmählich nachließ. Schließlich konnte er sich wieder aufrichten. Carrie sah die Schweißtropfen auf seiner Stirn, doch als sie nun seine Hand nahm, war sie kalt.

»Besser?«

»Ein wenig. Tut mir leid.«

»Du musst etwas dagegen unternehmen.«

»Das wird schon wieder.«

»Nein, ganz im Gegenteil, es wird schlimmer. Glaubst du, ich höre dich nachts nicht? Und deine Arbeit beeinträchtigt es auch. Du musst zu Dr. Foley gehen.«

»Bei dem war ich doch schon. Er verschreibt mir nur wieder diese Schlaftabletten, die mich völlig außer Gefecht setzen. Wenn ich die nehme, fühle ich mich am nächsten Tag wie verkatert.«

»Du musst noch einmal mit ihm reden.«

»Er hat mich von Kopf bis Fuß durchgecheckt. An seiner Miene habe ich gemerkt, dass es mir nicht schlechter geht als den meisten anderen Leuten, die ihren Arzt aufsuchen. Ich bin einfach nur müde.«

»So ein Zustand ist doch nicht normal. Versprich mir, dass du zum Arzt gehst. Alan?«

»Wenn du unbedingt meinst.«