22
Am Dienstagnachmittag sagte Frieda zu Alan: »Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.«
»Meiner Mutter?« Er zuckte mit den Schultern. »Sie war …« – er brach ab und blickte stirnrunzelnd auf seine Handflächen hinunter, als könnte er dort die Antwort finden – »… eine nette Frau«, führte er den Satz schließlich recht lahm zu Ende. »Sie ist schon gestorben.«
»Ich meine, Ihre andere Mutter.«
Es war, als hätte sie ihn mit voller Wucht in den Bauch geboxt. Sie hörte das gequälte Stöhnen, als er vor lauter Überraschung die Luft ausstieß. »Was wollen Sie damit sagen?«, keuchte er in leicht gekrümmter Haltung und mit verzerrtem Gesicht.
»Ich spreche von Ihrer leiblichen Mutter, Alan.«
Erneut stieß er einen leisen, klagenden Laut aus.
»Sie wurden doch adoptiert, oder nicht?«
»Woher wissen Sie das?«, flüsterte er.
»Man muss nicht zaubern können, um das in Erfahrung zu bringen. Ich habe Ihre Adoptiveltern auf dem Foto gesehen, das in Ihrer Diele hängt.«
»Und?«
»Die beiden haben blaue Augen. Ihre sind braun. Das ist genetisch nicht möglich.«
»Oh«, sagte er.
»Wann hatten Sie denn vor, mich darüber zu informieren?«
»Keine Ahnung.«
»Nie?«
»Es hat nichts mit meinen Problemen zu tun.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ich bin adoptiert worden. Ende der Geschichte.«
»Sie sehnen sich nach einem eigenen Kind, und zwar so sehr, dass sich dieser Wunsch in lebhaften Fantasien und anhaltenden Panikattacken äußert. Und Sie glauben, die Tatsache, dass Sie adoptiert wurden, hat nichts damit zu tun?«
Alan zuckte erneut mit den Schultern. Er blickte einen Moment zu ihr auf, senkte aber sofort wieder den Kopf. Draußen reckte der Kran seinen Arm immer höher in den grellblauen Himmel. Große Schlammklumpen fielen von seinen gezackten Kiefern herab. »Ich weiß es nicht«, murmelte Alan.
»Sie wünschen sich einen Sohn, der genau so aussieht wie Sie. Die Vorstellung, ein Kind zu adoptieren, widerstrebt Ihnen. Sie wollen Ihr eigenes Fleisch und Blut – mit Ihren Genen, Ihrem roten Haar und Ihren Sommersprossen. Als wollten Sie sich selbst adoptieren, sich selbst retten und umsorgen.«
»Hören Sie auf!« Alan sah aus, als würde er sich am liebsten die Finger in die Ohren stopfen.
»Ist es denn ein so großes Geheimnis?«
»Carrie weiß es natürlich. Außerdem ein Freund, dem ich es mal nach ein paar Drinks verraten habe. Aber warum sollte ich jedem davon erzählen? Das ist doch etwas sehr Persönliches und geht niemanden etwas an.«
»Nicht einmal Ihre Therapeutin?«
»Ich hielt es nicht für wichtig.«
»Das glaube ich Ihnen nicht, Alan.«
»Was Sie glauben, ist mir egal. Ich sage Ihnen, dass es so war.«
»Meiner Meinung nach wissen Sie sehr genau, wie wichtig es ist. Für Sie ist es sogar so wichtig, dass Sie es nicht schaffen, es zu erwähnen oder auch nur darüber nachzudenken.«
Er schüttelte langsam den Kopf – wie ein müder alter Kampfstier, den jemand mit Spießen traktierte.
»Manche Geheimnisse verleihen einem eine Form von Freiheit«, erklärte Frieda. »Persönlichen Freiraum. Das ist gut. Jeder braucht solche Geheimnisse. Andere Geheimnisse können düster und bedrückend sein, wie ein gruseliger, feuchter Keller, in den man sich nie hinunterwagt, von dem man aber immer weiß, dass er da ist: voller hässlicher Kreaturen, die unter der Erde hausen, und voller Albträume. Das sind die Geheimnisse, denen man sich stellen sollte. Es ist wichtig, dass man sie beleuchtet und sich genau ansieht, was hinter ihnen steckt.«
Während Frieda das sagte, musste sie an all die Geheimnisse denken, die ihr im Lauf der Jahre anvertraut worden waren, all jene verbotenen Gedanken, Wünsche und Ängste, die ihr die Leute zur sicheren Aufbewahrung übergaben. Reuben hatte sich dadurch irgendwann vergiftet gefühlt, während Frieda es schon immer als eine Art Privileg betrachtete, dass die Menschen sie einen Blick auf ihre Ängste werfen ließen und ihr gestatteten, das Licht zu sein, mit dem sie diese beleuchteten.
»Ich weiß nicht«, entgegnete Alan. »Vielleicht gibt es auch Dinge, die man besser ruhen lässt.«
»Um was genau zu verhindern?«
»Um zu verhindern, dass man sich über Sachen aufregt, die man ohnehin nicht ändern kann.«
»Könnte es sein, dass Sie vielleicht deswegen hier bei mir sitzen, weil es zu viele Dinge gibt, mit denen Sie sich nicht auseinandergesetzt haben? Sodass sich in Ihrem Inneren eine große Spannung aufgebaut hat?«
»Keine Ahnung. Zu Hause haben wir nie darüber gesprochen«, entgegnete Alan. »Irgendwie wusste ich instinktiv, dass das Thema tabu war. Sie wollte, dass ich sie als meine richtige Mutter ansah.«
»Ist Ihnen das gelungen?«
»Sie war meine Mutter. Mum und Dad, etwas anderes kannte ich nicht. Die andere Frau hat nichts mit mir zu tun.«
»Sie kannten Ihre leibliche Mutter nicht?«
»Nein.«
»Sie haben keinerlei Erinnerung an sie?«
»Nicht die geringste.«
»Wissen Sie, wer sie war?«
»Nein.«
»Und Sie wollten es auch nie wissen?«
»Selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte es mir nichts genützt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Niemand hat gewusst, wer sie war.«
»Das verstehe ich nicht. So etwas kann man doch herausfinden, Alan. Das geht sogar relativ einfach.«
»In meinem Fall nicht. Dafür hat sie schon gesorgt.«
»Wie denn?«
»Sie hat mich ausgesetzt. In einem kleinen Park neben einer Wohnsiedlung in Hoxton. Der Zeitungsjunge hat mich gefunden. Es war Winter und sehr kalt, und ich war nur in ein Handtuch gewickelt.« Er sah Frieda an. »Wie in einem Märchen. Mit dem Unterschied, dass es in meinem Fall real war. Warum also sollte mir etwas an ihr liegen?«
»Was für ein schwieriger Start ins Leben«, bemerkte Frieda.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, also spielt es für mich keine Rolle. Es ist nur eine Geschichte.«
»Eine Geschichte über Sie.«
»Ich habe diese Frau nicht gekannt und sie mich auch nicht. Sie hat für mich keinen Namen, keine Stimme, kein Gesicht. Und sie kennt auch meinen Namen nicht.«
»Es ist ziemlich schwierig für eine Frau, Schwangerschaft und Geburt zu überstehen und das Baby dann auch noch auszusetzen, ohne dass ihr jemals ein Mensch auf die Schliche kommt«, stellte Frieda fest.
»Ihr ist es gelungen.«
»Demnach waren Sie ganz klein, als Ihre Eltern Sie adoptiert haben. Sie erinnern sich an nichts anderes?«
»So ist es. Deshalb hat es auch nichts mit meinen momentanen Problemen zu tun.«
»Wie beispielsweise Ihrem Kinderwunsch. Denken Sie daran, wie Sie reagiert haben, als wir auf die Möglichkeit einer Adoption zu sprechen gekommen sind.«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt. Ich will kein Kind adoptieren. Ich möchte mein eigenes, nicht das von jemand anderem.«
Frieda musterte ihn eindringlich. Ein paar Sekunden lang erwiderte er ihren Blick, dann senkte er wie ein kleiner Junge, der beim Lügen ertappt worden war, den Kopf.
»Unsere Zeit ist um. Wir sehen uns am Donnerstag. Ich möchte, dass Sie bis dahin über das alles nachdenken.«
Sie standen beide auf. Wieder bewegte er auf diese für ihn typische, hilflos-traurige Art langsam den Kopf hin und her, als versuchte er ihn dadurch wieder klar zu bekommen.
»Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte«, sagte er. »Ich bin dafür einfach nicht geschaffen.«
»Wir gehen immer nur einen Schritt.«
»Durch die Dunkelheit.« Alans Worte trafen Frieda so unerwartet, dass sie nur nicken konnte.
Als Frieda nach Hause kam, fand sie auf ihrer Türmatte ein kleines Päckchen vor. Sofort erkannte sie auf dem Umschlag Sandys Handschrift. Sie beugte sich hinunter und hob es ganz vorsichtig auf, als könnte es bei der kleinsten Bewegung explodieren. Allerdings öffnete sie es nicht gleich, sondern nahm es mit in die Küche und machte sich erst einmal eine Tasse Tee. Während sie wartete, bis das Wasser kochte, blieb sie am Fenster stehen und blickte über ihr Spiegelbild hinweg zum klaren, kalten Nachthimmel empor.
Erst als sie mit einer Tasse Tee am Tisch saß, öffnete sie das Päckchen und nahm den Inhalt heraus: einen silbernen Armreif, einen kleinen Zeichenblock mit ein paar von ihren Skizzen, einen weichen Bleistift und fünf Haarklammern, zusammengehalten von einem schmalen braunen Haarband. Das war alles. Sie schüttelte den Umschlag, doch es fielen weder ein Brief noch irgendein Zettel heraus. Sie betrachtete die armseligen Gegenstände auf dem Tisch. War das wirklich alles, was sie dort zurückgelassen hatte? Wie war es möglich, so wenige Spuren zu hinterlassen?
Das Telefon klingelte, und sie griff danach. Bereits in dem Moment, als sie das tat, wünschte sie, sie hätte das Band laufen lassen.
»Frieda. Du musst mir helfen. Ich bin mit meinem Latein am Ende, und dieser dämliche Idiot von ihrem Vater ist mir auch keine Hilfe.«
»Ich höre mit, nur damit du es weißt«, meldete Chloë sich zu Wort. »Auch wenn es dir lieber wäre, es gäbe mich gar nicht.«
Frieda hielt den Hörer ein Stück von ihrem Ohr weg. »Hallo?«, sagte sie. »Mit welcher von euch beiden soll ich reden ?«
»Mit mir«, antwortete Olivia schrill. Ich habe dich angerufen, weil ich mir einfach keinen Rat mehr weiß. Und wenn eine gewisse Person unhöflich genug ist, den anderen Hörer abzuheben und unser Gespräch zu belauschen, dann ist diese Person selber schuld, wenn sie Dinge zu hören bekommt, die ihr vielleicht nicht gefallen.«
»Bla, bla, bla, bla!«, johlte Chloë. »Sie will mir Hausarrest verpassen, weil ich betrunken war. Ich bin sechzehn. Mir war so übel, dass ich kotzen musste. Na und? Das ist doch keine große Sache. Sie sollte sich lieber selbst Hausarrest geben.«
»Chloë, hör zu …«
»So, wie sie mit mir redet, würde ich nicht mal mit einem Hund reden.«
»Ich auch nicht. Ich mag Hunde. Hunde schreien nicht, nörgeln nicht und tun sich auch nicht selber leid.«
»Dein Bruder hat mir gerade erklärt, so etwas gehöre eben zum Erwachsenwerden«, meldete Olivia sich wieder zu Wort und unterstrich ihren Beitrag mit einem abschließenden Schluchzer. Sie bezeichnete David immer dann als Friedas Bruder oder Chloës Vater, wenn sie noch wütender auf ihn war als üblich. »Er sollte lieber mal versuchen, selbst erwachsen zu werden. Schließlich war er derjenige, der sich eine junge Schlampe mit gefärbtem Haar aufgerissen hat und mit ihr auf und davon ist.«
»Vorsicht, Olivia«, warnte Frieda sie in scharfem Tonfall.
»Wenn du mir Hausarrest verpasst, gehe ich und bleibe bei ihm!«
»Das wäre wunderbar, aber wie kommst du auf die Idee, dass er dich haben will? Er hat dich verlassen, oder etwa nicht?«
»Ihr beide müsst mit diesem Unsinn sofort aufhören«, ermahnte Frieda sie.
»Er hat nicht mich verlassen, sondern dich. Was ich ihm nicht verdenken kann.«
»Ich lege jetzt auf«, verkündete Frieda sehr laut und setzte ihre Drohung umgehend in die Tat um.
Sie stand auf, schenkte sich ein kleines Glas Weißwein ein und setzte sich wieder. Sie betrachtete erneut die Sachen, die Sandy ihr zurückgeschickt hatte, und drehte nachdenklich eine der Haarklammern zwischen den Fingern hin und her. Das Telefon klingelte erneut.
»Hallo«, meldete Olivia sich kleinlaut.
»Hallo.« Frieda wartete.
»Ich habe die Lage gar nicht gut im Griff.«
Frieda nahm einen Schluck Wein. Sie dachte an ihre Badewanne, ihr Buch, das bereits vorbereitete Feuer und die Dinge, über die sie nachdenken wollte. Draußen war Winter, und ein kalter Wind blies durch die dunklen Straßen. »Soll ich vorbeischauen ?«, fragte sie. »Das wäre nämlich kein Problem.«