16

Als Tanner aufmachte, starrte er den Mann, der vor seiner Haustür stand, überrascht an. Detective Inspector Malcolm Karlsson stellte sich vor.

»Meine Assistentin hat mit Ihnen telefoniert«, fügte Karlsson hinzu.

Tanner nickte und führte ihn in ein schäbiges Wohnzimmer. In dem Raum war es kalt. Tanner ließ sich auf die Knie nieder und fummelte an einem elektrischen Heizkörper herum, der im offenen Kamin stand. Anschließend hantierte er eine Weile hektisch in der Küche, um für seinen Gast Tee zu kochen. Während er ihn zubereitete und servierte, blickte Karlsson sich im Zimmer um. Er musste daran denken, wie er als Kind oft mit seinen Großeltern Freunde oder entfernte Verwandte von ihnen besucht hatte. Selbst dreißig Jahre später roch diese Erinnerung noch nach Langeweile und lästiger Pflicht.

»Ich mache Ihren früheren Job«, erklärte Karlsson und hatte dabei sofort das Gefühl, dass seine Worte wie ein Vorwurf klangen. Tanner sah gar nicht aus wie ein Detective. Nicht einmal wie ein pensionierter. Er trug eine alte Strickjacke und eine glänzende graue Hose und hatte sich nicht sehr sauber rasiert, sondern etliche kleine Stoppelfelder stehen lassen.

Tanner goss Tee in zwei unterschiedlich große Becher, von denen er den größeren seinem Gast reichte. »Ich hatte ursprünglich nicht vor, in Kensal Rise zu bleiben«, bemerkte er. »Nachdem ich frühzeitig in Pension gegangen war, wollten wir eigentlich an die Küste umziehen. An irgendeinen netten Ort im Osten, vielleicht Clacton oder Frinton. Wir hatten uns sogar schon Broschüren besorgt. Dann erkrankte plötzlich meine Frau. Dadurch wurde das alles ein bisschen kompliziert. Sie ist oben. Vermutlich werden Sie sie irgendwann nach mir rufen hören.«

»Das tut mir leid«, sagte Karlsson.

»Normalerweise sind es doch immer die Männer, die unmittelbar nach der Pensionierung krank werden. Aber mir fehlt nichts. Abgesehen davon, dass ich mich oft ziemlich fertig fühle.«

»Ich habe mich mal ein paar Tage um meine Mum gekümmert, nachdem sie operiert worden war«, erzählte Karlsson. »Das fand ich viel anstrengender als meine Arbeit als Polizist.«

»Sie klingen gar nicht wie ein Polizist«, meinte Tanner.

»Wie klinge ich denn?«

»Anders. Ich nehme an, Sie haben studiert.«

»Ja, stimmt. Sie meinen, ich unterscheide mich dadurch von den anderen Jungs?«

»Ja, vermutlich. Was haben Sie studiert?«

»Jura.«

»Pure Zeitverschwendung.«

Karlsson nahm einen Schluck von seinem Tee. Er konnte auf der Oberfläche kleine Milchklümpchen herumschwimmen sehen und registrierte einen leicht säuerlichen Geschmack.

»Ich weiß, warum Sie hier sind«, fuhr Tanner fort.

»Wir suchen nach einem vermissten Jungen. Wir haben ein paar Parameter erstellt. Alter des Kindes, Tageszeit, Örtlichkeit, äußere Umstände, all diese Dinge. Daraufhin hat unser Computer einen Namen ausgespuckt. Nur einen. Joanna Vine. Oder hieß sie Jo?«

»Joanna.«

»Meiner heißt Matthew Faraday. Die Zeitungen nennen ihn Mattie. Wahrscheinlich passt das besser in eine Schlagzeile. Der kleine Mattie. Aber sein Name ist Matthew.«

»Sie ist vor zwanzig Jahren verschwunden.«

»Zweiundzwanzig.«

»Außerdem wurde Joanna in Camberwell entführt. Bei dem kleinen Jungen war es Hackney, nicht wahr?«

»Sie haben die Geschichte verfolgt.«

»Es bleibt einem gar nichts anderes übrig.«

»Das stimmt. Sprechen Sie weiter.«

»Joanna verschwand im Sommer. Jetzt haben wir Winter.«

»Sie sind also nicht überzeugt?«

Tanner überlegte einen Moment, ehe er antwortete. Langsam bekam er wieder mehr Ähnlichkeit mit dem leitenden Detective, der er einmal gewesen war. »Überzeugt?«, wiederholte er schließlich. Dann zählte er die Unterschiede an den Fingern ab. »Mädchen, Junge. Londoner Norden, Londoner Süden. Sommer, Winter. Hinzu kommt der zeitliche Abstand von zwanzig Jahren. Wie stellen Sie sich das vor? Er schnappt sich ein Kind, wartet ein halbes Leben lang und holt sich dann ein zweites? Trotzdem sind Sie der Meinung, dass die beiden Fälle zusammenhängen. Gibt es da etwas, das Sie der Presse verschwiegen haben?«

»Nein«, antwortete Karlsson. »Sie haben recht. Auf den ersten Blick weisen die beiden Fälle keinerlei Parallelen auf. Ich bin die Sache aus einer ganz anderen Richtung angegangen. Jedes Jahr verschwinden Tausende von Kindern. Ein Großteil sind Teenager, die von zu Hause ausreißen. Zieht man dann auch noch die Kinder ab, die von Familienangehörigen entführt werden oder Unfällen zum Opfer fallen, bleibt am Ende nur eine ganz kleine Zahl übrig. Wie viele Kinder werden bei uns jährlich von einem Fremden getötet? Vier oder fünf?

»In etwa, ja.«

»So gesehen, ähneln sich diese beiden Vermisstenfälle sehr wohl. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie schwierig es ist, ein Kind zu entführen. Man muss sich das Kind schnappen, ohne dass es Theater macht und jemand anderer etwas davon mitbekommt. Bei einem ermordeten Kind gilt es, die Leiche so gut zu verstecken, dass sie nicht gefunden wird. In anderen Fällen müssen die Kleinen erst ins Ausland verfrachtet werden oder was weiß ich noch alles.«

»Ist die Presse über Ihre Theorie informiert?«

»Nein, und ich werde sie auch bestimmt nicht mit der Nase darauf stoßen.«

»Es handelt sich nur um eine Theorie, nicht um Tatsachen«, gab Tanner zu bedenken. »Sie können nicht Ihre ganzen Ermittlungen darauf aufbauen. Das war damals auch unser Problem. Wir sind davon ausgegangen, dass es jemand aus der Familie war. Das legt allein schon die Statistik nahe. Es ist immer jemand aus der Familie. Wenn die Eltern getrennt sind, ist es der Vater oder ein Onkel. Wenn ich mich richtig erinnere, konnte der Vater anfangs kein wasserdichtes Alibi vorweisen, deswegen haben wir viel zu viel Zeit mit ihm vergeudet.«

»Hat sich sein Alibi dann doch als wasserdicht entpuppt?«

»Zumindest als ausreichend«, antwortete Tanner bedrückt.

»Zuerst dachten wir, wir müssten ihm nur genug zusetzen, dann würde er schon zusammenbrechen – in der Hoffnung, dass er seine Tochter nicht schon getötet hatte. Denn so läuft es doch immer, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Aber das brauche ich Ihnen alles ja gar nicht zu erzählen. Sie haben bestimmt die Akte gelesen.«

»Stimmt. Ich habe dafür einen ganzen Tag gebraucht. Herausgekommen ist dabei so gut wie nichts. Ich wollte Sie fragen, ob es damals irgendetwas gab, das Sie nicht in die Akte geschrieben haben. Vielleicht einen Verdacht, ein Bauchgefühl, irgendwelche Vermutungen.«

Tanner lehnte sich auf dem Sofa zurück und atmete tief durch. »Wollen Sie jetzt von mir hören, dass mir der Fall keine Ruhe ließ? Dass ich deswegen frühzeitig in Pension gegangen bin?«

»War es so?«

»Mit den Leichen konnte ich umgehen. Ich konnte sogar damit umgehen, wenn einer ungestraft davonkam, obwohl ich genau wusste, dass er es war. Ich konnte damit umgehen, wenn der Anwalt neben ihm auf dem Gehsteig stand und sich darüber ausließ, dass sein Mandant nun rehabilitiert sei, und dem Gericht für sein Urteil danke. Am Ende lief es nur auf den Papierkram und die Zielvorgaben hinaus. Am Ende konnte ich es einfach nicht mehr ertragen.«

»Joanna Vine«, sagte Karlsson in sanftem Ton. »Was ist aus den Ermittlungen geworden?«

»Nichts. Absolut nichts. Ich werde Ihnen sagen, wie das war. In meiner Küche habe ich ein Schränkchen, an dessen Tür der Griff fehlt. Um sie aufzubekommen, muss man die Fingernägel in die Ritze schieben. Bei den Ermittlungen im Fall Joanna Vine ging alles seinen gewohnten Gang. Wir richteten eine Einsatzzentrale ein, nahmen Hunderte von Zeugenaussagen auf, schrieben Berichte, gaben Pressekonferenzen und hielten Besprechungen über unsere Fortschritte ab. Aber es gab keinen einzigen richtigen Hinweis – keinen Ansatzpunkt, in den man die Fingernägel schieben konnte.«

»Wie ging das damals weiter?«

»Für die Pressekonferenzen waren bald keine großen Räume mehr nötig. Wir wussten nicht mehr, was wir noch tun sollten. Plötzlich war ein Jahr vergangen. Nichts war passiert. Niemand war zusammengebrochen.«

»Was für einen Eindruck hatten Sie?«

»Was für einen Eindruck? Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.«

»Ich meine, wonach roch die Sache für Sie? In welche Richtung gingen Ihre Vermutungen?«

Tanner lächelte säuerlich. »Ich bin aus dem Fall nicht schlau geworden. Nach ein paar Tagen befürchtete ich, dass wir sie in einem Graben oder Kanal finden würden oder in einem flachen Grab. Diese kranken Mistkerle handeln doch meistens aus einem spontanen Impuls heraus. Hinterher wollen sie nur möglichst schnell alles loswerden, was sie belasten könnte. In diesem Fall hatte ich nicht das Gefühl, dass es sich so verhielt, konnte aber auch nicht sagen, was für ein Gefühl ich stattdessen hatte. Da war einfach nichts. Wie analysiert man nichts? Vielleicht hat er – oder sie – schlicht und ergreifend den richtigen Ort für ihr Grab gefunden. Wie laufen denn Ihre Ermittlungen ?«

»So ähnlich wie Ihre. Ein paar Stunden lang haben wir gehofft, dass er wieder auftauchen würde. Dass er sich verlaufen oder in einem Schrank versteckt hatte oder bei einem Freund geblieben war. Wir haben mit den Eltern gesprochen. Sie sind nicht getrennt. Wir haben mit einer Tante gesprochen. Der Bruder der Frau wohnt ganz in der Nähe. Er ist arbeitslos und trinkt. Wir haben ihn ziemlich in die Mangel genommen. Jetzt warten wir.«

»Wie sieht es mit Überwachungskameras aus?« »Er ist entweder sehr clever oder hatte Glück. Wie sich herausgestellt hat, funktioniert die Kamera am Schultor nicht. Es ist ein gut gehütetes Geheimnis, dass etwa ein Viertel der Kameras kaputt oder nicht eingeschaltet ist. Trotzdem wissen wir, dass der Kleine aus dem Schulhof marschiert ist. In der Nähe seines Elternhauses gibt es ein paar Kameras, die an Geschäftsgebäuden und neben einem Pub angebracht sind. Auf denen war er nicht zu sehen, aber angeblich sind sie schlecht ausgerichtet, sodass sich daraus auch keine gesicherten Erkenntnisse ziehen lassen. Fest steht allerdings, dass er auf dem Heimweg an einem Park vorbeimusste, wo es keinerlei Kameras gibt.«

»Könnten Sie nicht die Kennzeichen der Autos überprüfen, die in das Viertel hineingefahren sind und dann wieder heraus?«

»Wir sprechen hier von Hackney, nicht von einem Rotlichtviertel um zwei Uhr morgens. Da wüssten wir doch gar nicht, wo wir anfangen sollten.«

»Vielleicht müssen Sie nun auch wieder zwanzig Jahre warten.«

Karlsson erhob sich. Er zog eine Karte aus seiner Brieftasche und reichte sie Tanner, der auf eine ironische Weise amüsiert wirkte. »Sie wissen ja, was jetzt kommt«, meinte Karlsson, »aber wenn Ihnen noch etwas einfällt, und sei es nur eine Kleinigkeit, dann rufen Sie mich an.«

»Das ist kein gutes Gefühl, stimmt’s?«, antwortete Tanner. »Wenn man sich auf den Weg machen und mit jemandem wie mir sprechen muss?«

»Unser Gespräch war für mich durchaus hilfreich. Ich bin fast froh darüber, dass es für Sie auch so schlimm war wie für mich.«

Zusammen gingen sie zur Tür.

»Das mit Ihrer Frau tut mir leid«, bemerkte Karlsson. »Besteht Aussicht auf Besserung?«

»Nein, es wird immer schlechter«, entgegnete Tanner. »Der Arzt sagt, es wird lange dauern. Brauchen Sie ein Taxi?«

»Mein Fahrer wartet draußen.«

Als Karlsson vor die Tür trat, fiel ihm noch etwas ein, das er eigentlich gar nicht hatte sagen wollen. »Ich träume von ihm«, gestand er. »Wenn ich aufwache, kann ich mich an keine Einzelheiten erinnern, weiß aber, dass der Traum von ihm handelte.«

»So ist es mir damals auch ergangen«, meinte Tanner. »Ich habe es dann mit ein paar Gläschen vor dem Zubettgehen versucht. Manchmal hat es geholfen.«

 

»Du hast mir gestern Nacht gefehlt«, erklärte Sandy.

Frieda blickte sich in der Küche um. Sie erschien ihr bereits wie fremdes Territorium.

»Ich habe gerade gefrühstückt«, fuhr er fort. »Möchtest du…«

»Nein, danke.«

»Wenigstens regnet es nicht mehr. Du siehst heute sehr gut aus. Ist das eine neue Jacke?«

»Nein.«

»Ich quatsche wie ein Idiot vor mich hin. Das mit gestern Abend tut mir leid. Bitte entschuldige. Du hattest allen Grund, wütend zu sein.«

»Jetzt bin ich nicht mehr wütend.«

»Nein«, sagte Sandy. »Weil du beschlossen hast, nicht mitzukommen. Habe ich recht?«

»Ich kann hier nicht alles stehen und liegen lassen«, erklärte sie. »Nicht einmal, um mit dir zusammen zu sein.«

»Hast du denn gar keine Angst davor, das zu verlieren, was wir beide haben?«

Frieda hatte es nicht vorgehabt, aber irgendwie küssten sie sich plötzlich. Dann zog er ihr Jacke und Bluse aus, und sie stolperten gemeinsam zum Sofa hinüber. Sandy presste seinen Mund auf den ihren, und sie schlang die Arme um seinen nackten Rücken, um ihn ein letztes Mal an sich zu ziehen. Er rief immer wieder ihren Namen. Sie wusste, dass sie nachts aufwachen und diesen Ruf hören würde.

Hinterher sagte sie: »Das war ein Fehler.«

»Das sehe ich nicht so. Ich fahre doch erst nach Weihnachten. Lass uns die Zeit bis dahin noch gemeinsam verbringen. Lass uns darüber reden.«

»Nein. Ich mag keine langen Abschiede.«

»Wie kannst du es ertragen, jetzt zu gehen? Nach dem, was gerade war?«

»Leb wohl, Sandy.«

Nachdem sie die Wohnung verlassen hatte, trat er ans Fenster und blickte auf den Platz hinunter, auf dem sie gleich auftauchen würde. Nach ein paar Minuten war sie da: eine schlanke, aufrechte Gestalt, die raschen Schrittes auf die Straße zusteuerte. Sie sah nicht zu ihm empor.