13
Schon vor sehr langer Zeit hatte Frieda gelernt, ihr Leben so zu organisieren, dass es heiter und verlässlich wie ein Wasserrad dahinlief – ein Rad, bei dem jedes Segment in Bewährtes eintauchte, ehe es wieder nach oben strebte. So verlebte sie einen vertrauten Tag nach dem anderen mit dem guten Gefühl, klar umrissenen Zielen zu folgen: Ihre Patienten kamen an den vereinbarten Tagen, sie traf sich mit Reuben, unternahm etwas mit Freunden, unterrichtete Chloë in Chemie und saß abends mit einem Buch am Kamin oder fertigte in ihrem Arbeitszimmer oben unter dem Dach mit einem weichen Bleistift kleine Zeichnungen an. Olivia betrachtete Ordnung als eine Art Gefängnis, das einen davon abhielt, neue Erfahrungen zu machen. Dagegen war es für sie ein Ausdruck von Freiheit, wenn man leichtsinnig und chaotisch lebte. Nach Friedas Meinung aber gab einem Ordnung die Freiheit zu denken – seine Gedanken in den Raum hineinfließen zu lassen, den man für sie geschaffen hatte, und die richtige Bezeichnung und Form für Ideen und Gefühle zu finden, die im Lauf des Tages das Wasser trübten wie Schlamm oder Tang. Indem man sie benannte, bettete man sie sozusagen zur Ruhe. Manche Dinge aber wollten nicht ruhen. Sie waren wie aufgewühlter Schlamm, der sich unter der Oberfläche bewegte und Frieda Unbehagen bereitete.
Jetzt gab es in ihrem Leben auf einmal Sandy. Sie aßen, redeten und schliefen miteinander, doch dann kehrte Frieda nach Hause zurück, ohne bei ihm zu übernachten. Auf eine sehr komplizierte, beunruhigende und aufregende Weise fingen sie gerade an, eine Bindung aufzubauen, einander immer besser kennenzulernen, einander zu erforschen und Dinge anzuvertrauen. Wie weit wollte sie ihn in ihr Leben lassen? Wollte sie Teil eines Paars werden und in Zukunft zu zweit durchs Leben marschieren wie zwei Bergsteiger an einem Seil?
Nun hatte Sandy zum ersten Mal in ihrem Haus übernachtet. Frieda hatte ihm nicht verraten, dass noch kein anderer Mann dort über Nacht geblieben war, seit sie es gekauft hatte. Sie waren im Kino gewesen, hatten danach in einem kleinen italienischen Restaurant in Soho zu später Stunde noch eine Kleinigkeit gegessen und waren anschließend zu ihr gegangen. Schließlich lag ihr Haus ganz in der Nähe, da bot sich das an, hatte sie erklärt, als wäre es ein spontaner Entschluss und kein entscheidender Schritt. Inzwischen war Sonntagmorgen. Frieda war sehr früh aufgewacht und hatte beim Anblick der Gestalt neben ihr einen Schreck bekommen. Dann war es ihr wieder eingefallen. Sie war leise aus dem Bett gekrochen, hatte geduscht und war dann hinuntergegangen, um Feuer im Kamin und sich eine Tasse Kaffee zu machen. Dass sich außer ihr noch jemand im Haus befand, fühlte sich seltsam an und brachte sie irgendwie aus dem Konzept. Wann würde er nach Hause gehen? Was, wenn er es nicht tat?
Als Sandy herunterkam, war Frieda gerade damit beschäftigt, die Rechnungen und Geschäftsbriefe zu öffnen, die sie immer bis zum Wochenende liegen ließ.
»Guten Morgen!«
»Hallo.« Sie klang so kurz angebunden, dass Sandy fragend die Brauen hob.
»Ich kann sofort gehen«, erklärte er, »oder du machst mir eine Tasse Kaffee, und ich verschwinde dann.«
Frieda blickte auf und lächelte, wenn auch ein wenig gequält. »Entschuldige. Ich mache dir einen Kaffee. Oder …«
»Ja?«
»Normalerweise gehe ich am Sonntagmorgen immer in das Café gleich um die Ecke. Dort frühstücke ich und lese die Zeitung. Dann spaziere ich zum Markt in der Columbia Road und kaufe mir Blumen oder schaue sie mir einfach nur an. Du kannst mitkommen, wenn du magst.«
»Ja, gern.«
Gewöhnlich frühstückte Frieda am Sonntag immer das Gleiche: einen getoasteten Zimtbagel und eine Tasse Tee. Sandy bestellte sich eine Schüssel Porridge und einen doppelten Espresso. Kerry, die ihre Bestellungen entgegennahm, bemühte sich um eine geschäftsmäßige Miene. Als sie jedoch Friedas Blick auffing, zog sie anerkennend die Augenbrauen hoch, was Frieda mit einem Flunsch quittierte. Kerry ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Allerdings hatten sie und Marcus ohnehin wenig Zeit für die beiden, weil sich die Nummer 9 rasch füllte. Nur Katya war ohne Beschäftigung und wanderte zwischen den Tischen umher. Hin und wieder machte sie am Tisch von Sandy und Frieda halt, befeuchtete ihren Zeigefinger und steckte ihn in die Zuckerdose, um ihn anschließend genüsslich abzulecken.
Neben der Theke lag immer ein Stapel Zeitungen. Frieda holte ein paar davon und legte sie zwischen sich und Sandy. Dabei hatte sie plötzlich das beunruhigende Gefühl, dass sie beide sich im Lauf der letzten Tage in ein typisches Pärchen verwandelt hatten – eines, das zusammen Veranstaltungen besuchte, die Nacht miteinander verbrachte und am Sonntagmorgen in einvernehmlichem Schweigen Zeitung las. Sie biss ein großes Stück von ihrem Bagel ab und trank einen Schluck Tee. War das denn so schlimm?
Während der Woche kam Frieda selten dazu, die Zeitung von vorn bis hinten zu lesen, deshalb gönnte sie sich diesen Luxus meist am Sonntag. In der letzten Zeit aber war sie ganz auf Sandy fixiert gewesen. Irgendwie hatte sie zugelassen, dass sich ihre Welt nur noch um ihn und ihre Arbeit drehte. Nun machte sie Sandy gegenüber eine dahingehende Bemerkung. »Wobei es vielleicht gar nicht schadet, hin und wieder vom Geschehen auf der Welt abgeschnitten zu sein«, fügte sie hinzu. »Ändern kann ich ja sowieso nichts daran. Deshalb muss ich auch nicht unbedingt wissen, ob irgendwelche Aktien um einen Punkt gestiegen sind oder nicht. Oder dass jemand, den ich nicht kenne, einer Person, die ich ebenso wenig kenne, etwas Schreckliches angetan hat. Oder dass eine Berühmtheit, von der ich noch nie etwas gehört habe, mit einer anderen Berühmtheit Schluss gemacht hat, von der ich auch noch nie etwas gehört habe.«
»Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich eine Schwäche für die Klatschspalten habe«, entgegnete Sandy. »Ich … Was ist?«
Frieda hörte ihm nicht mehr zu. Sie war plötzlich ganz von einer Nachricht gefangen, die sie gerade überflog.
Sandy beugte sich zu ihr hinüber und las die Schlagzeile: »›Kleiner Mattie immer noch vermisst: Mums tränenreicher Hilferuf‹. Davon hast du doch bestimmt gehört. Es ist gerade erst passiert. Gestern waren alle Zeitungen voll davon.«
»Nein«, murmelte Frieda.
»Stell dir vor, was die Eltern durchmachen müssen.«
Frieda betrachtete das drei Spalten breite Foto eines kleinen Jungen mit leuchtend rotem Haar, Sommersprossen und einem schiefen Grinsen im Gesicht. Der Blick seiner braunen Augen war dem Fotografen zugewandt. »Freitag«, sagte sie.
»Wahrscheinlich ist er inzwischen schon tot. Die arme Lehrerin, die ihn nicht aufgehalten hat, tut mir leid. Sie ist zu einer Zielscheibe des Hasses geworden.«
Frieda hörte gar nicht so richtig, was er sagte. Sie überflog den Rest des Artikels über Matthew Faraday, der am Freitagnachmittag unbemerkt aus seiner Grundschule in Islington entwischt war und zuletzt gesehen worden war, als er auf einen etwa hundert Meter entfernten Süßwarenladen zusteuerte. Frieda griff nach einer anderen Zeitung und las dieselbe Geschichte noch einmal. Diese zweite Version war ein wenig lebendiger geschrieben und brachte als Zusatzinformation die Meinung eines Experten für Täterprofile. Frieda blätterte nacheinander alle Zeitungen durch – wie es schien, waren alle Blickwinkel abgedeckt worden: Es gab Artikel über das Leid der Eltern, über die polizeilichen Ermittlungen, die betroffene Schule, die Reaktionen der Gemeinde und die Frage, wie sicher unsere Kinder heutzutage waren.
»Was für ein seltsamer Zufall«, sagte Frieda, als spräche sie mit sich selbst.
Es regnete, sodass sich auf dem Blumenmarkt nicht viele Leute aufhielten. Frieda war froh über den Regen. Sie spürte ihn gern auf ihrem Haar, und sie war dankbar für die menschenleeren Straßen. Zusammen mit Sandy schlenderte sie an Ständen vorbei, die große Blumensträuße und Pflanzen verkauften. Obwohl erst Mitte November war, boten sie schon die ersten Dinge für Weihnachten an: Amaryllisblüten, Stechpalmenzweige, Weihnachtssterne in schönen Keramiktöpfen, Kränze für die Haustüren und sogar Sträuße aus Mistelzweigen. Frieda schenkte all dem keine Beachtung. Sie hasste Weihnachten und auch die Vorweihnachtszeit, die Hektik der Leute beim Einkaufen, den ganzen Tand in den Läden, die weihnachtliche Beleuchtung der Straßen, die viel zu früh angebracht wurde, die Weihnachtslieder, die Tag für Tag aus überheizten Läden schallten, die Flut aus Katalogen, die auf ihrer Türmatte und anschließend sofort in der Mülltonne landeten, und vor allem, dass unablässig der Wert der Familie betont wurde. Für Frieda hatte die Familie keinen Wert. Von ihrer eigenen hielt sie überhaupt nichts, und ihre Familie nichts von ihr. Zwischen ihnen klaffte eine große, unüberwindbare Kluft.
Der Wind zerrte an den Markisen der Stände. Frieda blieb stehen, um einen großen Strauß bronzefarbener Chrysanthemen zu kaufen. Alan Dekker hatte von einem Sohn mit rotem Haar geträumt. Der rothaarige Matthew Faraday war verschwunden. Ein unheimlicher, aber sicher bedeutungsloser Zufall. Sie steckte ihr Gesicht in die duftende Feuchtigkeit der Blumen und atmete tief ein. Ende der Geschichte.
Trotzdem ging ihr die Sache nicht aus dem Kopf. An diesem Abend – an dem ein heftiger Wind die Deckel von den Mülltonnen wehte und die Straßen entlangscheppern ließ, die Bäume zu seltsamen Formen verbog und die Wolken in dunklen Knäueln am Himmel dahinjagte – erklärte sie Sandy, dass sie eine Weile allein sein wolle, und unternahm einen Spaziergang. Wie sich herausstellte, führte ihr Weg sie nach Islington, vorbei an den vornehmen Häusern und gepflegten Plätzen, hinein in den weniger wohlhabenden Teil. Es dauerte nicht lange, nur so um die fünfzehn Minuten, bis sie schließlich vor dem Teppich aus Blumen stand, der sich bereits vor der Grundschule ausgebreitet hatte, wo Matthew zuletzt gesehen worden war. Zum Teil begannen die Blumen in ihren Zellophanhüllen schon zu welken, sodass Frieda ein süßlicher Hauch von Fäulnis in die Nase stieg.
Wale sind keine Fische. Spinnen haben acht Beine. Schmetterlinge entwickeln sich aus Raupen und Frösche aus Kaulquappen und Kaulquappen aus dem dicken getüpfelten Gelee, das Mrs. Hyde manchmal in einem Marmeladenglas in die Schule mitbrachte. Zwei und zwei macht vier. Zwei und zwei macht vier. Zwei und zwei macht vier. Er wusste nicht, was als Nächstes passierte, er konnte sich nicht erinnern. Mummy wird bestimmt bald kommen. Wenn er die Augen fest zusammenkniff und ganz langsam bis zehn zählte – ein Rhinozeros, zwei Rhinozerosse – und sie dann wieder aufschlug, würde sie da sein.
Er schloss ganz fest die Augen, zählte und schlug sie dann wieder auf. Es war immer noch dunkel. Sie war böse auf ihn, das war der Grund. Sie wollte ihm eine Lektion erteilen, weil er den Schulhof verlassen hatte, ohne dass sie ihn fest an ihrer warmen Hand hielt. Das darfst du niemals tun, hatte sie gesagt, versprich mir das, Matthew. Er hatte es ihr versprochen. Großes Indianerehrenwort. Er hatte die Süßigkeiten gegessen. Nimm niemals von einem Fremden etwas zu essen an, Matthew. Es war ein Zauber. Zaubertränke konnten einen in etwas anderes verwandeln, so klein machen wie ein Insekt in einer Ecke des Raums, und dann würde Mummy ihn nicht sehen. Womöglich trat sie sogar auf ihn. Oder er hatte ein anderes Gesicht, einen anderen Körper, den Körper eines Raubtiers oder eines Monsters, in dem er feststeckte. Sie würde ihn ansehen und nicht begreifen, dass er es war, Matthew, ihr kleiner Muffin, ihr Honigkuchen. Aber seine Augen wären noch dieselben, nicht wahr? Er würde immer noch mit seinen eigenen Augen aus seinem Körper blicken. Vielleicht musste er auch rufen und schreien, ihr sagen, wer er in Wirklichkeit war, aber sein Mund war zugeklebt, und wenn er weinte, hörte er nur ein Summen in seinem Kopf, fast wie ein Echo. Er musste an das Tuten denken, das man hörte, wenn man mit Mummy und Daddy auf dem Weg in den Urlaub war und mit einer Fähre über das Meer fuhr. Ein einsames Tuten in der Ferne, von dem man eine Gänsehaut bekam, auch wenn man eigentlich nicht wusste, warum. In dem Moment wollte man nur in den Arm genommen werden und sich sicher fühlen vor der Welt, die so weit und tief und voller Überraschungen war, dass einem vor Angst fast das Herz in der Brust zersprang.
Er musste aufs Klo. Verzweifelt konzentrierte er sich darauf, doch nicht aufs Klo zu müssen. Er war zu groß, um in die Hose zu pinkeln. Die Leute lachten über große Jungs, die noch in die Hose machten. Sie zeigten mit dem Finger auf sie und hielten sich die Nase zu. Erst war die Nässe warm, dann kalt, dann brannte die Kälte an seinem Oberschenkel, und er bekam den schwachen, aber trotzdem durchdringenden Geruch nicht mehr aus der Nase. Seine Augen waren auch nass und brannten. Er konnte sich die Tränen nicht aus dem Gesicht wischen. Mummy. Daddy. Es tut mir so leid, dass ich unartig war. Wenn ihr mich jetzt mit nach Hause nehmt, werde ich ganz brav sein, das verspreche ich.
Oder er war in eine Schlange verwandelt worden, denn seine Arme waren keine Arme mehr, sondern irgendwie an seinem Körper festgewachsen, auch wenn er die Finger noch bewegen konnte. Genauso waren seine Füße keine Füße mehr, sondern klebten aneinander. Es war einmal ein kleiner Junge namens Matthew, der einen Zaubertrank kostete und daraufhin zur Strafe in eine Schlange verwandelt wurde – dazu verurteilt, auf dem Boden dahinzukriechen. Unter seiner Wange war Holz. Er spürte es nicht nur, sondern roch es auch. Konnte er sich vielleicht wie eine Schlange bewegen? Er zog die Beine an und streckte sich dann wieder, wodurch sein Oberkörper ruckartig nach vorn glitt. Plötzlich stieß er mit dem Gesicht an etwas Kühles, Festes, das in einer abgerundeten Spitze endete. Er stieß mit dem Kopf ein wenig dagegen, doch es rührte sich nicht von der Stelle. Daraufhin reckte er den Hals und legte die Wange auf das Ding, um herauszufinden, worum es sich handelte. Beim Versteckspielen war er einmal in den Kleiderschrank seiner Eltern gekrochen. Kichernd hatte er sich in der Dunkelheit zusammengerollt, dabei aber auch ein bisschen Angst gehabt, weil durch den Spalt in der Doppeltür nur noch ein schmaler Streifen Licht hereinfiel. Er konnte seine Eltern im ganzen Haus hören. Sie suchten ihn an albernen Orten, zum Beispiel hinter den Vorhängen. Damals hatte er den Kopf auch auf so etwas gelegt. Jetzt spürte er unter seiner tränennassen Wange die Schleife eines Schnürsenkels und einen Knoten.
Der Schuh wurde weggezogen, sodass sein Kopf unsanft auf dem Boden landete. Der Schuh stieß ihn grob in die Seite. Als plötzlich eine kleine grelle Lampe aufleuchtete, rollte er sich auf den Rücken, sodass er nun nach oben blickte, von der gleißenden Helligkeit aber so sehr geblendet wurde, dass er außer dem Licht überhaupt nichts sehen konnte. Es stach ihm in die Augen und explodierte mitten in seinem Kopf zu einer leuchtenden Blüte, doch rund um diesen pulsierenden Kern herum wirkte die Dunkelheit nur noch schwärzer.
Das Licht ging aus. Der Schuh schob ihn zur Seite. Einen Moment lang war in der Dunkelheit ein graues Rechteck zu erkennen, dann machte es Klick, und das Grau verschwand.