35
Frieda saß mit Alan in einem kleinen kahlen Raum. Sie hörte Telefone klingeln. Jemand brachte ihnen lauwarmen, sehr milchigen Tee und verschwand dann wieder. Der Minutenzeiger der Wanduhr drehte sich langsam, während der Nachmittag verging. Draußen glitzerte alles frostig, aber bei ihnen im Raum war die Luft abgestanden und schwül warm. Sie sprachen kaum miteinander, denn dafür war das nicht der richtige Ort. Alan zog immer wieder sein Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Irgendwann schlief er ein. Frieda erhob sich und spähte aus dem kleinen Fenster. Draußen standen zwei Baucontainer. Die Dämmerung setzte bereits ein.
Die Tür ging auf. Es war Karlsson. »Kommen Sie.« Frieda sah auf den ersten Blick, dass er vor Wut kochte. Sein Gesicht zuckte, als könnte er sich kaum beherrschen.
»Was ist los?«
»Folgen Sie mir!«
Sie durchquerten ein Großraumbüro, in dem hektische Betriebsamkeit herrschte. Ständig klingelten Telefone, und der ganze Raum war von Stimmengewirr erfüllt. An einem Ende war eine Besprechung im Gange. Vor einer Tür blieb Karlsson stehen.
»Da drin ist jemand, mit dem Sie reden sollten«, erklärte er mit grimmiger Miene. »Ich komme auch gleich.«
Frieda wollte ihn noch etwas fragen, doch er hatte die Tür bereits geöffnet, und sie hielt überrascht inne. Der Anblick von Seth Boundy kam für sie so unerwartet, dass sie sich im ersten Moment nicht einmal erinnern konnte, wer er war. Er sah auch anders aus. Das Haar stand ihm in kleinen Büscheln vom Kopf ab, und seine Krawatte war gelockert. Auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen. Als er Frieda sah, stand er auf, setzte sich jedoch gleich wieder.
»Sie müssen entschuldigen, aber ich verstehe nicht recht …«, begann Frieda. »Was tun Sie hier?«
»Ich wollte mich lediglich verhalten wie ein verantwortungsbewusster Bürger«, murmelte er. »Ich wollte bloß kundtun, dass ich mir um jemanden Sorgen mache, und plötzlich werde ich nach London verschleppt. Das ist wirklich …«
»Um wen machen Sie sich denn Sorgen?«, fiel Frieda ihm ins Wort.
»Eine von meinen wissenschaftlichen Hilfskräften scheint irgendwie abhanden gekommen zu sein. Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten. Sie ist schließlich eine erwachsene Frau.«
Frieda nahm ihm gegenüber Platz, stützte beide Ellbogen auf den zwischen ihnen stehenden Tisch und musterte Boundy eindringlich. Nervös schweifte sein Blick zum Fenster und wieder zurück. Als sie ihn erneut ansprach, klang ihre Stimme ruhiger, aber auch härter. »Aber warum sind Sie hier? Warum hat man Sie nach London gebracht?«
»Ich …« Er hielt inne und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Seine Brille saß schief. »Es war so eine einmalige Gelegenheit. Sie können das vielleicht nicht nachvollziehen, Sie sind ja keine Wissenschaftlerin. Solche Fälle werden immer seltener.«
»Die Adressen«, dämmerte es Frieda. Boundy sah sie verlegen an und leckte sich dabei nervös die Lippen. »Sie haben jemanden zu den Adressen geschickt, die ich Ihnen gegeben habe«, fuhr sie fort.
»Sie sollte doch nur den ersten Kontakt herstellen. Das machen wir immer so.«
»Und Sie haben seitdem nichts mehr von ihr gehört?«
»Sie geht nicht ans Telefon«, antwortete Boundy.
»Warum haben Sie mich nicht informiert?«
»Das Ganze war reine Routine.«
»Wie heißt diese wissenschaftliche Hilfskraft?«
»Katherine Ripon. Sie ist eine sehr fähige Kraft.«
»Und Sie haben sie allein losgeschickt?«
»Sie ist Psychologin. Es ging doch nur um ein kurzes Interview.«
»Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie da getan haben?«, herrschte Frieda ihn an. »Wissen Sie denn nicht, wer dieser Mann ist?«
»Woher hätte ich das wissen sollen?«, entgegnete Boundy. »Mein Eindruck war, dass Sie die Zwillinge für sich behalten wollten. Sie haben mir nichts über den Mann erzählt.«
Am liebsten hätte Frieda ihn geohrfeigt oder angeschrien, doch sie beherrschte sich. Vielleicht war es ja genauso sehr ihre Schuld wie seine. Hätte ihr nicht klar sein müssen, was er tun würde? Setzte man bei ihrem Beruf nicht eine gute Menschenkenntnis voraus? »Und Sie haben wirklich nichts von ihr gehört?«
Boundy schien gar nicht mehr mitzubekommen, was sie sagte.
»Es wird ihr doch nichts passiert sein, oder?« Er sprach mehr mit sich selbst. »Es ist nicht meine Schuld. Sie taucht bestimmt wieder auf. Ein Mensch verschwindet doch nicht einfach so.«
Karlsson wartete, bis sein Zorn ein wenig verraucht war. Er wollte weder die Beherrschung verlieren noch seine Angst zeigen. Zorn sollte eine Waffe sein, die man gezielt einsetzte, ging ihm durch den Kopf, aber keine Schwäche, die zu Kontrollverlust führte. Alle anderen Emotionen wollte er sich für später aufsparen. Ruhigen Schrittes betrat er den Raum und zog behutsam die Tür hinter sich zu. Nachdem er sich gegenüber von Dean Reeve niedergelassen hatte, betrachtete er ihn ein paar Augenblicke schweigend. Reeve hatte so große Ähnlichkeit mit dem Mann, der vorhin bei ihm im Auto gesessen hatte, dass man auf den ersten Blick überhaupt keinen Unterschied sah. Beide Männer waren eher klein und stämmig gebaut. Beide hatten ein rundes Gesicht und graues Haar mit einem Wirbel in der Mitte, und bei beiden sah man noch einen Hauch von dem roten Farbton, den ihr Haar einmal gehabt hatte – das Rot von Matthew Faraday und dem Jungen aus Alans Fantasien. Beide hatten schöne braune Augen und eine sommersprossige Haut. Sie trugen sogar beide Karohemden, wobei das von Alan eher blaugrün kariert gewesen war, wenn Karlsson sich richtig erinnerte, während Dean sich für ein farbenfroheres Karo entschieden hatte. Beide Männer kauten an den Fingernägeln und hatten die Angewohnheit, im Sitzen mit den Händen über die Oberschenkel zu reiben und die Beine in kurzen Abständen mal in die eine und mal in die andere Richtung übereinanderzuschlagen. Es war richtiggehend unheimlich – wie ein seltsamer und ziemlich beunruhigender Traum, in dem alles doppelt vorkam oder zumindest stark an etwas anderes erinnerte. Das galt sogar für die Art, wie Dean sich auf die Unterlippe biss. Doch als er dann die verschränkten Arme auf die Tischplatte stützte und zu sprechen begann, erinnerte er Karlsson überhaupt nicht mehr an seinen Zwillingsbruder, auch wenn beide die gleiche, leicht gedämpft klingende Stimme hatten.
»So schnell sieht man sich wieder«, stellte er fest.
Karlsson hatte eine Aktenmappe dabei. Er nahm ein Foto heraus und platzierte es so auf dem Tisch, dass Reeve es richtig herum vor sich liegen hatte. »Sehen Sie sich das an«, forderte er ihn auf.
Dabei beobachtete er genau Reeves Mienenspiel, weil er auf eine Reaktion hoffte, eine Spur von Wiedererkennen im Blick, doch da war nichts.
»Ist er das?«, fragte Reeve. »Der Junge, nach dem Sie suchen?«
»Lesen Sie denn keine Zeitungen?«
»Nein.«
»Und die Nachrichten im Fernsehen verfolgen Sie auch nicht?«
»Ich schaue mir nur Fußballspiele an. Terry mag am liebsten die Kochsendungen.«
»Und was ist mit diesem Foto? Haben Sie dieses Mädchen schon mal gesehen?«
Karlsson legte das alte Foto von Joanna auf den Tisch. Reeve betrachtete es ein paar Sekunden und zuckte dann mit den Schultern.
»Ist das ein Nein?«
»Wer soll das sein?«
»Wissen Sie es nicht?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich Sie dann fragen?«
Reeve sah Karlsson nicht an, wich seinem Blick aber auch nicht aus. Manche Leute brachen sofort zusammen, sobald man sie zu verhören begann. Anderen merkte man an, dass sie unter Druck standen: Sie schwitzten, stolperten über ihre Worte oder plapperten hektisch vor sich hin. Karlsson begriff schnell, dass Reeve zu keiner dieser beiden Gruppen zählte. Wenn sich sein Gesichtsausdruck überhaupt irgendwie beschreiben ließ, dann höchstens als gleichgültig oder vielleicht sogar leicht amüsiert.
»Haben Sie dazu denn gar nichts zu sagen?«, wandte Karlsson sich erneut an ihn.
»Sie haben mir keine Frage gestellt.«
»Haben Sie den Jungen schon mal gesehen?«
»Diese Frage habe ich Ihnen schon beantwortet, als sie mich das letzte Mal zu Hause besucht haben, und seitdem ist er mir auch nicht über den Weg gelaufen.«
»Wissen Sie etwas über seinen Verbleib?«
»Nein.«
»Wo waren Sie am Freitag, den dreizehnten November, gegen vier Uhr nachmittags?«
»Das hatten wir doch auch schon mal. Sie stellen mir wieder genau die gleichen Fragen. Und ich werde Ihnen die gleiche Antwort geben: Ich weiß es nicht. Das ist so lange her. Wahrscheinlich war ich arbeiten oder auf dem Heimweg von der Arbeit. Vielleicht war ich auch schon zu Hause, bereit fürs Wochenende.«
»Wo haben Sie zu der Zeit gearbeitet?«
Reeve zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich arbeite mal hier, mal da. Ich bin mein eigener Chef. Das behagt mir am besten. Da kann einen wenigstens keiner verarschen.«
»Vielleicht könnten Sie sich ein bisschen mehr bemühen, sich zu erinnern.«
»Wer weiß, womöglich habe ich an dem Tag sogar für mich selbst gearbeitet. Terry liegt mir ständig damit in den Ohren, dass ich das Haus renovieren soll. Frauen!«
»Heißt das, Sie waren zu Hause?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Mr. Reeve, wir werden alle Ihre Nachbarn befragen – jeden, der Sie an dem Tag gesehen haben könnte. Vielleicht wären Sie so freundlich, etwas genauere Angaben zu machen.«
Reeve kratzte sich mit gespieltem Ernst am Kopf. »Bei uns in der Gegend gibt es nicht viele Nachbarn«, bemerkte er, »und sehr gesellig sind wir auch nicht.«
Karlsson ließ sich zurücksinken und verschränkte die Arme. »Kommen wir zu Katherine Ripon. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt und wurde zum letzten Mal gesehen, als sie in Cambridge losfuhr, um zwei Adressen aufzusuchen. Eine davon war die Ihre.«
»Wer ist die Frau?«
»Eine Wissenschaftlerin. Sie wollte mit Ihnen über eine Art Forschungsprojekt sprechen, und nun ist sie verschwunden.«
»Worum geht es denn bei dem Projekt, über das sie mit mir sprechen wollte?«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Nein.«
»Wir werden uns auch mit Ihrer Frau unterhalten.«
»Sie ist genau wie ich in der Lage, Nein zu sagen.«
»Unser Durchsuchungsbefehl für Ihr Haus ist immer noch gültig.«
»Sie haben es doch schon durchsucht.«
»Wir durchsuchen es noch mal.«
Die Andeutung eines Lächelns huschte über Reeves Gesicht. »Ich kenne das Gefühl. Kein schönes Gefühl, was? Wenn man etwas verloren hat und vor lauter Verzweiflung anfängt, überall dort, wo man schon gesucht hat, noch einmal zu suchen.«
»Außerdem werden wir uns alle vorhandenen Videoaufzeichnungen ansehen. Wenn sie in Ihrer Gegend war, finden wir das heraus.«
»Wie schön für Sie«, antwortete Reeve.
»Falls Sie uns also etwas zu sagen haben, tun Sie das am besten gleich.«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Wenn Sie uns verraten, wo der Junge ist«, fuhr Karlsson unbeirrt fort, »dann können wir einen Deal aushandeln. Wir können dafür sorgen, dass Sie mit einem blauen Auge davonkommen. Und falls er tot ist, können Sie zumindest dieser quälenden Ungewissheit ein Ende setzen. Denken Sie an die Eltern!«
Reeve zog ein Taschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich lautstark. »Gibt es hier keinen Mülleimer?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Karlsson, »hier drin nicht.«
Reeve legte das zusammengeknüllte Taschentuch auf den Tisch.
»Wir wissen, dass Sie in die Rolle Ihres Zwillingsbruders geschlüpft sind«, erklärte Karlsson. »Warum haben Sie das getan?«
»Was getan? Ich habe doch nur ein paar Blumen verschickt.« Wieder huschte dieses angedeutete Lächeln über sein Gesicht. »Wahrscheinlich bekommt sie sonst nicht so viele Blumen. Frauen mögen Blumen.«
»Ich kann dafür sorgen, dass Sie hierbleiben.«
Reeve sah ihn nachdenklich an. »Vermutlich sollte ich jetzt wütend werden und nach einem Anwalt verlangen.«
»Wenn Sie einen wollen, können wir einen für Sie organisieren.«
»Wissen Sie, was ich wirklich will?«
»Was?«
»Eine Tasse Tee. Mit Milch und zwei Würfeln Zucker. Und vielleicht einen Keks dazu. Was die Sorte betrifft, bin ich nicht wählerisch. Ich mag alle Sorten: Kekse mit Vanillecreme genauso wie Ingwerplätzchen oder Schokokekse.«
»Das ist hier kein Café.«
»Aber wenn Sie mich hierbehalten wollen, müssen Sie mir was zu essen geben. Tatsache ist, dass Sie mein Haus bereits durchsucht und nichts gefunden haben. Nun haben Sie mich hierhergebracht und gefragt, ob ich das Kind und die Frau gesehen habe, und ich habe Nein gesagt. Damit ist die Sache für mich erledigt. Wenn Sie trotzdem wollen, dass ich hier sitzen bleibe, dann tue ich das. Und wenn Sie mich die ganze Nacht und den ganzen morgigen Tag hier sitzen lassen wollen, dann bleibe ich eben sitzen, sage aber immer noch Nein. Für mich ist das kein Problem, ich habe Geduld. Das lernt man beim Fischen. Gehen Sie auch gerne zum Fischen?«
»Nein.«
»Ich fahre am liebsten hoch zu den Stauseen. Ich spieße einen Mehlwurm auf den Haken, werfe ihn rein und setze mich einfach hin. Manchmal sitze ich da den ganzen Tag, ohne dass der Schwimmer sich bewegt, und es ist trotzdem ein guter Tag. Deswegen bleibe ich auch gerne hier sitzen und trinke Ihren Tee und esse Ihre Kekse, wenn Sie wollen. Allerdings wird Ihnen das nicht helfen, diesen Jungen zu finden.«
Karlsson blickte über Reeves Kopf hinweg auf die Wanduhr. Er beobachtete, wie sich der zweite Zeiger über das Zifferblatt bewegte. Plötzlich war ihm übel, und er musste heftig schlucken.
»Ich hole Ihnen Ihren Kaffee«, erklärte er.
»Tee«, sagte Reeve.
Karlsson verließ den Raum. Seine Kollegin Yvette Long stand schon bereit, um seinen Platz im Verhörraum zu übernehmen. Fast im Laufschritt eilte Karlsson raus auf den Hinterhof, der bisher als Parkplatz gedient hatte. Nun entstand hier ein Anbau. Gierig saugte er die kalte Luft ein, als wollte er sie in großen Schlucken trinken. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: sechs Uhr. Es kam ihm vor, als würde die Zeit wie mit Krallen an ihm kratzen. Aus einem beleuchteten Zimmer blickte ein Gesicht zu ihm heraus. Einen Augenblick glaubte er, darin das Gesicht des Mannes zu erkennen, den er gerade verhört hatte, doch dann begriff er, dass es sich um dessen Zwillingsbruder handelte, Alan. Er ging wieder hinein und bat einen Beamten, den Tee für Reeve zu holen. Er selbst begab sich ins Untergeschoss. Als er den Raum betrat, in den man Terry gebracht hatte, stritt sie gerade mit einer Polizistin. Die Beamtin wandte sich um. »Sie will hier rauchen.«
»Tut mir leid«, sagte Karlsson an Terry gewandt, »die Vorschriften sind nun mal so. Sie wissen schon, Gesundheitsschutz und Sicherheit.«
»Kann ich draußen eine rauchen?«, fragte sie.
»Gleich. Erst müssen wir uns noch ein bisschen unterhalten.«
Er ließ sich nieder und betrachtete sie. Über ihrer Jeans trug Terry eine glänzende, neongrüne Bomberjacke. Zwischen dem Saum der Jacke und dem Bund ihrer Jeans quoll eine weiße Speckrolle hervor. Karlsson erhaschte einen Blick auf den Rand einer Tätowierung. Irgendetwas Orientalisches. Er zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. »Wie lange sind Sie und Ihr Mann denn schon zusammen?«, fragte er.
»Was soll die Frage?«
»Hintergrundinformation.«
Sie presste einen Moment die Handflächen aneinander und rieb sich dann nervös die Finger. Offenbar hielt sie es ohne Zigarette kaum noch aus. »Schon immer, wenn Sie es genau wissen wollen. Und jetzt fragen Sie einfach, was Sie fragen müssen.«
Karlsson zeigte ihr das Foto des Jungen. Sie betrachtete es, als handelte es sich dabei um eine bedeutungslose Kritzelei. Als er ihr das Foto von Joanna Vine vorlegte, machte sie sich kaum die Mühe, einen Blick darauf zu werfen. Karlsson erzählte ihr vom Verschwinden Katherine Ripons, aber sie schüttelte nur den Kopf.
»Die sind mir alle drei nicht über den Weg gelaufen.«
Als er sie daraufhin fragte, was sie am dreizehnten November gemacht habe, schüttelte sie erneut den Kopf. »Keine Ahnung.« Sie hatte etwas Schwerfälliges und zugleich Unzugängliches an sich, das Karlsson wütend machte. Er spürte, wie sich seine Brust vor Ungeduld verkrampfte. Am liebsten hätte er Terry geschüttelt.
»Als wir zu Ihnen ins Haus kamen, hatten Sie gerade einen Raum im ersten Stock frisch gestrichen. Warum?«
»Der Raum hatte es eben nötig.«
»Mit jeder Minute, die vergeht«, erklärte er, »wird die Lage ernster. Aber es ist noch nicht zu spät. Wenn Sie sich dazu entschließen, mit uns zusammenzuarbeiten, tue ich alles in meiner Macht Stehende, um Ihnen zu helfen. Ich kann Ihnen wirklich helfen, und Dean auch, aber dafür müssen Sie mir sagen, was Sie über die vermissten Personen wissen.«
»Die sind mir nicht über den Weg gelaufen.«
»Falls Ihr Mann etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat und Sie ihm eine Hilfe sein wollen, dann sollten Sie jetzt besser mit der Wahrheit herausrücken.«
»Die sind mir nicht über den Weg gelaufen.«
Mehr konnte er ihr nicht entlocken.
Karlsson fand Frieda in der Cafeteria. Zuerst hatte er den Eindruck, dass sie etwas schrieb, aber als er näher kam, begriff er, dass sie zeichnete. Sehr gekonnt hatte sie auf ihrer Papierserviette das halb volle Wasserglas verewigt, das vor ihr auf dem Tisch stand.
»Sie machen das gut«, bemerkte er.
Als sie hochblickte, sah er, wie müde und blass sie wirkte. Fast schon durchsichtig. Plötzlich hatte er das Gefühl, auf der ganzen Linie versagt zu haben, und wandte den Blick ab.
»Sehen Sie Ihre Kinder an Weihnachten?«, fragte sie.
»Ja, am Heiligen Abend für eine Stunde oder so und dann noch einmal am zweiten Weihnachtsfeiertag.«
»Das muss schwer für Sie sein.«
Er zuckte nur mit den Achseln, weil er befürchtete, bei diesem heiklen Thema könnte ihm die Stimme den Dienst versagen.
»Ich habe keine Kinder«, fuhr Frieda fort, als spräche sie mit sich selbst. »Vielleicht weil ich mich diesem ganzen Schmerz nicht aussetzen will. Bei meinen Patienten kann ich es ertragen, aber wenn es um die eigenen Kinder geht… Ich weiß nicht.«
»Meine Wut auf Sie war nicht angebracht«, wechselte er das Thema. »Sie können ja im Grunde nichts dafür.«
»Nein, Sie hatten schon recht. Ich hätte ihm die Adressen nicht geben sollen.« Sie wartete einen Moment. »Bei den Reeves kommen Sie wohl nicht weiter?«
»DC Long ist gerade drinnen bei Dean Reeve, um alles noch einmal mit ihm durchzukauen. Sie hat normalerweise ein Händchen dafür, die Leute zum Reden zu bringen, aber in diesem Fall habe ich wenig Hoffnung.«
Er griff nach dem Glas, das Frieda gezeichnet hatte, trank einen Schluck und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Es gibt Leute«, erklärte er, »die dem Druck standhalten. Ich habe es gleich gespürt, als ich den Verhörraum betrat und mich ihm gegenüber niederließ. Der Kerl macht einen völlig unbekümmerten Eindruck.«
»Sie meinen, er fühlt sich sicher?«
»Sieht ganz danach aus. Er ist offenbar der Meinung, dass wir ihm nichts anhaben können. Die Frage ist nur: warum?«
Frieda wartete. Karlsson griff nach dem Glas, betrachtete es einen Moment und stellte es dann wieder hin. »Der Junge ist tot«, sagte er. »Oder wenn nicht, wird er es bald sein. Wir werden ihn nicht finden. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wir geben nicht auf. Wir tun alles in unserer Macht Stehende. Obwohl Weihnachten ist und meine Leute eigentlich bei ihren Kindern sein sollten, sind alle im Einsatz. Wir nehmen das Haus der Reeves noch einmal gründlich unter die Lupe. Wir klopfen an alle Türen, an die wir bereits geklopft haben. Wir werden uns über jeden Job informieren, den Dean Reeve im Lauf des letzten Jahres gemacht hat. Vielleicht bringt uns das ja irgendwie weiter. Wir werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Leuten die Gegend durchkämmen und dabei auch Spürhunde einsetzen. Aber Sie wissen ja selbst, wie es dort aussieht: lauter mit Brettern vernagelte Gebäude, alte Lagerhäuser, leer stehende Wohnungen. Es gibt dort Tausende solcher Wohnungen, und in jeder könnte er sein – oder an einem ganz anderen Ort. Wobei wir wahrscheinlich am ehesten nach einem frisch umgegrabenen Fleckchen Erde Ausschau halten sollten oder nach einer im Fluss treibenden Leiche.«
»Aber Sie glauben, dass Reeve unser Mann ist.«
»Ich rieche es förmlich«, erklärte Karlsson mit einem wilden Ausdruck in den Augen. »Ich weiß, dass er es ist, und er weiß, dass ich es weiß. Das ist genau der Grund, warum er das Ganze so genießt.«
»Er ist also davon überzeugt, dass Sie ihm nichts anhaben können. Warum? Wie kann er da so sicher sein?«
»Weil er alle Beweise vernichtet hat.«
»Was ist mit seiner Frau? Sagt die etwas?«
»Die?« Er schüttelte frustriert den Kopf. »Die ist noch schlimmer als er, falls das überhaupt möglich ist. Sie sitzt nur da, sieht einen an, als würde man lauter wirres Zeug reden, und wiederholt ständig den gleichen Satz. Er ist der dominante Partner, daran besteht kein Zweifel, aber es kann einfach nicht sein, dass sie nichts weiß. Ich vermute, dass sie mit Matthew das Gleiche gemacht hat, was Dean Reeves Mutter mit Joanna getan hat: das Kind in den Wagen gelockt. Aber das ist wie gesagt nur eine Vermutung. Ich habe nicht die Spur eines Beweises.«
»Gar nichts?«
»Nun ja.« Er bedachte sie mit einem grimmigen Blick. »Natürlich haben wir unseren neuen großen Joker, Kathy Ripon. Sie wollte zu ihm und ist seitdem verschwunden. Wir sprechen gerade mit den Eltern, ihrem Freundeskreis, allen Leuten, die sie gesehen haben könnten, und organisieren eine groß angelegte Suchaktion. Zusätzlich sichten wir sämtliche Videoaufzeichnungen. Mal schauen, ob wir nachweisen können, dass sie in der Gegend war. So, wie die Medien auf dem Thema herumhacken, möchte man meinen, es gäbe an jeder Ecke eine Kamera, und nichts bliebe unbeobachtet, aber dem ist keineswegs so. Außerdem habe ich manchmal das Gefühl, dass die Tage oder Wochen, die man braucht, um sich die ganzen Aufzeichnungen anzusehen, die Ermittlungen eher aufhalten als vorantreiben.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und zog eine Grimasse. »Trotzdem, wenn sie an dem Tag nach London gefahren ist, wie Professor Boundy sagt, dann müssten die Kameras sie eigentlich bei King’s Cross oder in der Liverpool Street festgehalten haben, und vielleicht können wir von dort aus ihre Spur verfolgen. Wir haben ein Zeitfenster zwischen ihrer Abreise in Cambridge im Anschluss an ihr Telefonat mit dem Professor und dem Zeitpunkt, als wir ein paar Stunden später im Rahmen unserer Ermittlungen das Haus der Reeves durchsuchten.«
»Was ist mit Alan?«
»DC Wells nimmt gerade seine Aussage auf. Natürlich war die zweite Adresse, die Kathy Ripon aufsuchen sollte, die seine.«
»Ich glaube, ich warte hier, bis er fertig ist, und begleite ihn dann nach Hause.«
»Danke. Am besten, Sie kommen danach gleich wieder her.«
»Ich arbeite nicht für Sie, falls Sie das vergessen haben.«
»Könnten Sie danach bitte noch einmal herkommen?«, versuchte er es ein zweites Mal. Allerdings verdarb er es dann wieder, indem er hinzufügte: »Na, gefällt Ihnen das besser?«
»Nicht nennenswert. Aber ich komme trotzdem wieder, weil ich gerne helfen möchte.«
»Ich kenne das Gefühl«, meinte Karlsson in verbittertem Ton. »Also, wenn gar nichts anderes mehr hilft, können Sie sich ja immer noch ihre Träume erzählen lassen.«