23

Am nächsten Nachmittag berief Karlsson eine Pressekonferenz ein, bei der die Faradays einer Reihe Fotografen und Journalisten gegenübersaßen, um an den Entführer zu appellieren, ihren Sohn herauszugeben, und gleichzeitig das öffentliche Interesse neu zu wecken.

Karlsson hatte den Vormittag damit verbracht, Hunderte von sogenannten Zeugenaussagen durchzugehen, die sein Team aufgenommen hatte. Die Berichte über angebliche Sichtungen wurden immer weniger. Nun stand er etwas abseits an der Wand und betrachtete das Paar im Scheinwerferlicht. Die Gesichter der beiden hatten sich seit Matthews Verschwinden sehr verändert. Tag für Tag hatte er miterlebt, wie der Kummer neue Falten in ihre Züge grub, ihre Haut erschlaffen ließ und den Glanz ihrer Augen dämpfte. Alec Faradays Gesicht war infolge des Überfalls immer noch geschwollen und blau, und seine Bewegungen wirkten wegen der Rippenbrüche sehr steif. Beide sahen extrem schmal und mitgenommen aus, und der Mutter versagte beinahe die Stimme, als sie von ihrem Liebling sprach. Trotzdem brachten sie die Sache recht gut über die Bühne. Sie gaben die üblichen herzerweichenden Dinge von sich. Sie baten die Welt im Allgemeinen um Mithilfe bei der Suche und den Entführer im Speziellen um die Herausgabe ihres geliebten Jungen.

Natürlich war es eine sinnlose Aktion. Für gewöhnlich dienten diese Shows in erster Linie dem Zweck, die Eltern unter Druck zu setzen und bei der Gelegenheit vielleicht herauszufinden, ob sie selbst die Schuldigen waren. In diesem Fall aber war allen klar, dass die Faradays es nicht gewesen sein konnten. Selbst die Zeitungen, für die der Vater zunächst der Hauptverdächtige gewesen war, hatten eine kühne Kehrtwendung hingelegt und einen leidenden Heiligen aus ihm gemacht. Während der fraglichen Zeit hatte er in der Buchhaltungsfirma, für die er arbeitete, ein Kundengespräch geführt, was Dutzende von Zeugen belegen konnten. Die Mutter, eine Sprechstundenhilfe, war währenddessen von ihrer Arbeitsstelle zur Schule gerast, um ihren Sohn möglichst pünktlich abzuholen. Die Vorstellung, der Kerl, der sich Matthew geschnappt hatte, könnte plötzlich ein Einsehen haben, wenn er ihren Appell hörte und ihre von Angst gezeichneten Gesichter sah, war natürlich absurd – nicht zuletzt deswegen, weil der Junge mit ziemlicher Sicherheit tot war, und zwar vermutlich schon seit geraumer Zeit. Es blieb also der Welt überlassen, auf die Worte der Eltern zu reagieren, und dass sie reagieren würde, stand fest. Die Flut aus Fehlinformationen und falschen Hoffnungen, die zum Glück allmählich verebbt war, würde erneut mit voller Wucht über sie hereinbrechen.

An diesem Abend machte er Überstunden. Er starrte lange Zeit auf die Fotos, die den Jungen und den Ort seines Verschwindens zeigten. Dann betrachtete er eine Weile den großen Stadtplan, der in der Einsatzzentrale an der Wand hing, versehen mit unzähligen Nadeln und Fähnchen. Schließlich wandte er sich wieder den Zeugenaussagen zu. Sein Schädel brummte, und seine Brust schmerzte.

 

Er starrte den anderen Jungen an, und der starrte zurück. Es war Simon. Er streckte eine Hand nach Simon aus, um herauszufinden, ob er freundlich reagieren würde. Im selben Moment streckte auch Simon die Hand aus, lächelte dabei aber nicht. Er war sehr dünn und sehr weiß. An den Schultern und den Hüften standen seine Knochen hervor, und sein Pipimann sah aus wie eine kleine rosa Schlange. Als er einen Schritt auf Simon zuging, kam der ihm einen Schritt entgegen. Es war eine ruckartige kleine Bewegung, wie Marionetten sie machten, und dann ließ Simon sich auch wie eine Marionette zu Boden sinken. Matthew tat es ihm gleich. Wieder starrten sie einander an. Matthew hob einen Finger an das magere Gesicht des Jungen – ein Koboldgesicht mit eingefallenen Wangen, tiefen Augenhöhlen und einem bandagierten Mund. Er berührte den kalten, fleckigen Spiegel und beobachtete, wie dort, wo er seinen Finger liegen hatte, Tränen über die Haut kullerten. Auf einmal spürte er hinter sich Hände, die nach ihm griffen. Er hörte leise Worte und fühlte, wie Atem über seine Haut strich. »Du wirst unser kleiner Junge sein«, sagte die Stimme. »Aber pass auf, dass du nicht unser unartiger kleiner Junge bist. Wir mögen nämlich keine unartigen kleinen Jungen.«

 

Als Frieda ihm die Tür öffnete, stand Karlsson schon knapp an der Schwelle, als hätte sie ihn erwartet, und in gewisser Weise hatte sie das auch. Sie wusste, dass die Sache mit Matthew Faraday noch nicht ausgestanden war.

»Kommen Sie herein«, sagte sie.

Sie traten ins Wohnzimmer, wo im Kamin ein Feuer brannte und ein Stapel von Fachzeitschriften auf der Armlehne von Friedas Sessel lag.

»Störe ich?«

»Nicht besonders. Nehmen Sie Platz.« Karlsson stellte die Ledertasche, die er über der Schulter getragen hatte, auf den Boden und zog seinen Mantel aus. Als er schließlich saß, zögerte Frieda einen Moment, dann fragte sie: »Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee?«

»Hätten Sie eventuell auch etwas Stärkeres?«

»Wein? Whisky?«

»Whisky, glaube ich. Heute ist so ein Abend.«

Frieda schenkte ihnen beiden je ein kleines Glas Whisky ein, fügte einen Schuss Wasser hinzu und ließ sich dann Karlsson gegenüber nieder. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Sie wirkte viel sanfter als sonst. In seiner momentanen Verfassung rührte ihn das so, dass ihm fast die Tränen kamen.

»Ich kann nur noch an den Jungen denken. Wenn ich aufstehe, gilt mein erster Gedanke ihm, und sobald ich mich ins Bett lege, träume ich von ihm. Ansonsten tue ich so, als wäre alles ganz normal. Wenn ich mit den Kollegen ins Pub gehe, reden wir das übliche Zeug, und ich höre die üblichen Worte aus meinem Mund kommen. Es ist schon erstaunlich, dass man es schafft herumzulaufen und so zu tun, als wäre alles ganz normal, obwohl dem gar nicht so ist. Beispielsweise telefoniere ich mit meinen Kindern, frage sie, wie ihr Tag war, und erzähle ihnen albernes, lustiges Zeug über meinen. Dabei habe ich die ganze Zeit nur ihn vor Augen. Obwohl er bestimmt längst tot ist. Zumindest hoffe ich das, denn wenn nicht… Was kann bestenfalls passieren? Dass wir seine Leiche finden und den Dreckskerl schnappen, der ihm das angetan hat. Das ist noch die beste Variante.«

»Ist es denn wirklich so hoffnungslos?«

»Selbst in zehn oder zwanzig Jahren werde ich immer noch der Bulle sein, der Matthew Faraday nicht retten konnte. Wenn ich eines Tages in Pension bin – wie der alte Detective, den ich kürzlich besucht habe, der damals für den Fall von Joanna Vine zuständig war –, werde ich in meinem Haus sitzen und über Matthew nachdenken. Ich werde mir immer noch das Gehirn zermartern, wie das alles gelaufen sein könnte, wo er wohl begraben liegt, wer es war und wo der Betreffende inzwischen ist.

Er ließ seinen Whisky im Glas kreisen, ehe er einen Schluck nahm. »Sie verbringen wahrscheinlich die Hälfte Ihrer Zeit mit Leuten, die schwer an der Last ihrer Schuldgefühle tragen, aber meiner Erfahrung nach empfinden die Leute längst nicht genug Schuldgefühle. Sie schämen sich, wenn sie erwischt werden, das ja, aber sie haben kein schlechtes Gewissen, wenn sie ungeschoren davonkommen. Auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die schreckliche Dinge getan haben und trotzdem ein rundherum zufriedenes Leben mit ihren Familien und Freunden führen.«

Er kippte seinen Whisky hinunter. Frieda schenkte ihm nach, ohne zu fragen. Sie selbst hatte ihr Glas noch gar nicht angerührt.

»Wenn es schon mir so geht«, fuhr er fort, »wie mag es dann erst den Eltern gehen?« Mit einer ungeduldigen Handbewegung lockerte er seine Krawatte. »Wird mich das nun mein Leben lang verfolgen?«

»Hatten Sie vorher noch nie einen solchen Fall?«

»Mit Morden, Selbstmorden und häuslicher Gewalt kenne ich mich aus. Da ist es schwer, sich den Glauben an das Gute im Menschen zu bewahren. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich geschieden bin und mein Herz gerade einer Frau ausschütte, die ich erst ein paarmal getroffen habe, und nicht meiner Ehefrau. Der Junge ist doch erst fünf, im selben Alter wie mein Jüngstes.«

»Es gibt kein Heilmittel gegen Ihre Gefühle«, erklärte Frieda. In dem Raum, in dem sie saßen, herrschte eine seltsame Stimmung, träumerisch und traurig.

»Ich weiß. Ich musste nur mal mit jemandem darüber reden. Bitte entschuldigen Sie.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«

Mehr sagte sie dazu nicht. Während sie nachdenklich in ihr Glas blickte, betrachtete Karlsson sie. Er hatte das Gefühl, eine neue Seite an ihr entdeckt zu haben. Nach einer Weile bat er: »Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit.«

»Was wollen Sie wissen?«

»Keine Ahnung. Sind Sie Ärztin?«

»Ja. Wobei das keine zwingende Voraussetzung ist. Ich hatte mich auf Psychiatrie spezialisiert, bevor ich die praktische Ausbildung zu meinem eigentlichen Beruf machte. Es ist ein langer Prozess und eine strenge Disziplin. Ich habe eine Menge Buchstaben hinter meinem Namen.«

»Verstehe. Und behandeln Sie hauptsächlich Privatpatienten? Wie viele kommen pro Tag zu Ihnen? Was sind das für Leute? Warum machen Sie den Job? Können Sie damit tatsächlich etwas bewirken? Das sind so in etwa die Dinge, die mich interessieren.«

Frieda musste ein wenig lachen, ehe sie anfing, die Antworten auf seine Fragen an den Fingern abzuzählen. »Erstens. Ich behandle sowohl Privat- als auch Kassenpatienten. Ich bekomme Überweisungen aus der Warehouse-Klinik, wo ich meine praktische Ausbildung absolviert und jahrelang gearbeitet habe, außerdem von Hausärzten und Krankenhäusern. Darüber hinaus nehme ich auch Leute, die aus eigenem Antrieb zu mir kommen, weil jemand aus ihrem Bekanntenkreis mich ihnen empfohlen hat. Es ist mir wichtig, nicht nur Leute anzunehmen, die reich genug sind, um sich die Therapie leisten zu können. Ansonsten hätte ich das Gefühl, mich nur um die Psyche der Reichen zu kümmern. Wenn man die Therapie privat bezahlen muss, kommt sie ziemlich teuer.«

»Wie teuer?«

»Ich habe da so eine Daumenregel. Ich verlange zwei Pfund für jeden Tausender, den die Leute verdienen. Wenn Sie also dreißigtausend verdienen, müssten Sie mir sechzig Pfund pro Sitzung geben. Ich hatte mal einen Klienten, der zu mir gesagt hat, nach dieser Regel müsste er mir fünfhunderttausend pro Stunde zahlen. Sein Glück war, dass ich bei hundert Pfund die Grenze ziehe. Ich bin bekannt dafür, dass ich schon Leute für ’nen Appel und ein Ei behandelt habe, auch wenn meine Kollegen das gar nicht gerne sehen. Über den Daumen gepeilt würde ich sagen, dass sich der Anteil meiner Kassenpatienten auf rund siebzig Prozent beläuft, vielleicht auch etwas weniger.

Zweitens. Für gewöhnlich kommen meine Patienten dreimal die Woche, und ich habe in der Regel sieben Patienten – also insgesamt etwa zwanzig Sitzungen pro Woche. Ich kenne Therapeuten, die jeden Tag acht Sitzungen im Terminkalender stehen haben – also vierzig pro Woche. Wenn der eine Patient geht, kommt schon der nächste. Das macht diese Kollegen zwar reich, aber ich könnte das nicht. Ich würde es auch gar nicht wollen.«

»Warum nicht?«

»Ich muss das Gehörte erst einmal verdauen, über jeden Patienten, der zu mir kommt, intensiv nachdenken und den Therapieprozess ausführlich dokumentieren. Außerdem reicht mir, was ich momentan verdiene. Mehr Geld benötige ich nicht. Aber ich brauche Zeit. Wie lautete noch mal der nächste Punkt?«

»Was sind das für Leute?«

»Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Zu mir kommen ganz unterschiedliche Menschen, die im Grunde nicht viel gemeinsam haben.«

»Abgesehen davon, dass sie am Ende sind.«

»Letztendlich sind doch die meisten von uns irgendwann im Leben mal völlig am Ende: so unglücklich, dass wir es kaum noch ertragen können, oder so funktionsgestört, dass es für unser Umfeld nicht mehr akzeptabel ist. Oder einfach nur festgefahren.« Sie musterte ihn mit ihrem stechenden Blick. »Sehen Sie das anders?«

»Schwer zu sagen.« Karlsson runzelte verlegen die Stirn. »Weisen Sie auch mal jemanden ab?«

»Nur wenn ich der festen Überzeugung bin, dass die betreffende Person keine Therapie braucht, oder wenn ich den Eindruck habe, dass sie bei jemand anderem besser aufgehoben wäre. Ich nehme ausschließlich Patienten an, von denen ich glaube, dass ich ihnen helfen kann.«

»Was hat Sie dazu bewogen, Therapeutin zu werden?« Das war die Frage, die ihn wirklich interessierte, auch wenn er wenig Hoffnung hatte, von ihr eine Antwort zu erhalten. Obwohl sie nun schon eine ganze Weile gemütlich beisammensaßen, hatte er nicht das Gefühl, sie deswegen viel besser zu kennen oder mehr Ahnung von ihren Schwächen oder Selbstzweifeln zu haben. Sein Eindruck war, dass sie niemanden an sich heranließ. Schon bei ihrer ersten Begegnung war ihm aufgefallen, wie gut sie sich unter Kontrolle hatte. Allem Anschein nach war diese Selbstbeherrschung bei ihr mehr oder weniger ein Dauerzustand.

»Das sind mir ein bisschen zu viele Fragen für einen Abend. Was waren denn Ihre Beweggründe?«

»Meine Beweggründe?«

»Was hat Sie dazu bewogen, zur Polizei zu gehen?«

Karlsson zuckte mit den Achseln und starrte dann in seinen Whisky. »Das weiß der Teufel. Kürzlich habe ich mich mal gefragt, warum ich nicht Anwalt geworden bin, wie ich eigentlich sollte. Dann würde ich wenigstens anständig Geld verdienen und nachts vielleicht besser schlafen.«

»Und? Warum sind Sie nicht Anwalt geworden?«

»Ich habe darauf keine Antwort. Als Detective arbeite ich zu viel, werde schlecht bezahlt, ersticke in Papierkram und finde nur Beachtung, wenn etwas schiefläuft. Ich werde nicht nur von der Presse, sondern auch von meinem eigenen Boss niedergemacht, und die Öffentlichkeit misstraut mir. Seit ich bei der Kripo die Karriereleiter hinaufsteige, pflege ich hauptsächlich Umgang mit Mördern, gewalttätigen Ehemännern, Perversen und Drogendealern. Was soll ich sagen? Damals schien es mir eine gute Idee zu sein.«

»Aber Ihre Arbeit macht Ihnen doch Spaß.«

»Spaß? Es ist nun mal mein Beruf, und die meiste Zeit bin ich darin sogar recht gut. Auch wenn es in diesem Fall nicht danach aussieht.«

Offenbar fiel ihm gerade etwas ein, denn er griff in seine Tasche und zog zwei Aktenordner heraus. »Das sind die Aussagen von Rosalind Teale, der Schwester von Joanna Vine. Ihre ersten Aussagen hat sie gleich nach Joannas Verschwinden gemacht, und vor Kurzem haben wir sie ein weiteres Mal befragt.«

»Ist dabei etwas herausgekommen, das Ihnen weiterhilft?«

»Ich weiß, dass es Ihnen widerstrebt, aber es wäre mir sehr lieb, wenn Sie trotzdem mal einen Blick in die Protokolle werfen könnten.«

»Wozu?«

»Mich würde einfach interessieren, was Ihnen dazu einfällt.«

»Sie meinen, jetzt gleich?«

»Das wäre großartig.«

Karlsson schenkte sich nach, verzichtete jedoch auf das Wasser. Dann stand er auf und wanderte im Raum umher, als befände er sich in einer Galerie. Frieda mochte es nicht, wenn ihr jemand beim Lesen zusah. Die Vorstellung, dass er womöglich gerade versuchte, anhand ihrer Habseligkeiten auf ihre Persönlichkeit zu schließen, gefiel ihr ebenso wenig. Am schnellsten aber konnte sie dem Ganzen ein Ende bereiten, indem sie die Aussagen las. Sie schlug zunächst den älteren Ordner auf und legte los, wobei sie sich bewusst dazu zwang, langsam zu lesen, Wort für Wort.

»Haben Sie alle diese Bücher gelesen?«, fragte Karlsson.

»Seien Sie still«, murmelte Frieda, ohne von der Akte aufzublicken. Als sie sich dann den zweiten, neueren Ordner vornahm, sah sie aus dem Augenwinkel, das Karlsson sie beobachtete. Schließlich klappte sie die Akte zu, ohne etwas zu sagen, obwohl sie genau wusste, dass er auf ihre Reaktion wartete.

»Und?«, fragte er. »Wenn sie Ihre Patientin wäre, was würden Sie sie fragen?«

»Wenn sie meine Patientin wäre, würde ich sie gar nichts fragen. Ich würde versuchen, ihr die Schuldgefühle wegen ihrer Schwester zu nehmen. Abgesehen davon bin ich der Meinung, man sollte sie in Ruhe lassen.«

»Sie ist die einzige potenzielle Zeugin«, entgegnete Karlsson.

»Aber sie hat doch nichts gesehen. Außerdem liegt das alles schon zwanzig Jahre zurück. Jedes Mal, wenn Sie mit ihr sprechen, reißen Sie die alten Wunden wieder auf.«

Karlsson ließ sich gegenüber Frieda nieder. Nachdenklich betrachtete er sein Whiskyglas. »Das Zeug ist gut«, stellte er fest. »Wo haben sie es her?«

»Jemand hat es mir geschenkt.«

»Erzählen Sie mir etwas über die Aussagen«, forderte er sie auf. »Sie sind doch eine kluge Frau. Sehen Sie das nicht als Herausforderung ?«

»Glauben Sie bloß nicht, dass Sie mich auf diese Weise ködern können«, entgegnete Frieda.

»Ich will Sie gar nicht ködern. Ich befinde mich nur in einem Stadium, in dem ich für jede Anregung dankbar bin. Jeder, der über Dinge Bescheid weiß, von denen ich keine Ahnung habe, ist für mich von großem Interesse.«

Frieda schwieg einen Moment. »Haben Sie schon mal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Joanna von einer Frau entführt worden sein könnte, und nicht von einem Mann?«

Karlsson stellte sein Glas ganz behutsam auf den niedrigen Tisch neben seinem Sessel. »Wie kommen Sie darauf?«

»Das Mädchen ist so schnell verschwunden«, antwortete Frieda. »Rosie Vine hat ihre Schwester höchstens eine Minute aus den Augen gelassen. Offenbar gab es keine Aufregung, keinen Lärm – und das, obwohl das Mädchen keineswegs auf einer einsamen Straße gepackt und in einen Lieferwagen geworfen wurde. Ganz im Gegenteil, es handelte sich um eine belebte Geschäftsstraße, in der eine Menge Leute unterwegs waren. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass ein kleines Mädchen mit einer Frau mitgeht. Sich von ihr vielleicht sogar an der Hand nehmen lässt.« Frieda malte sich die Szene aus. Sie stellte sich vor, wie das kleine Mädchen vertrauensvoll nach einer Frauenhand griff. Dann versuchte sie rasch, das Bild wieder aus ihrem Kopf zu verscheuchen.

»Das ist sehr interessant«, sagte Karlsson.

»Tun Sie nicht so gönnerhaft«, erwiderte Frieda. »Es ist keineswegs besonders interessant, sondern liegt auf der Hand. Sie müssen diese Möglichkeit doch von Anfang an in Betracht gezogen haben.«

»Der Gedanke ist uns in der Tat gekommen«, räumte er ein. »Wie Sie sehr richtig festgestellt haben, handelt es sich um eine Möglichkeit. Aber Sie müssen zugeben, dass Sie interessiert sind.«

»Warum sagen Sie das?«, fragte Frieda. »Was wollen Sie jetzt von mir hören?«

»Ich hätte gern, dass Sie mit Rose Teale sprechen. Vielleicht kommen Sie anders an sie heran, als wir das können.«

»Was erwarten Sie sich davon?« Sie griff nach der Akte und blätterte sie noch einmal durch.

»Ist das nicht frustrierend?«, meinte Karlsson. »Jedes Mal, wenn ich die Aussage lese, wünsche ich mir, ich könnte in eine Zeitmaschine steigen und für eine Minute an jenen Punkt zurückkehren, oder wenigstens für fünf Sekunden. Dann könnte ich herausfinden, was damals wirklich passiert ist.«

Er lächelte säuerlich. »Erwachsene Polizisten sollten nicht solches Zeug daherreden.«

Frieda warf erneut einen Blick auf die Aussage: die Worte einer Neunjährigen, die über ihre kleine Schwester sprach. Sie hatte das Gefühl, auf eine Reise eingeladen zu werden. Sobald sie zugesagt hatte, gab es kein Zurück mehr. Hatte das Ganze überhaupt einen Sinn? Konnte sie tatsächlich etwas beisteuern? Nun ja, vielleicht. Und wenn diese Möglichkeit bestand, blieb ihr gar keine andere Wahl.

»Also gut«, sagte sie.

»Wirklich?«, freute sich Karlsson. »Das finde ich großartig.«

»Was ich dazu unbedingt brauche«, erklärte Frieda, »ist einer von diesen Polizeikünstlern, die Phantombilder anfertigen. Haben Sie so einen?«

Karlsson schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein«, antwortete er, »wir haben etwas viel Besseres.«